Fünfhundert Tage Krieg in der Ukraine

Passend zum runden Jubiläum analysieren wir das Frontgeschehen genauer, Stand Anfang Juli 2023.

Das wichtige “Aber” zum Anfang | Die Lage an der Front | Wie läuft die Gegenoffensive?
(18 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Der Ukrainekrieg läuft seit 500 Tagen. Eine vernünftige Analyse der Kriegslage ist schwierig, denn uns fehlt viel an Information.
  • Wir erlauben uns dennoch einen Schnappschuss der Lage an der Front.
  • In Luhansk im Nordosten attackiert Russland mindestens so viel wie die Ukraine, doch Territorialgewinne scheint es höchstens sehr kleine zu geben.
  • In Bakhmut macht die Ukraine Fortschritte bei dem Versuch, die besetzte Stadt einzukesseln, doch befindet sich noch weit vom Ziel.
  • Die Front im südlichen Donezk ist weitestgehend statisch, was der Ukraine passen dürfte.
  • In Cherson nervt die Ukraine Russland mit der ewigen Drohung einer amphibischen Attacke.
  • Auf Saporischschja und auf dem westlichen Donezk liegt das Hauptaugenmerk. Hartnäckige russische Verteidigung, Luftunterstützung und Minenfelder erschweren den Vormarsch der Ukraine. Sie hat einige Dörfer befreit, doch ist noch ziemlich weit von ihrem Ziel entfernt.
  • Das muss nicht unbedingt ein Problem sein: Kiew scheint Russland abnutzen zu wollen; attackiert gezielt die Versorgung und Logistik im Hinterland und hält einen Großteil seiner Offensivkapazitäten zurück.
  • Für jene, die sich an die Gegenoffensiven 2022 erinnern: Das jetzige “Playbook” lautet Chersonnicht Charkiw.

Das wichtige “Aber” zum Anfang_

(3,5 Minuten Lesezeit)

Alles auf Blindflug

Zuerst einmal, durchatmen. Wenn es um den Krieg in der Ukraine geht, gilt es anzuerkennen, wie wenig man wirklich weiß. Wir meinen in erster Linie nicht einmal, wie unzuverlässig Bilder von der Front oder Aussagen der Kriegsführer sind. Dass es sich dabei um Propaganda handeln mag oder die Authentizität schwierig nachzuweisen ist, können sich die meisten medial kompetenten Beobachter schon denken. Auch dass ein mutmaßlich erobertes Dorf in Wahrheit vielleicht noch umkämpft ist, ist intuitiv. Schwieriger ist es, die militärische Entwicklung korrekt zu verfolgen, allein schon, weil wir einfach viel weniger Übung mit großen zwischenstaatlichen Kriegen haben. Offensiven, Gegenoffensiven, Kampfpanzer, Minen – im Internet häufen sich Einschätzungen, Analysen, Wehklagen, Siegesbekundungen und einfach viel Irritation.

Die zentrale Herausforderung ist der “Nebel des Krieges”, welcher das Schlachtfeld und seine Akteure umgibt. Er beschreibt, wie undurchsichtig – nebulös, eben – die Handlungen, Entwicklungen und Aussagen im Krieg sind; entsprechend schwierig ist es, sie bedeutsam zu interpretieren und in Kontext zu setzen. Wir wissen nicht wirklich, wo die Armeen stehen, und dort, wo sie stehen, wissen wir nicht genau, wer, was und wie viel dort steht. Oder wohin es will.

Der Nebel des Krieges

Das Problem ist gewollt. Beide Seiten profitieren im Krieg von einer Informationsasymmetrie. Sie wollen möglichst wenig akkurate Information von sich selbst preisgeben, wirken situativ lieber stärker (schüchtert den Gegner ein, stärkt die Moral) oder schwächer (verlockt den Gegner zu Fehlern, senkt die Erwartungshaltung) als sie es wirklich sind. Und wenn der Gegner auch noch weiß, dass er wenig weiß, ist er verunsicherter, immerhin kann er den eigenen Urteilen stets nur eingeschränkt trauen.

Gerade der Ukraine gelingt das gut: Sie schreibt die “opsec”, operational security, also sinngemäß “operative Geheimhaltung”, hoch und behält den Informationsfluss von der Front oder aus den Kommandozentralen überwiegend gut im Griff. Das allermeiste, was wir von ukrainischer Seite über den Krieg erfahren, kommt vom Verteidigungsministerium selbst. Hier und da gibt es mal Frontberichte von der Soldatenebene.

Auf russischer Seite gestaltet sich die Opsec etwas schwieriger. Weniger, weil Soldaten von der Front tatsächlich noch Fotos und Videos auf Social Media hochladen (oder sich auf Tinder ködern lassen) und sich damit in Gefahr bringen, denn das hat seit Beginn der Invasion deutlich abgenommen. Schwerer wiegt, dass eine große Szene aus prominenten Militärbloggern das informative Vakuum seitens des russischen Verteidigungsministeriums füllt und das Kriegsgeschehen auf dem Kurznachrichtendienst Telegram analysiert. Mit wechselnder Verlässlichkeit und oft voller Hurra-Patriotismus, doch eben öffentlich zugänglich und keineswegs immer strikt Kreml-hörig, sondern durchaus kritisch.

Da sich das “proukrainische” Internet stärker an Geheimhaltung hält als das “prorussische” Internet, entsteht besagte Informationsasymmetrie im Netz. Wir wissen weitaus mehr über die russischen Streitkräfte als über die ukrainischen. Wir haben mehr Vorstellung über die Probleme auf russischer Seite. Und wir hören mehr plausible Gerüchte über die Nervosität innerhalb der russischen Militärführung.

Eine Seite kennen ist nicht genug

Die Einseitigkeit schafft ein großes Problem. Krieg ist ein riesiges, mehrdimensionales Kräftemessen zwischen zwei (oder mehr) Parteien. Die Kampfstärke der einen Seite zu kennen, hilft wenig, wenn wir jene der anderen Seite nicht kennen. Zu wissen, dass eine Seite ein Dorf erobert hat, hilft wenig, wenn wir nicht wissen, wie viele Soldaten, wie viel Ausrüstung und wie viel Munition es sie gekostet hat – und wie viel sie jeweils noch übrig hat. Dasselbe gilt für die “verborgene” Seite des Krieges: Wie bei einem Eisberg sehen wir in erster Linie die Kämpfe, die Manöver und die Explosionen, doch eine der größten Erfolgsdeterminanten in einem langen Krieg ist die Logistik und Produktion. Wer stellt schneller neues Militärgerät (und neue Soldaten) her? Wer bringt es im Anschluss schneller an die Front und zurück in die Werkstätten?

Wie es bei mehrdimensionalen Dingen so ist, ist nicht jeder vordergründige Erfolg ein ErfolgOft zeigen sich die wahren Konsequenzen erst später. Russlands Artilleriekrieg im Osten der Ukraine im Frühjahr und Sommer 2022, welche in der Einnahme der Donbass-Städte Sjewjerodonezk und Lyschschansk mündete, führte direkt in die blitzstreichartige Rückeroberung der Oblast Charkiw durch die Ukraine. Russland hatte sich in seiner Offensive derart verausgabt, dass es der unerwarteten Offensive des Gegners einige Wochen später wenig entgegenstellen konnte. Es verlor mehr Gebiet, als es im Sommer erobert hatte und traumatisierte sich ein Stückchen selber.

Nun denn, die “Aber’s” sind abgeräumt. Wir arbeiten mit unvollständigen Informationen und zu verstehen, wie es um einen Krieg steht, ist ziemlich schwierig. Zeit, uns zumindest einen Schnappschuss zu erlauben: Wie steht es an der Front? Und… wie läuft die Gegenoffensive eigentlich?

Die Lage an der Front_

(Gesamt: 10 Minuten Lesezeit)

Die Lage an der Front, weit herausgezoomt. Wir betrachten die fünf
Frontabschnitte (blaue Rechtecke). Karte: Liveuamap

Nehmen wir die zweite Frage kurz vorab: Wie läuft die Gegenoffensive? Irgendwo zwischen “nicht übel” und “etwas enttäuschend”. Die Gegenoffensive begann am 4. Juni und läuft seitdem bis heute, 9. Juli, unentwegt. Sie äußert sich einerseits in direkten Angriffen mit dem Ziel von Territorialgewinnen und in sogenannten shaping operations, mit welchen die Ukraine das Schlachtfeld formen möchte: Sie zerstört mittels ihrer Artillerie russische Munitionsdepots, Kommandozentralen und Logistikknoten im Hinterland und versucht, den Gegner abzunutzen.

Später dazu mehr, doch zuerst werfen wir einen Blick auf den Status Quo an der Frontlinie. Die Ukraine operiert grob gesagt an fünf Frontabschnitten. Wir schauen sie uns von Osten nach Westen an.

Gut zu wissen: Was sind unsere Quellen? In erster Linie russische Militärblogger, die ukrainische Generalität und das britische Verteidigungsministerium. Dazu westliche Beobachter, welche als Aggregatoren für ebendiese Quellen fungieren und eigens Analysearbeit leisten, vor allem das amerikanische Institute for the Study of War (seit anderthalb Jahren eine Empfehlung für Interessierte) und, weniger zuverlässig, das linke US-Outlet Daily Kos. “Klassische” Medien im Stile von New York Times oder Reuters folgen meist obigen Quellen.

Der einzige Aspekt der folgenden Karten, welcher aufgrund der Quellenqualität uneindeutig ist, sind die von uns eingezeichneten Stoßrichtungen. Die markierten blauen (“befreit”) und roten (“besetzt”) Gebiete dürften richtig sein, da die Liveuamap, aus welcher wir Ausschnitte nutzen, relativ konservativ Territorialveränderungen einloggt. In jedem Fall sollten die Karten darin erfolgreich sein, dir einen Eindruck über die militärische Lage zu vermitteln. Die Karte oben hilft dir derweil, die Frontabschnitte geografisch einzuordnen.

#1: Kupiansk-Swatowe-Kreminna (Luhansk)

(1 Minute Lesezeit)

Übersicht über Luhansk-Frontverlauf. Smartphone: Zoome heran, um die Lage besser zu erkennen. 

Gelbe Kreise: Zentrale Orte in Frontabschnitt. Violette Rechtecke: Weitere interessante Orte in Frontabschnitt bzw. Umgebung. Schwarze Pfeile: Offensivstoßrichtungen der beiden Seiten. Rot: Russisch besetzt. Blau: ukrainische Befreiungen im Herbst 2022.

Die nordöstliche Frontlinie besteht aus einer relativ geraden Linie von der internationalen Grenze über den wichtigen Zug-Hub Kupiansk (befreit), entlang Swatowe (besetzt) und bis nach Kreminna (besetzt), mehrheitlich in der Oblast Luhansk gelegen. Die Städte sind dabei alle jeweils einige Kilometer von der vordersten Front entfernt, welche durch flaches, ländliches, gelegentlich bewaldetes Gebiet verläuft, das beide Seiten relativ stark befestigt haben (allerdings weniger stark als an einigen anderen Frontabschnitten).

Dieser Frontabschnitt wird maßgeblich von den Offensiven der Vergangenheit geprägt. Russland war in seiner Frühjahr- und Sommeroffensive 2022 an den südlichen Teil der Linie herangerobbt und hatte die Schwesterstädte Sjewjerodonezk und Lyschschansk erobert; die Ukraine hatte im Anschluss darauf im September weite Gebietsgewinne entlang der gesamten Linie verbucht, bis sich die Front etwa dort, wo sie auch heute ist, stabilisiert hatte.

In ihrer Gegenoffensive konzentriert sich die Ukraine bislang nur nebensächlich auf diesen Frontabschnitt. Sie sieht offenbar wenig strategischen Zweck darin, Russland in den weiten Feldern von Luhansk zurückzudrängen. Die Eroberung von Swatowe oder Kreminna wäre nützlich, da sie russische Versorgungswege verkomplizieren würde – wichtige Bahnstrecken verlaufen durch beide Orte -, doch nicht nützlicher als mögliche Gebietsgewinne an anderen Frontabschnitten, wie wir sehen werden. 

Zugstrecken in der Ostukraine (Orange = Hauptlinien, Grün = Nebenlinien). Die gelben Kreise zeigen Kupiansk (oben),
Swatowe (Mitte) und Kreminna (unten). Die dünnen grauen Linie zeigen Autobahnverbindungen. Verliert Russland den
Zugriff auf Swatowe oder Kreminna, müsste es weite Teile seiner Front im Süden über einen Umweg versorgen.
Karte: OpenRailwayMap

Stattdessen scheinen sich hier im Nordosten beide Seiten damit abzuwechseln, in die Offensive zu gehen. Russland führt seit Wochen Attacken durch, welche mal keinerlei Resultate erbringen, mal angeblich kleinere, taktische Gebietsgewinne (diese Informationen stammen von russischen Militärbloggern und der ukrainischen Generalität). Doch auch die Ukraine attackiert anscheinend regelmäßig (was wir ebenso meist von russischen Militärbloggern wissen). Westliche Analysten bleiben bei Territorialverschiebungen sehr konservativ; in jedem Fall scheint nicht allzu viel zu geschehen. 

#2: Bakhmut (Donezk)

(3 Minuten Lesezeit)

Übersicht über Bakhmut-Frontverlauf. 

Gelbe Kreise: Zentrale Orte in Frontabschnitt. Schwarze Pfeile: Offensivstoßrichtungen der Ukraine.

Rot: Russisch besetzt. Blau: ukrainische Befreiungen seit Mai 2023.


Die Schlacht um Bakhmut läuft seit August 2022. Sie ist schon jetzt eine der brutalsten urbanen Schlachten seit dem Koreakrieg, mit gut und gerne 60.000 Toten. Der “Fleischwolf” lud Vergleiche mit der berüchtigten Schlacht von Verdun aus dem Ersten Weltkrieg ein. An schwer befestigten ukrainischen Stellungen rieben sich Russlands reguläre Truppen, elitäre Wagner-Söldner und, als “Menschenwellen” hinein entsandt, rekrutierte Häftlinge auf. Bis Mai quetschte Russland unter schwersten Verlusten die Ukrainer aus der Stadt heraus, auch wenn nie die erhoffte Umzingelung gelang. Die Ukraine setzte sich stattdessen an den Außenbereichen fest.

Der strategische Nutzen von Bakhmut war stets fragwürdig. Sicher, die Stadt war für Russland eine notwendige Bedingung für den Vormarsch auf die Donbass-Hochburgen Kramatorsk und Slowjansk, doch bot keine allzu wichtigen Bahn- und Autobahnverbindungen, kein günstiges Terrain und keine allzu attraktiven strategischen Optionen. Als Russland noch weite Teile der Oblast Charkiw kontrollierte – rund um den Ort Isjum – hätte eine Eroberung Bakhmuts eine gefährliche Zange ermöglicht, mit welcher die ukrainischen Truppen im Nordosten in Einkesselungsgefahr geraten wären. Nach der ukrainischen Charkiw-Offensive im September 2022 war diese Gefahr gebannt. Dennoch: Russland ernannte Bakhmut zum symbolischen Beweis dafür, dass es noch Erfolge erzielen konnte, und die Ukraine nahm die Herausforderung an; verteidigte die Stadt zäh.

Gut zu wissen: Eine Einkesselung ist der taktische Super-GAU. Eine Einheit kann in einem Kessel keine Versorgung empfangen, keine Verstärkung erhalten, keine Verletzten evakuieren und sich nicht zurückziehen. Wird sie nicht aus dem Kessel befreit – oder kämpft sich frei – wird sie nach ausreichender Zermürbung aufgerieben. Das geschah beispielsweise bei den ukrainischen Soldaten in Mariupol, welche sich letzten Endes nur noch in Kriegsgefangenschaft begeben konnten.

War Russlands Eroberung der Stadt im Mai ein Erfolg? Da wären wir wieder bei der Frage von ganz oben. Wir müssen die Eroberung im Kontext des aufgewandten Materials und der verlorenen Soldaten sehen. Es gibt reichlich Hinweise, dass beides horrend für Russland ausfiel. Allerdings gehört auch zur Kalkulation, wie hoch die “Zermürbung” (attrition) aufseiten der Ukraine aussah – worüber wir deutlich weniger wissen. Allerdings gibt es reichlich anekdotische Evidenz, dass sie beträchtlich war. Doch selbst wenn wir annehmen, dass Russlands relative Abnutzung weitaus höher ausgefallen ist (auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es dank höherer materieller und personeller Kapazitäten als die Ukraine mehr Verluste tolerieren kann), so spielt das erst eine Rolle, wenn die Ukraine die neue Schwäche ausnutzt. Was tut sie also?

Sie attackiert die Stadt nicht direkt, sondern in erster Linie ihre Flanken. Dort hat Kiew Schwachstellen entdeckt – und attraktive Höhen, von welchen sie die im Tal gelegene Stadt unter Beschuss nehmen oder umzingeln kann. Gelingt es der Ukraine, das besetzte Bakhmut tatsächlich einzukesseln, wäre das ein gewaltiger Erfolg – siehe oben -, doch es wäre bereits viel wert, wenn sie die Zugangswege zur Stadt unter “Feuerkontrolle” nimmt, also aus sicherer Höhe beschießen kann. Denn dann lässt sich nur noch eingeschränkt irgendetwas in die Stadt oder aus ihr heraus bewegen, Einkesselung light, sozusagen. Laut der ukrainischen Vizeverteidigungsministerin Hanna Malyar sei letzteres das bereits der Fall.

Das Ziel der Umzingelung ist schwierig, doch erreichbar. In den vergangenen vier Wochen gelangen der Ukraine signifikante Fortschritte rund um Bakhmut. Sie verbuchte Gebietsgewinne an den Flanken und attackiert aktuell die umliegenden Orte Berkhiwka, Yahidne, Osarianiwka und, am wichtigsten, die Höhen rund um Klischtschijiwka. Entsprechend scheint Russland in den letzten Tagen Truppen von anderen Frontabschnitten abgezogen zu haben, um Bakhmut zu verstärken. Zuletzt erlebte dieser Abschnitt wieder die intensivsten Kämpfe entlang der gesamten Front.

#3: Awdiiwka, Wuhledar (Donezk)

(1 Minute Lesezeit)

Übersicht über Donezk-Frontverlauf. 

Gelbe Kreise: Zentrale Orte in Frontabschnitt. Violette Rechtecke: Weitere interessante Orte in Frontabschnitt bzw.

Umgebung. Schwarze Pfeile: Offensivstoßrichtungen der beiden Seiten. Rot: Russisch besetzt. Blau: ukrainische
Befreiungen ab Juni 2023.

Der Frontabschnitt im südlichen und westlichen Donezk ist vor allem dadurch geprägt, wie statisch er ist. Die rote Linie in der Karte ist der Frontverlauf seit 2014 – Russland hat seit Beginn der Invasion also an einigen Stellen nur wenige Kilometer Gebietsgewinn verbucht. Besonders auffällig ist es beim kleinen Ort Awdiiwka (gelber Kreis oben), welcher auf die besetzte Großstadt Donezk (gleichnamig zur Oblast) schielt. Zwischen 2014 und 2022 hatte die Ukraine das Gebiet massiv befestigt; die dort stationierten Soldaten sind dank jahrelangem unterschwelligem Krieg mit der “Volksrepublik Donezk” kampferprobte Veteranen. Also gelang Russland nach seiner Invasion lange Zeit gar nichts. Im Verlaufe der anderthalb Jahre schafften die Invasoren es immerhin, in die Flanken von Awdiiwka zu geraten – doch die Stellung bleibt stabil, der russische Vormarsch inkrementell.

Ähnlich sieht es entlang der Front Richtung Süden bis hin nach Wuhledar aus (gelber Kreis unten). Der Ort ist vor allem für eine “Panzerschlacht” im Januar und Februar 2023 bekannt, welche desaströs für Russland verlief – laut dem britischen Geheimdienst starben 1.000 russische Soldaten innerhalb von zwei Tagen. Seitdem ist es den Invasoren nicht gelungen, die Ortschaft zu erobern.

Gut zu wissen: Es ließe sich leicht übersehen, doch der kleine blaue Bereich in der Mitte der Karte, bei Krasnohoriwka, ist gar nicht so unwichtig: Dort gelang es der Ukraine laut britischem Verteidigungsministerium Ende Juni zum ersten Mal, Gebiete zurückzuerobern, welche Russland schon 2014 besetzt hatte. Die Karte bleibt konservativ und zeigt den Vorstoß nicht dermaßen weit an.

#4: Saporischschja & westliches Donezk

(3 Minuten Lesezeit)

Übersicht über Frontverlauf in Saporischschja / Donezk und besetztes Gebiet bis ans Asowsche Meer. 

Gelbe Kreise: Zentrale Orte in Frontabschnitt. Violette Rechtecke: Weitere interessante Orte in Frontabschnitt bzw.

Umgebung. Schwarze Pfeile: Vermutlicher ukrainischer Plan. Rot: Russisch besetzt. Blau: ukrainische Befreiungen ab Juni 2023.

Saporischschja lässt sich aktuell ruhigen Gewissens als Hauptfront bezeichnen. Relativ früh im Krieg stabilisierte sich die Frontlinie, zumindest im Norden (im Süden arbeitete Russland wochenlang an der Auflösung des Mariupol-Kessels). Sie blieb monatelang von Kämpfen verschont. Warum ist sie nun so wichtig?

Ein Blick auf die Karte oben zeigt die Bedeutung. Gelingt es der Ukraine durch die russischen Stellungen in Saporischschja durchzubrechen und in die Tiefe vorzudringen, kann sie realistisch die Stadt Melitopol befreien. Damit hätte sie nicht nur einen wichtigen Logistik-Knotenpunkt erobert, sondern die russischen Besatzungen entzwei geteilt: Die Putinsche Landbrücke zur Krim wäre zerstört; die Truppen in Cherson und auf der Krim stünden plötzlich unangenehm entblößt dar, da sie (konventionell) nur noch über die Krim-Brücke versorgt werden könnten. Das derzeit medial beliebte Atomkraftwerk Saporischschja, nahe dem Ort Enerhodar, könnte von Kiew wieder unter Kontrolle gebracht werden. Gleichzeitig wäre für Russland auch das westliche Donezk in Gefahr, denn die Ukraine könnte hinter den russischen Defensivstellungen auf Berdiansk am Asowschen Meer und Mariupol zumarschieren. Damit hätte sie die faktische Grenze aus 2014 erreicht.

Nun ist es bis dorthin ein weiter Weg und auf eine Karte eingemalte Pfeile sind erstmal nur… genau das. In der Realität ist die erste große Station für die Ukraine Tokmak, nördlich von Melitopol, welches an fünf wichtigen Autobahnen liegt. Nicht nur russische Soldaten trennen Kiew davon, sondern auch zahlreiche Defensivstellungen. In der zuvor erwähnten monatelangen Pause hatte Russland viel Zeit, Gräben zu buddeln, panzerblockende “Drachenzähne” zu installieren und weitläufige Minenfelder zu platzieren. Einige Stellen ließ Russland bewusst als Falle unvermint, denn Artillerie wurde auf diese attraktiv wirkenden Pfade “voreingestellt”. Mindestens vier Stufen an solchen Defensivstellungen scheinen tief in das russische Besatzungsgebiet hinein zu existieren. Drohnen und die Luftwaffe stehen bereit, die Verteidiger zu unterstützen.

Die Defensivstellungen waren kein Geheimnis, sondern wurden medial breit diskutiert. Lange war unklar, wie effektiv sie sein würden, nun haben wir einen Eindruck: Ziemlich effektiv. Die Ukraine hatte gehofft, mit ihren mobilen Truppen – darunter westliche Kampfpanzer und Schützenpanzer – durch die russischen Stellungen zu brechen und dann einen mobilen Manövrierkrieg zu führen, bei welchem Russland bislang stets das Nachsehen hatte. Doch gerade die russischen Minenfelder bremsen die Ukraine kräftig aus und führten in den Anfangstagen der Invasion zu öffentlichkeitswirksamen Bildern aufgegebener westlicher Panzer. Inzwischen ist sie deswegen zu einem langsameren Vorgehen übergegangen und attackiert mit kleinen Infanterieformationen, statt mit mobilen Trupps.

Übersicht über Frontverlauf in Saporischschja (bei Orichiw, Bild oben) und Donezk (bei Welyka Nowosilka, Bild unten). 

Dementsprechend ist aktuell nicht von Melitopol oder auch nur Tokmak die Rede, sondern von Robotyne. Es handelt sich um den Ort, welchen die Ukraine erobern muss, um in Richtung Tokmak ziehen zu können. Die Karte oben zeigt den Frontverlauf nahe des Ortes Orichiw. Südlich von Orichiw befindet sich Robotyne. Ungefähr dort beginnen übrigens auch die russischen Stellungssysteme – die Ukraine hat sie also noch gar nicht erreicht, sondern plagt sich mit vorgelagerten russischen Truppen und den Minenfeldern herum. Es sei denn, man glaubt einigen russischen Militärbloggern, wonach die Ukraine an einer Stelle bereits in das Grabensystem eingebrochen sei.

Wenn wir etwas weiter herauszoomen – das untere Bild – und zusätzlich zu Orichiw die Front beim Ort Welyka Nowosilka mitbetrachten, erkennen wir, wie viele Offensivaktionen derzeit im Bereich Saporischschja und westliches Donezk stattfinden. Bei Welyka Nowosilka konnte die Ukraine flächenmäßig bislang die größten Erfolge in der laufenden Gegenoffensive verbuchen. Gelänge ihr ein Durchbruch, könnte sie gen Berdiansk am Asowschen Meer eilen – doch wie bei Orichiw bleibt sie derzeit an den russischen Stellungen stecken.
 

#5: Cherson

(2 Minuten Lesezeit)

Übersicht über Frontverlauf in Cherson – der Kachowka-Staudamm ebenfalls markiert.

Cherson war für die Ukraine lange der größte Kopfschmerz, denn es war der einzige Ort, an welchem Russland den Dnjepr überschritten hatte. Der riesige Fluss fungiert als natürliche Barriere (mit einer kleinen Ausnahme, auf welche wir zu sprechen kommen) und entsprechend war Russlands Brückenkopf brandgefährlich für die Zukunft der Ukraine. Zudem hatte Russland die gleichnamige Regionalhauptstadt Cherson erobert.

Im August 2022 begann die Ukraine eine Gegenoffensive, welche Mitte November in einer russischen Flucht gipfelte. Die Ukraine kontrollierte wieder das gesamte rechte (westliche) Dnjepr-Ufer. Die Front in Cherson beruhigte sich etwas und beide Seiten schienen Truppen in andere Frontabschnitte abzuziehen.

Mit dem Beginn der jetzigen ukrainischen Gegenoffensive wurde Cherson allerdings zur “Wildcard”, zum unberechenbaren Faktor. Amphibische Operationen, also maritime Anlandungen, sind kompliziert und gefährlich, doch könnte die Ukraine trotzdem eine wagen? Russland musste Truppen in der Region belassen, solange die Gefahr bestand, dass die Ukraine einen Anlandungsversuch starten würde. Gelänge dieser, wäre es eine Katastrophe: Plötzlich hätte Russland eine Front im “Rücken” und die Krim wäre ernsthaft in Gefahr.

Übersicht über Frontverlauf in Cherson und besetzte Krim. Die blaue Linie zeigt, wie der Kachowka-Staudamm für die Trinkwasserversorgung der Krim eine zentrale Rolle spielt. 

Die russischen Befürchtungen wurden davon angeheizt, dass tatsächlich laufend Kämpfe um kleine Flussinseln im Dnjepr-Delta stattfanden. Auch der “Kinburn-Split”, die längliche Halbinsel direkt vor Cherson und Mikolajiw, schien ins Visier der Ukraine zu geraten. Womöglich spielte das also in die Entscheidung herein, den Kachowka-Staudamm in die Luft zu sprengen, insofern es denn tatsächlich eine gezielte Sprengung war. Die Wassermassen überschwemmten die Dnjepr-Inseln und das Thema Flussüberquerung hatte sich erledigt.

Kurzzeitig, zumindest. Denn jetzt, wo die Wassermassen endlich abgeflossen sind, scheint eine Flussüberquerung mancherorts einfacher als vorher zu sein. Selbst der große Kachowka-Staudamm könnte überquerbar sein, was die Saporischschja-Front bedeutend komplexer machen würde. Und direkt gegenüber Cherson setzten sich ukrainische Soldaten auf der russisch besetzten Seite fest und etablierten einen Brückenkopf. Nicht allzu viele Soldaten, doch im russischen Diskurs sorgte die Landung für regelrechte Panik. Zuletzt schien es Russland gelungen zu sein, die Vorhut zu zerschlagen, doch jetzt halten (russische) Militärblogger dagegen und berichten, dass die Ukraine noch immer Truppen auf der linken (östlichen) Dnjepr-Seite besäße.

Eine große amphibische Aktion ist Stand Anfang Juli unwahrscheinlich. Sie wäre einfach zu komplex und riskant. Das heißt nicht, dass sie ausgeschlossen ist: Wenn die Ukraine erkennt, dass sie einen größeren Brückenkopf etablieren kann, warum sollte sie nicht versuchen, schweres Material überzusetzen? Vor allem, wenn die Explosion des Kachowka-Staudamms plötzlich doch mehr “Furten” kreiert? Und so oder so wird Kiew es genießen, Russland mit Nadelstichen daran zu erinnern, dass es Truppen im Westen lassen muss, während die großen Kämpfe weiter östlich stattfinden.
 

Also, wie läuft die Gegenoffensive?_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Quelle: Lukas Johnns, pixabay

Den richtigen Vergleich tätigen

Wer einen Blick auf die Karten wirft und unsere Erklärung liest, könnte feststellen, dass trotz vieler schwarzer Pfeile – also Offensivbemühungen – doch relativ wenig Blau hinzugekommen ist, also befreite Gebiete. Rund um Bakhmut sind es einige Quadratkilometer und entlang Saporischschja und dem westlichen Donezk ist ein Streifen Blau erkennbar. Rund 15 Dörfer dürften befreit worden sein, doch der richtig große Durchbruch ist noch nicht da. In Saporischschja scheinen die Defensivstellungen noch gar nicht erreicht zu sein. In Cherson könnte ein Brückenkopf auf der anderen Flussseite neutralisiert worden sein. 

Es liegt nahe, die Gegenoffensive bisher als Misserfolg zu werten. Doch die Ukraine wird dabei ein Opfer ihrer früheren Erfolge.

Der Verbrecher ist die Charkiw-Gegenoffensive im September 2022. Die Ukraine hatte damals mit viel Radau eine Gegenoffensive in Cherson signalisiert (und auch begonnen), doch dann plötzlich einen Großangriff in der damals besetzten Oblast Charkiw gestartet. Die nach ihrer eigenen Offensive geschwächten russischen Truppen wurden von dem Schlag völlig überrascht und zerfielen regelrecht; die Ukraine marschierte durch und stoppte wohl nur aus Sorge, sich zu weit zu strecken. Man müsste militärhistorisch ein gutes Stück zurückgehen, um eine dermaßen erfolgreiche Gegenoffensive zu finden. Innerhalb von nur 3,5 Wochen (und zum größten Teil innerhalb weniger Tage) befreite die Ukraine 12.000 Quadratkilometer und über 500 Ortschaften. Das entspricht flächenmäßig fast dem Bundesstaat Thüringen.

Kein Wunder, dass die Erwartungen falsch liegen und sich nun Enttäuschung breit macht. Beobachter hatten gehofft, dass sich das Wunder von Charkiw wiederholen ließe und Russland einfach zerfällt. Allerdings arbeitet das Land in Saporischschja nicht nur mit deutlich robusteren Verteidigungsstellungen, sondern agiert inzwischen bedeutend smarter als früher. Die russischen Soldaten sind disziplinierter, genießen mehr Luft- und Artillerieunterstützung und haben gelernt, wie sie auf beliebte ukrainische Taktiken (z.B. den Einsatz von Drohnen) reagieren können. Die Varianz auf dem Schlachtfeld bleibt zwar hoch, doch im Großen und Ganzen ist die russische Armee nicht mehr die Lachnummer, welche sie zu Anfang der Invasion bildete.

Shape it until they drop

Beobachter sollten sich lieber an die Gegenoffensive in Cherson erinnern. Sie begann schon Ende August, doch dauerte bis Mitte November an. Auf kleinere Territorialgewinne folgte lange Zeit Stagnation, dann wieder kleine Fortschritte, dann wieder Stagnation. Was sich in den Karten nicht zeigte, war, dass der Druck auf Russland stetig zunahm: Die Ukraine zerstörte Munitionslager und Infrastruktur mit ihrer HIMARS-Artillerie und nutzte die feindlichen Truppen ab. Mit der Zeit wurde den Russen klar, dass sie in Cherson nicht viel länger aushalten würden und sie zogen sich zurück.

Cherson mag ein wenig besonders gewesen sein, da Russland den Fluss Dnjepr im Rücken hatte und damit Gefahr lief, seine Truppen nicht mehr evakuieren zu können, sollte die Ukraine komplett durchbrechen. In Saporischschja hat Russland nur noch mehr besetztes Gebiet im Rücken, in welches sich die Truppen zurückziehen können, sollten sie an der vordersten Front geschlagen worden sein – wortwörtlich in den nächsten Graben.

Dennoch gibt es Grund zur Annahme, dass die Ukraine derzeit einiges richtig macht. Im Stile der Cherson-Offensive versucht sie, die russischen Truppen abzunutzen, während sie im Hinterland deren Kommandozentralen, Munitionslager und Logistikknoten zerstört – also “shaping operations” durchführt. Sie priorisiert es, den Gegner nachhaltig zu schwächen, statt schnellstmöglich Territorialgewinne herbeizuführen, welche unter hohem Material- und Soldateneinsatz erkauft würden. Dazu passt, dass Kiew von seinen zwölf für die Offensive geschaffenen Brigaden bislang nur drei im Einsatz hat (neun davon sind mit westlichem Gerät ausgestattet). Die Ukraine hält einen Großteil ihrer Offensivkraft zurück, bis sie ihren Gegner ausreichend abgenutzt hat.

Gut zu wissen: Eine Brigade hat klassischerweise 3.500 bis 4.000 Soldaten. Zu den zwölf gezielt ausgebildeten Brigaden kommen acht “Sturmbrigaden” mit 40.000 Soldaten, welche weniger gut trainiert sind, doch über welche ansonsten nicht allzu viel bekannt ist.

Wer übernimmt?

Ein wichtiger Puzzlestein in dieser Strategie ist die Annahme, dass es Russland an Truppenreserven fehlt, also Soldaten, mit welchen es jene an der Front rotieren kann. Das meinen einige westliche Analysten zu erkennen, etwa das Institute for the Study of War und das britische Verteidigungsministerium. Ein Hinweis darauf war, dass keine Truppen bereitstanden, welche auf die Wagner-Rebellion Ende Juni reagieren konnten, doch auch bestimmte Truppenverlagerungen: In Saporischschja kämpfen an vorderster Front die 58. Armee, welche eigentlich in der angespannten Kaukasusregion stationiert ist, und die 5. Armee, welche eigentlich im Fernen Osten die Grenze zu China sichert. In Bakhmut operieren Elite-Fallschirmjäger, deren regulärer Job die Schnellreaktion auf Konflikte mit der NATO war. Russland scheint in den Kampf zu werfen, was immer es kriegen kann – womöglich, weil es nicht mehr allzu viel Puffer hat. Stimmt das, wäre die Abnutzungsstrategie hocheffektiv: Noch ein wenig Druck, dann ein großer Schlag und die Invasoren hätten keine Kapazitäten, um das geschaffene Loch zu stopfen. Die Front könnte zusammenfallen – late-stage Cherson.
 
So weit die Theorie. Das heißt nicht, dass es unbedingt gelingen muss. Womöglich besitzt Russland mehr Reserven als gedacht. Auch Berichte darüber, dass Russland die Raketen ausgingen, haben sich nicht so recht bewahrheitet (wobei Raketen einfacher herzustellen sind als Soldaten). Womöglich operiert die Ukraine selbst dermaßen am Limit, dass sie Russland kaum abnutzen kann, ohne sich selbst gleich mit abzunutzen – nicht umsonst klagt Kiew seit Monaten über mangelnde Munition. Und womöglich sind die russischen Verteidigungsstellungen entlang der Front stark genug, um die Ukraine auszulaugen, bevor Russland die Puste ausgeht.

Da wären wir wieder am Anfang: Wir wissen derzeit vieles einfach nicht. Und das meiste werden wir wohl auch erst im Nachhinein herausfinden. Eines steht aber praktisch fest: Die Gegenoffensive befindet sich noch in einer frühen Phase. Gib ihr noch ein paar Wochen und Monate. Was ist das schon, bei 500 Tagen Krieg?

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