Argentinien unter Milei

Welche Weichen stellt der Libertäre für die Wirtschaft des Landes? 
5. Mai 2024

Experiment | Überschuss | Strukturreformen | Viel Risiko

(12 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Javier Milei regiert seit einem halben Jahr in Argentinien und setzt kontroverse libertäre Reformen durch.
  • In erster Linie handelt es sich um einen klassischen, doch äußerst intensiven Austeritätsplan zum “Gesundsparen”, flankiert von passender Geldpolitik.
  • Ein seltener Haushaltsüberschuss und viel Investorenvertrauen sind erste große Erfolge. Vorübergehend hohe Inflation und eine absehbare Rezession nimmt die Regierung bewusst hin.
  • Weitreichende Strukturreformen verhindert derzeit der Kongress, auch wenn sich erste Bewegung abzeichnet.
  • Die Reformen treffen bereits jetzt die Bevölkerung, doch Milei behält mit 49% Zustimmung viel Vertrauensvorschuss. Zu tief sitzt die Resignation über die peronistischen Vorgängerregierungen.
  • Zugleich gibt es bereits Massenproteste, welche die politischen Risiken andeuten.
  • Noch ist es zu früh, final über Mileis Reformen zu urteilen. Ökonomisch sind sie riskant, doch scheinen einen Versuch wert. Die große Frage ist, wie lange der Präsident seine Pläne politisch überleben kann.

Ein halbes Jahr unter Milei_

Das Experiment wagen

Als der Ökonom Javier Milei vor einem halben Jahr die Wahl in Argentinien gewann und in die Casa Rosada einzog, galt die Aufmerksamkeit vor allem den Kuriositäten. Sein Auftreten mit einer Kettensäge im Wahlkampf. Seine fünf geklonten Hunde. Sein Versuch, mit Geistern zu kommunizieren. Moses und Margaret Thatcher als Inspiration. Und natürlich: Seine ultralibertäre Radikalkur für Argentinien. Das Land kannte in den vier Jahrzehnten davor im Grunde nur die linkspopulistischen Peronisten, gelegentlich unterbrochen von kurzlebigen konservativen Regierungen. Milei war etwas Neues.

Gut zu wissen: Im Monatsreview November widmeten wir Milei einen ersten Mini-Explainer. Wir erwähnten besagte Kuriositäten und gaben einen durchaus gut gealterten Vorausblick auf seine Wirtschaftspläne. Der Link erfolgt erneut am Ende dieses Textes.

Anlass sahen die Argentinier genug. Die Vorgängerregierungen – die meiste Schuld dürfte den Peronisten anzulasten sein – hatten das Land jahrzehntelang heruntergewirtschaftet. War es vor 100 Jahren nicht nur das reichste Lateinamerikas, sondern auch unter den sieben reichsten der Welt (pro Kopf und kaufkraftbereinigt gar über Deutschland), so befindet es sich heute nur noch im Mittelfeld. Ein kräftiger Wirtschaftspopulismus machte Argentinien nicht nur für Gläubiger unzuverlässig (das Land rutschte neunmal in den Staatsbankrott), sondern auch für die eigenen Bürger: Zu Mileis Amtsantritt betrug die Verbraucherinflation rund 160 Prozent und die Landeswährung Peso befand sich im freien Fall. Die Preisinstabilität und die Folgen der selbstverursachten Finanzierungsprobleme würgten die Wirtschaft ab und kosteten den Argentiniern an Lebensstandard. Die Armutsquote in Argentinien betrug im Januar womöglich 57 Prozent, gegenüber 43,1 Prozent Ende 2022. Im benachbarten Brasilien waren Ende 2022 übrigens nur 23,5 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Also wählte Argentinien die Brechstange in Form von Milei. Sein Stil und seine Pläne waren radikal, immerhin wollte er den bisherigen sozialen Vertrag in Argentinien – ein starker Staat, welcher eine große Rolle in der Wirtschaft einnimmt – maßgeblich aufkündigen. Doch alles klang offenbar besser als der Status Quo. Nun ist knapp ein halbes Jahr vergangen. Wie steht es um Argentinien unter Milei?

Gut zu wissen: Wenn ein Staat bankrott geht, weil er sich weigert oder nicht imstande ist, seine Schulden zu begleichen, verliert er im Schnitt 4 bis 6 Jahre lang den Zugang zu Finanzmärkten. Das bedeutet, dass er sich nur noch eingeschränkt Geld leihen kann. Die Regierung kann also weniger Ausgaben und Investitionen leisten und zudem schlecht auf Krisen reagieren.

Der erste Überschuss seit fast 16 Jahren

Gleich vorab: Ein halbes Jahr ist kaum der richtige Zeitraum, um Resultate in Ernsthaftigkeit zu bewerten. Wenn Foreign Policy davon schreibt, dass Mileis Reformen “furchtbar” für normale Argentinier gewesen seien und dafür Zahlen aus Januar 2024 anführt, so ist das etwas absurd, da der Präsident überhaupt erst Mitte Dezember ins Amt vereidigt worden war. Viele seiner Pläne dürften sich erst in einigen Monaten bewerten lassen, einige erst in Jahren, da sie tief an der Wirtschaftsstruktur des Landes rütteln. Es ist allerdings auch nicht völlig absurd: Mileis Reformen haben bereits jetzt starke Auswirkungen. Einige zum Guten, andere zum Schlechten. Die große Frage wird sein, was davon vorübergehend ist und was bleibt.

Der akute Fokus seiner Regierung liegt darauf, Haushaltsüberschüsse zu erreichen. Milei will also mehr Geld einnehmen, als er ausgibt, und zwar fürs Gesamtjahr in Höhe von 2 Prozent des BIP. Das wäre eine große Wende vom 3-prozentigen Haushaltsdefizit aus 2022. Und tatsächlich gelang in den vergangenen Monaten der erste Quartalsüberschuss seit fast 16 Jahren. Das sei eine “Leistung historischen Ausmaßes”, so Milei wenig bescheiden. 

Der Sinn des Überschusses ist relativ einfach erklärt. Erstens, ein Staat, der mehr einnimmt, als er ausgibt, erhöht seinen Schuldenstand nicht. Das nimmt weiter Druck von der Staatskasse, da weniger Zinsen bezahlt werden müssen. Es signalisiert Investoren außerdem Stabilität und senkt die Risikoprämie auf eigene Anleihen. Wenn der Staat also neue Schulden aufnimmt (und sei es, um damit existierende Schulden zurückzuzahlen), so sind diese günstiger. Auch die Währung wird gestärkt. Zweitens, ein Haushaltsüberschuss senkt den Inflationsdruck, denn der Staat entnimmt der Wirtschaft mehr Geld (vor allem in Form von Steuern) als er hineintut.

In diesem Sinne verlangt auch der Internationale Währungsfonds (IWF) von Staaten, welche ihn um Finanzhilfe anrufen, fast immer eine Konsolidierung des Haushalts. Mileis Ziel, das Defizit komplett zu schließen und sogar Überschüsse zu erzielen, ist allerdings extremer als es selbst der IWF gefordert hatte.

Den Peso zähmen, den Haushalt brechen

Milei erkauft die Überschüsse mit durchaus radikalen MaßnahmenZum einen mittels monetärer Kniffe: Er hat den Peso bereits im Dezember, als eine der ersten Amtshandlungen, um 54 Prozent herabgewertet. Das sollte die Lücke zwischen dem (zunehmend fiktiven) offiziellen Wechselkurs und jenen auf dem Schwarzmarkt schließen, aber auch die Zahlungen des Staats an heimische Schuldner einfacher machen: Wenn der Peso weniger wert ist, sind 100 Millionen Peso eben schlagartig leichter aufzubringen – vor allem mit den wenigen US-Dollar, welche die Zentralbank noch besitzt. Aus demselben Grund senkte die Zentralbank die Leitzinsen: Der Staat muss geringere Zinsen zahlen, von der Haushaltskasse wird Druck genommen. Zudem verteuert eine schwächere Währung Importe, was bedeutet, dass weniger Devisen aus Argentinien ins Ausland abfließen.

Mittelfristig dürfte die Milei-Strategie die Inflation senken, doch die erste Konsequenz der brachialen Währungsabwertung im Dezember war ein scharfer Anstieg, da Importe schlagartig verteuert wurden. Die Inflation kletterte auf Jahressicht von 211 Prozent im Dezember 2023 auf 288 Prozent bis März 2024 – wegen Milei, nicht trotz Milei. Dahinter zeigt sich allerdings eine positive Dynamik: Die Inflation zum Vormonat ist von 25,5 Prozent im Dezember auf 11 Prozent im März (also ggü. Februar) gesunken. Für April erwarten Ökonomen einen Wert unterhalb der 10 Prozent. Das Preiswachstum schwächt sich also ab, wenn auch auf einem höheren Preisniveau. Der Jahresvergleich sieht damit äußerst unvorteilhaft aus; der hier relevantere Monatsvergleich besser.

Gut zu wissen: Schätzungsweise 64 Prozent der Gläubiger des argentinischen Staats sind heimisch, der Rest aus dem Ausland. Allerdings sind nur 33 Prozent der Schulden in Peso ausgestellt, der Rest meist in US-Dollar.

Der zweite Weg zum Haushaltsüberschuss war ein bemerkenswert konsequentes Austeritätsprogramm, also die Streichung von Staatsausgaben. Milei strich die großzügigen Subventionen auf Treibstoff, Gas, Wasser, Strom und den öffentlichen Nahverkehr, gab Preiskontrollen der Vorgängerregierung auf, halbierte die Zahl der Ministerien und entließ 50.000 Beamte (weitere 70.000 Anstellungsverträge will er auslaufen lassen). Zuletzt hielt er die Budgets der gebührenfreien öffentlichen Universitäten stabil, was in Anbetracht von 288 Prozent Inflation eine kräftige reale Kürzung bedeutet. Hier zeigt sich auch, wieso der im Dezember herbeigeführte Inflationsschub für den Haushalt positiv wirkt: Wenn sich die Preise im Vergleich zum Vorjahr fast vervierfacht haben, aber die Regierung ihre Ausgaben stabil hält, hat sie ihre Ausgaben real geviertelt. Eine hohe Inflationsrate verschafft ihr also mehr Manövrierraum, Ausgaben real zu senken. So gab die Regierung beispielsweise für beitragsbezogene Renten, den größten Block im Staatshaushalt, inflationsbereinigt 40 Prozent weniger im Januar und Februar aus als ein Jahr davor.

Erfolge und Gefahren

Mileis fiskalische und monetäre Brechstange hat, zusammengefasst, bisher einige Erfolge zu verbuchen. Der Haushalt ist im Überschuss und die Regierung zieht erste Schuldenrückzahlungen vor. Die Diskrepanz zwischen Wechselkurs und Schwarzmarkt ist geschrumpft und die Zentralbank hat ihre Devisen deutlich erhöht. Die Risikoprämie für Argentinien am Anleihenmarkt ist kräftig gesunken (ein Zeichen für Investorenvertrauen). Und die Inflation scheint abzunehmen, wenn auch von einem höheren Niveau, welches für einige der genannten Erfolge in Kauf genommen worden ist.

Nun sind das zweifellos Erfolge, doch der gesamte Effekt der Milei-Reformen ist noch nicht absehbar. Denn zugleich belasten sie die Bevölkerung und die Gesamtwirtschaft derzeit schwer. Abhängige Beschäftigte haben rund ein Fünftel ihrer Kaufkraft eingebüßt, was schätzungsweise 20 Jahre an Gehaltsentwicklung ausgelöscht haben könnte. Kleine und mittlere Firmen machten im Januar 30 Prozent weniger Umsatz, was auf einen einstürzenden Konsum hindeutet. Dass Apotheken knapp 46 Prozent weniger Umsatz gemacht haben, deutet an, dass die Argentinier sich selbst mit dem Kauf von Medikamenten schwertun. Das BIP dürfte dieses Jahr um schätzungsweise 4 Prozent schrumpfen, im Januar und Februar waren es bereits 3,6 Prozent. Das sind Werte, welche die meisten Staaten bisher nur aus dem Covid-Jahr 2020 kennen.

Milei argumentiert, dass die Rezession temporär und notwendig seiDas Land spare sich gesund – Austerität, eben – und schüttle dadurch auch die Inflation ab. Einige Ökonomen stimmen zu und, wenn man sich die Preisentwicklung argentinischer Staatsanleihen anschaut, Investoren mehrheitlich ebenso. Doch für die Argentinier bedeuten die anvisierte Rezession und die kräftig gestiegenen Verbraucherpreise noch mehr Arbeitslosigkeit, Armut, Unsicherheit und fallende Lebensstandards. Anekdoten über Einzelschicksale gibt es zuhauf.

Viel Zustimmung, viel Wut

Beeindruckenderweise hält die Zustimmung für den Präsidenten bislang trotz der Probleme für die Bevölkerung. Seine Zustimmungswerte lagen Ende April bei 49 Prozent, nur 3 Prozentpunkte weniger als im Dezember. Genauso hoch liegt die Zustimmung für seine Wirtschaftspolitik. Selbst unter den Argentiniern, welche angeben, dass sie sich in prekärer Finanzlage befinden, unterstützt ein Drittel Milei. Wenn er die Schuld für Argentiniens Probleme auf die Vorgängerregierungen schiebt, von ihm als “Politikerkaste” beschimpft, dann verfängt sich das bei vielen Argentiniern. Populistische Wortwahl beiseite, hat er dabei durchaus recht – fast vierzig Jahre Peronisten wiegen schwerer als sechs Monate Turbolibertarismus. Und auch als er in seiner Amtseinführung vor sechs Monaten sagte, dass es dem Land schlechter gehen müsse, bevor es ihm besser gehen könne, dürfte er recht gehabt haben. Doch das bedeutet nicht, dass die Argentinier seine radikale Austeritätspolitik ewig mitmachen werden.

Bereits jetzt zeigt sich Widerstand gegen Mileis Pläne, wenn auch noch nicht gesamtgesellschaftlich. Ende Januar brachten die mächtigen Gewerkschaften Tausende Menschen auf die Straßen, keine sieben Wochen nach Mileis Amtsantritt – ein nationaler Geschwindigkeitsrekord. Im Februar und Ende April kam es zu Streiks. Die eingefrorenen (sprich, inflationsbereinigt kräftig gestutzten) Hochschulbudgets sorgten unlängst für heftigen Protest der Universitäten und der lautstarken Mittelschicht, welche sie befüllt. Der Dekan der Universität von Buenos Aires (UBA) klagt, dass seine Institution mit dem neuen Budget nur zwei bis drei Monate lang operieren könne. Die UBA und andere Universitäten haben einen “Haushaltsnotstand” ausgerufen, etwa mit beschränkter Beleuchtung und Aufzugsnutzung. Daraufhin gingen bis zu 430.000 Menschen auf die Straße, um gegen Mileis Pläne zu demonstrieren.

Gut zu wissen: Der Präsident hatte bereits seine ersten größeren Fauxpas: Ein Dekret hätte unter anderem sein Gehalt um 48 Prozent erhöht, was inmitten der Austeritätspolitik nicht gut aussah. Es handle sich um einen Fehler, so Milei, welcher automatisch auf einen Beschluss der peronistischen Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner zurückgehe. Die Opposition hebt hervor, dass Mileis Unterschrift unter dem Dekret stand, er die Erhöhung also (theoretisch) gesehen haben müsse.

Die “Verräter” im Kongress

Auch die Parteienpolitik wirft Milei Hürden in den Weg. Der Präsident ging als Politaußenseiter in die Wahl und besitzt keine etablierte Parteienstruktur; seine Koalition La Libertad Avanza (“Freiheit schreitet voran”) hält nur 15 Prozent der Sitze im Unterhaus; mit Verbündeten 30 Prozent. Im Senat sind es sogar nur jeweils 10 und 18 Prozent. Vor allem seine Strukturreformen scheitern an seiner Schwäche im Parlament. Ein gigantisches Omnibus-Gesetz, welches 664 Einzelgesetze umfasst hat, wurde im Dezember abgelehnt; ein anderes Dekret im März verhindert. Auch Gerichte haben sich bereits eingeschaltet und Mileis Manövrierraum eingeschränkt.

Wenn seine Geldpolitik- und Haushaltsmaßnahmen eher Lösungen für die nächsten Monate und Jahre in Argentinien sind, so geht es bei den Strukturreformen um Jahre und Jahrzehnte. Milei will Dutzende Sektoren liberalisieren und privatisieren, er will den Arbeitsmarkt deregulieren und das Rentensystem reformieren. Auch das Steuersystem, die Bürokratie rund um Investitionen, die Machtteilung mit den Provinzen und der Energiemarkt sollen neu aufgestellt werden. Es überrascht kaum, dass die Pläne auf Widerstand treffen, vor allem, da Milei die Einstellung erkennen ließ, dass der Kongress gefälligst als Erfüllungsgehilfe des (in ihm gebündelten) Volkswillens zu agieren habe. Senatoren, welche gegen seinen Plan stimmten, seien “Feinde der Gesellschaft” sowie “Verräter”.

Inzwischen scheint der Präsident die politische Realität anzuerkennen und justiert seine Herangehensweise. Zumindest ein wenig. Milei verhandelt mit Abgeordneten, Senatoren und den einflussreichen provinziellen Gouverneuren und bietet Konzessionen. Gleichzeitig traktiert er sie mit populistischen Äußerungen und heftigen Drohungen: Wenn die Gouverneure ihn nicht unterstützen, müsse er ihnen eben Transferzahlungen enthalten. In kleinem Maßstab ist das bereits geschehen.

Die Doppelstrategie ist riskant, doch zeigt erste Erfolge. Ende April nahm der Kongress das einst 664 Gesetze große, inzwischen aber deutlich verschlankte Omnibus-Gesetz an, womit dieses nun an den noch kritischeren Senat geht. Die Version sieht etwa die Privatisierung von rund 12 Staatsfirmen, gewisse Deregulation am Arbeitsmarkt und Steuervorteile für Investitionen vor – insofern sie denn angenommen wird. Letzten Endes dürften die Zwischenwahlen im kommenden Jahr darüber entscheiden, wie weit Milei mit seiner Reformagenda gehen kann. Gelingt es ihm, seine hohen Zustimmungswerte bis dahin zu halten, kann er sie in mehr Macht im Parlament ummünzen. Andernfalls ist es unwahrscheinlich, dass mehr als einige wenige Maßnahmen jemals realisiert werden. Nicht, dass er völlig machtlos wäre: Den Großteil der “akuten” Reformen, also etwa, was die Senkung von Staatsausgaben betrifft, kann Milei per präsidialer Verfügung und ohne den Kongress entscheiden.

Kollaps oder Erlösung?

Abseits der politischen Hürden ist ein weiteres Problem, dass nicht ganz klar ist, was Milei alles vorhat. Seine exotischsten Forderungen im Wahlkampf hat er bislang still beiseite geschoben: Weder von einer Abschaffung der Zentralbank noch von einer Dollarisierung Argentiniens – also dem Ersatz des Peso durch den US-Dollar – ist aktuell die Rede. Auf Dollarisierung angesprochen, weicht seine Regierung aus. Finanzsekretär Pablo Quirno nannte den Plan “eher eine moralische Diskussion”; Milei wirft der “Kaste” vor, ihn auszubremsen. Für Investoren und Firmen schafft das Unsicherheit, was wiederum Risikoprämien, Investitionen und Wechselkurs beeinflusst.

Gut zu wissen: Sollte Milei noch eine Dollarisierung planen, hilft ihm der Inflationsschub dabei. Argentinier, an extreme Preisinstabilität gewohnt, horten traditionell US-Dollar, praktisch unterm Kopfkissen. Die rasant gestiegenen Preise zwingen sie dazu, Dollar zu verkaufen, womit diese durch die Wirtschaft zirkulieren. Da die Währungsabwertung zugleich Importe verteuert hat, fließen die Devisen außerdem weniger aus dem Land ab. Und der vergünstigte Peso bedeutet auch, dass weniger Dollar genügen, um die argentinische Wirtschaft komplett abzudecken.

Und dann ist selbstverständlich nicht klar, ob seine Reformen erfolgreich ausgehen. Im besten Fall durchläuft Argentinien eine kurze schmerzhafte Phase, in welcher es das Marktvertrauen wiedererlangt, die Inflation bändigt und seinen Haushalt konsolidiert, bevor das Wachstum wieder anzieht und die Realeinkommen steigen, doch diesmal nachhaltiger. Vielleicht gelingen gar erfolgreiche Strukturreformen, welche die argentinische Wirtschaft dynamischer, wettbewerbsfähiger und weniger abhängig von Subventionen machen.

Oder es kommt anders. Die Rezession könnte tief und lang sein und die sozialen Folgen exorbitant. Milei könnte von schweren Protesten aus dem Amt katapultiert werden, mit halbfertigen Strukturreformen. Das Experiment mit dem Libertären wäre gescheitert, was die Peronisten zurück ins Amt bringen und liberale Reformen auf Jahre vergiften könnte. Argentinien wäre zurück beim Status quo ante angelangt, nur ärmer, instabiler und reformunwilliger. Präzedenz gäbe es: Als Fernando de la Ruá 2001 unbeliebte Wirtschaftsreformen umzusetzen versuchte, eskalierten die Proteste derart, dass er per Helikopter aus dem Präsidentenpalast fliehen musste

Mileis Reformen sind damit eine riskante GratwanderungSie können sowohl politisch als auch ökonomisch scheitern. Ohne vollmundig angekündigte Maßnahmen wie der Schließung der Zentralbank oder der Dollarisierung handelt es sich bei den Reformen weniger um verrückte Experimente als im Grunde um relativ klassische Austeritätsmaßnahmen, flankiert von dazu passender Geldpolitik. Das ist einen Versuch wert: Austerität ist gerade bei linken Ökonomen und Beobachtern unbeliebt, doch im Fall Argentiniens ist schwierig vorstellbar, was sonst funktionieren kann.

Mileis Variante ist allerdings “Austerität auf Adrenalin”; praktisch mit dem Vorschlagshammer. Das erhöht die Risiken signifikant. Es kann sein, dass eine sanftere Variante in Argentinien nicht funktionieren würde. Und es wäre ein noch inakzeptableres Risiko, einfach so weiterzumachen wie in den letzten Jahrzehnten. Bevor der Mann mit der Kettensäge in die Casa Rosada einzog, lag die Armutsrate bereits bei über 40 Prozent.

Benjamin Gedan, Lateinamerika-Direktor des Wilson Center in den USA, sagt es treffend. “Die meisten Leute stimmen zu, dass […] alles entweder komplett kollabiert oder, dass Milei irgendwie politisch lange genug überlebt, um die Vorzüge seiner Politik aufzuzeigen. Aber einfach am Rand der Krise entlang zu schlittern, scheint nicht mehr möglich zu sein.”

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