Eine Protestbewegung erreicht alle ihre Ziele. Was nun?
11.08.2024
Der Protest | Geschichte | Hasina | Wie es weiter geht
(14 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Massenproteste in Bangladesch haben Premierministerin Sheikh Hasina aus dem Amt getrieben. Gewalt durch die Sicherheitskräfte, Internetsperrungen und Konzessionen konnten sie nicht halten; am Ende wurde die Situation zu volatil.
- Hasina und ihre Awami-Liga hatten im demokratischen Bangladesch seit 1990 ein politisches Duopol gemeinsam mit der Erzrivalin Khaleda Zia und ihrer BNP gebildet.
- Seit 2009 war Hasina an der Macht und agierte zunehmend autoritär; Kritiker, Journalisten und Aktivisten landeten im Gefängnis oder wurden getötet.
- Gepaart mit einer zuletzt schwachen Wirtschaftslage führte zu den Protesten. Konkreter Auslöser war im Juni eine unbeliebte Quotenregel für Staatsjobs.
- Nach Hasinas Abtritt übernimmt das Militär doch die Kontrolle, doch es scheint auf viele Forderungen der Protestler einzugehen. Darunter: Der bekannte Ökonom Muhammad Yunus an der Spitze einer Interimsregierung.
- Für Bangladeschs Weg zu Stabilität, Demokratie und Prosperität existieren viele Risiken, wie andere Länder in ähnlicher Lage bewiesen haben – doch es gibt Grund zum Optimismus.
Der Protest_
(2,5 Minuten Lesezeit)
Hinweggefegt
Ein fast schon ungewöhnliches Szenario: Große Studentenproteste brechen aus, die Sicherheitsbehörden reagieren robust und am Ende… siegen die Protestler und wirbeln die Politik des Landes auf. Was in Iran, Venezuela, Belarus und Thailand misslang, um nur eine kleine Zahl der vielen Fälle der letzten fünf Jahre zu nennen, ist in Bangladesch gelungen. Eine kurze Rekapitulation.
Die Proteste waren im engsten Sinne im Juni 2024 ausgebrochen. Das Oberste Gericht von Bangladesch hatte eine Quote für lukrative Staatsjobs wiedereingerichtet, wonach 30 Prozent der Stellen für Nachfahren des Unabhängigkeitskriegs 1971 vorgesehen sein sollten. Das verärgerte insbesondere Studenten, welche nicht nur weniger meritokratischen Zugang zu Aufstiegschancen beklagten: Das Gericht kehrte mit dem Beschluss außerdem eine Entscheidung aus 2018 um, als die damaligen Massenproteste der “Quotenreformbewegung” ein Ende der Quoten erreichte. Es war also auch ein Gefühl von fehlender politischer Teilhabe dabei.
Gut zu wissen: Sabrina Karim, Professorin an der Cornell University, nennt es die “erste erfolgreiche von Gen-Z angeführte Revolution” der Welt.
Die Proteste begannen als Partikularprotest durch Studenten, welche besonders von dem Quotensystem betroffen waren, doch wie so oft nahmen sie eine größere Dimension an. Die äußerst robuste Reaktion der Sicherheitskräfte empörte weite Teile der Bevölkerung und trieb Unterstützung für die Demonstrationen, was etwa an die erfolgreiche “Euromaidan”-Proteste in der Ukraine 2014 oder die ebenfalls überwiegend erfolgreichen Steuerproteste in Kenia 2024 erinnert. Die Regierung rund um die Partei Awami-Liga blieb bei ihrer robusten Linie: Sie mobilisierte die Polizei, die Anti-Terror-Einheiten, die Grenzpolizei und das Militär. Sie aktivierte außerdem “eigene” Studentenbewegungen sowie ihre Jugendorganisation, welche mit Waffen und Schusswaffen auf die Protestler losgingen. Daneben verhängte die Regierung eine Ausgangssperre mitsamt Schießbefehl bei Verstößen, sperrte Internet- und Mobilfunkdienste im Land teilweise vollständig und blockierte zahlreiche Social-Media-Dienste, um die Koordination und Wachstumsdynamik der Proteste zu unterbinden. Sie versuchte es auch mit Konzessionen: Am 21. Juli schwächte das Oberste Gericht die Jobquote deutlich ab, doch zu diesem Zeitpunkt waren die Proteste längst allgemeiner geworden: Sie forderten einen Rücktritt von Premierministerin Sheikh Hasina.
Die Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften sowie Pro-Awami-Fraktionen und den Protestlern sorgten für zwischen 300 und 500 Tote. Dazu kamen möglicherweise über 20.000 Verletzte und mindestens 11.000 Verhaftungen. Die Gewalteskalation tat den Demonstrationen keinen Abbruch: Am 4. August blockierten Tausende Protestler den zentralen Verkehrsknoten Shahbag in der Hauptstadt Dhaka; am 5. August riefen sie zum “Langen Marsch auf Dhaka” auf. Die Proteste gewannen an Intensität: Es kam zu Plünderungen, Brandanschlägen und Angriffen auf öffentliche Gebäude sowie Parteieinrichtungen der Awami-Liga. Protestler brachen erfolgreich in die offizielle Residenz von Premierministerin Hasina. Am selben Tag gab sie ihren Rücktritt bekannt und floh aus dem Land.
Ein großer Faktor für die Stärke der Protestbewegung dürfte gewesen sein, dass sich schnell allgemeinere Ärgernisse als die Quotenregel in sie gemischt hatten. Und zwar grob gesagt zweierlei: Die zuletzt schwache Wirtschaftsentwicklung in Bangladesch und der zunehmend autoritäre Regierungsstil von Premierministerin Sheikh Hasina.
Eine kurze Geschichte Bangladeschs_
(2,5 Minuten Lesezeit)
Eine kurze Geschichte von Bangladesch
Die Region Bengalen wechselte seit der Antike zwischen Perioden unter indischer Dominanz und (semi-)Unabhängigkeit, im Grunde bis zur Kolonialära nach der Eroberung durch Großbritannien 1772. Bereits seit dem 8. Jahrhundert waren außerdem muslimische Einflüsse nach Bengalen gelangt; ab 1202 wurde es erstmals von einem islamischen Sultanat regiert. Bis heute ist Bangladesch ein mehrheitlich muslimisches Land.
Das “British Raj”, also britische Kolonialreich auf dem indischen Subkontinent, hielt bis 1947. Im Juni des Jahres wurde es entsprechend dem Mountbatten-Plan aufgeteilt. Um religiöse Spannungen zu vermeiden, wurden – auf ausdrücklichen Wunsch der jeweiligen Vertreter – ein hinduistischer und ein muslimischer Staat eingerichtet. Indien und Pakistan.
Eine offene Frage war, wie die Grenzen konkret verlaufen sollten. Der hinduistische Kongress unter Jawaharlal Nehru, Indiens Staatsgründer, und die Muslimische Liga unter Muhammad Ali Jinnah, Pakistans Staatsgründer, konnten sich nicht einigen. Eine Delegierung der Aufgabe an die UN empfanden sie als zu langsam. Also schlugen Nehru und Jinnah vor, dass die britische Regierung helfen solle. Diese wählte für die Aufgabe den Beamten Cyril Radcliffe, welcher offenbar nie weiter östlich als Paris gewesen war und nur fünf Wochen Zeit für die Spaltung des Subkontinents erhielt. Allen Beteiligten, darunter Nehru und Jinnah, war jedoch wichtiger, dass Radcliffe eine neutrale Partei war. Die resultierende “Radcliffe-Linie” führte zu einer Fluchtbewegung von rund 14 Millionen Menschen, welche sich auf der “falschen” Seite wiederfanden und zu massenhafter Gewalt. Radcliffe verzichtete später auf sein Salär.
Ostpakistan zu Bangladesch
Die Grenzen des modernen Bangladesch wurden durch die Radcliffe-Linie gezogen. Rund ein Drittel Bengalens ging an Indien, der muslimisch dominierte Rest an Pakistan, nämlich als Provinz Ostpakistan. Die enorme geografische Trennung zwischen Ostpakistan und dem Kernland war von Anfang an ein Stabilitätsrisiko, welches das mit Pakistan verfeindete Indien anfachte. Die Bengalen beklagten politische, sprachliche, bürokratische und wirtschaftliche Diskriminierung durch die Zentralregierung in Islamabad. Aus der Muslimischen Liga spaltete sich die Awami-Liga ab, welche als wichtigste Regionalpartei Ostpakistans hervorging. Sie kollidierte immer offener mit Islamabad und dem einflussreichen Militär.
1971 brach ein Bürgerkrieg aus, in welchem die Bengalen einen erfolgreichen Guerillakrieg führten und die pakistanische Armee auslaugten. Nach einigen Monaten intervenierte außerdem Indien zugunsten der Bengalen. Bis Ende des Jahres war der Krieg vorbei. Bangladesch, “Land der Bengalen”, wurde ausgerufen und binnen kurzer Zeit vom Rest der Welt anerkannt. 1974 folgte selbst Pakistan.
Die Awami-Liga wurde durch ihre Rolle im Unabhängigkeitsbestreben die zentrale Partei in Bangladesch und richtete eine durch Großbritannien inspirierte parlamentarische Demokratie ein. Der charismatische Staatsgründer Sheikh Mujibur Rahman regierte allerdings autoritär und mit einem Personenkult; 1975 führte er eine sozialistische Einparteienherrschaft ein – nur um umgehend in einem Militärputsch ermordet zu werden. Es folgte eine chaotische Phase mit Attentaten, Instabilität und weiteren Putschen. Zwischenzeitlich wurde Ziaur Rahman, ein General und Held aus dem Unabhängigkeitskrieg, Präsident. Er stellte das Mehrparteiensystem wieder her und gründete die Bangladesh Nationalist Party (BNP), doch wurde 1981 ermordet. Mehr Instabilität und ein weiterer Militärputsch 1982 folgten. Erst ein Massenprotest 1990, welcher den regierenden Armeechef zum Abtritt zwang, führte zu tatsächlich demokratischen Wahlen.
Sheikh Hasina_
(4 Minuten Lesezeit)
Hasina und Zia
Bangladeschs demokratische Phase wurde durch zwei Frauen und zwei Parteien geprägt: Begum Khaleda Zia von der religiös-konservativen Nationalist Party (BNP) und Sheikh Hasina Wazed von der Awami-Liga. Sie sollten sich an der Macht abwechseln: Zia wurde 1990 zur ersten weiblichen Premierministerin des Landes gewählt, doch bereits 1996 durch Hasina ersetzt. 2001 kamen Zia und die BNP wieder an die Macht und 2008 verloren sie deutlich gegen die Awami-Liga unter Hasina.
Hasina war eine tragische Figur der bengalischen Politik, welche in mancher Hinsicht der Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi im benachbarten Myanmar ähnelt. Hasinas Vater war Sheikh Mujibur Rahman, der autoritäre Staatsgründer Bangladeschs, welcher 1975 ermordet wurde. Die damals 28-jährige Hasina hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Deutschland auf. Der Vorfall habe ihre politische Ambition und ihren Politikstil geprägt, befinden viele Beobachter. Avinash Paliwal, ein ehemaliger Professor an der SOAS London, beschreibt ihre größte Qualität als Politikerin, dass sie “Trauma als Waffe führen” könne. Der Putsch führte auch dazu, dass sie ins Exil nach Indien ging und Neu-Delhi als Unterstützer gewann. Als sie in den 1980ern nach Bangladesch zurückkehrte, erlangte sie die Führung über die Awami-Liga, doch wurde von der herrschenden Junta jahrelang unter Hausarrest gestellt.
Gut zu wissen: So wie Hasina einer Politikerdynastie angehört, so auch ihre Rivalin Khaleda Zia: Deren Ehemann war der ermordete Präsident Ziaur Rahman. Ohnehin sind im politischen Süd(ost)asien politische Dynastien keine Seltenheit. Die Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi ist Tochter des Staatsgründers Myanmars, in Thailand dominierte die Shinawatra-Familie jahrzehntelang mal die Regierung, mal die Opposition, in Sri Lanka war bis unlängst die Rajapaksa-Familie das Pendant dazu und in Indien ist Oppositionsführer Rahul Gandhi der Urenkel des Staatsgründers Jawaharlal Nehru.
Die Rivalität zwischen Hasina und Zia war tief und intensiv. Wenn ein System aus nur zwei Parteien besteht, tendieren diese dazu, zu relativ zentristischen “big tent”-Parteien zu werden, welche beide etwa die Hälfte der Wahlbevölkerung abzubilden versuchen. Das stimmte auch in Bangladesch überwiegend, bevor die BNP in den letzten Jahren stärker nach rechts und in Richtung Islamismus gedriftet ist. Die politische Ähnlichkeit änderte allerdings nichts daran, dass die Awami-Liga und die BNP einander tief verachteten. Hasina warf der BNP vor, religiösen Extremismus zu unterstützen; Zia kritisierte die Awami-Liga dafür, autoritär und korrupt zu sein. Insbesondere in den Jahren, in welchen Hasina und die Awami-Liga in der Opposition waren, kam es häufig zu politischer Gewalt, eskalierenden Protesten und sogar einem Einschreiten des Militärs in einem kurzen Putsch 2007.
Wirtschaftswunder und eiserne Hand
Als Hasina 2009 demokratisch wieder an die Regierung kam, legte sie ihren Fokus auf die Wirtschaft. Sie startete eine einzigartige Infrastrukturoffensive, welche weite Teile des Landes elektrisierte und mit Autobahnen, Zugstrecken und Häfen ausstattete. Die Textilindustrie wurde hochkompetitiv und zu einem der Wachstumstreiber, auch dank des Umstands, dass die Produktion in China inzwischen etwas zu teuer geworden war. Die Armutsquote sank und der Bildungs- sowie Arbeitsmarktzugang von Mädchen und Frauen stieg deutlich, wohl auch, weil Hasina das zu einem Herzensprojekt machte. Als aus Myanmar rund eine Million Rohingya flohen, gab Hasina der muslimischen Ethnie Zuflucht. Mit Indien, ihrer Exilheimat, pflegte Hasina ein großartiges Verhältnis, mit dem nahen Wirtschaftsfaktor China ebenso.
So erfolgreich Hasinas Wirtschaftsperformance war, so umstritten war ihr Regierungsstil. Hasina blieb 15 Jahre an der Macht und war damit die am längsten regierende Frau der Welt, doch sie schwenkte früh auf einen autoritären Stil um. Unter ihrer Regierung verschwanden oder starben Dutzende Oppositionelle, Journalisten und Aktivisten. Sie beschränkte die Pressefreiheit, etwa mit dem Digital Security Act 2018, welcher “unangemessene” Kritik in Medien oder sozialen Medien mit Haftstrafen ahndet, was ihr von der NGO Reporter ohne Grenzen den Titel “Raubtier” einbrachte.
Bei den Wahlen 2014 und 2018 gab es zahlreiche Vorwürfe über Wahlmanipulation und Gewalt gegen Oppositionelle. Tatsächlich führt die Awami-Liga mehrere Gruppen, etwa die Studentenorganisation Chhatra-Liga, welche als “Protestbrecher” fungieren und gewaltsam gegen Demonstrationen oder politische Gegner vorgehen. Die geplanten Wahlen 2024 boykottierte die BNP deswegen. Bereits 2018 war außerdem Hasinas Erzrivalin Khaleda Zia aufgrund umstrittener Korruptionsvorwürfe zu 17 Jahren Haft verurteilt und inhaftiert worden.
Unmut mit Ansage
Der latente Autoritarismus und die Gewalt verärgerten viele Bangladeschis. Dazu kam, dass Hasina auch wirtschaftlich ihre Versprechen nicht mehr gehalten bekam. Seit der Covid-Ära ist das Wachstum deutlich zurückgegangen, stattdessen steigt die Arbeitslosigkeit und die Inflation treibt eine Lebenshaltungskostenkrise. Schrumpfende Devisenreserven deuten eine baldige Schuldenkrise an; Auslandsinvestitionen gehen zurück. Zudem wurde Hasina seit jeher zu viel Nähe zu Indien vorgeworfen. Als sie im Juni 2024 bei einem Staatsbesuch weitreichende Abkommen mit dem Nachbarn schloss, darunter Zugang zum eigenen Eisenbahnsystem bot, führte das zu Wut in ihrem Land: Sie musste öffentlich dementieren, dass sie Bangladesch “an Indien ausverkaufe”.
In diesem Sinne waren Massenproteste keine Überraschung. Wie effektiv und schnell sie Hasina davonfegten, allerdings schon. Die Premierministerin hatte immerhin zahlreiche Proteste in ihren 15 Jahren an der Macht überstanden. Gewalt, Ausgangssperren und Internetsperren halfen diesmal nicht. Wahrscheinlich ist, dass auch das Militär Druck auf Hasina machte. Tatsächlich zeigten sich in den letzten Tagen des Protests immer mehr aktive und frühere Militärs, darunter Offiziere, aufseiten der Protestler. Die Lage schien undurchsichtiger und volatiler zu werden. Armeechef Waker-Uz-Zaman habe in den letzten Tagen “höflich” erklärt, dass seine Truppen die Sicherheit der Premierministerin nicht mehr garantieren könnten, so die BBC mit Bezug auf Insider. Als die Lage immer schwieriger und die Proteste größer wurden, hätten die Spitzen der Sicherheitskräfte auf Hasinas Schwester Sheikh Rehana eingewirkt, um die Regierungschefin zum Abtritt zu bewegen. Das genügte nicht, also telefonierten auch ihr Sohn und ihre Tochter, welche beide im Ausland leben, mit ihr. Sie hätten Hasina “angefleht”, das Land zu verlassen, so ihr Sohn. Schlussendlich lenkte sie ein, unterschrieb ihren Abtritt und ließ sich per Helikopter heimlich zum Flughafen bringen.
Wie es weiter geht_
(5 Minuten Lesezeit)
Eine komplizierte Phase
Der Rücktritt Hasinas ist ein großer Erfolg für die Protestbewegung, doch die Situation in Bangladesch bleibt volatil. Noch nach ihrem Rücktritt kam es zu weiteren Ausschreitungen. Protestler setzten das Nationalmuseum, die Awami-Parteizentrale und das Haus von Hasinas Vater Sheikh Mujibur Rahman in Brand. Eine große Protestfeier im Zentrum Dhakas wurde offenbar von der Polizei attackiert, Versammlungen an Universitäten ebenso. Angreifer gingen auf Hindu-Tempel los, teilweise aus Wut über Indiens enges Verhältnis zu Hasina und der Tatsache, dass der Nachbar die Regierungschefin bei ihrer Flucht einreisen ließ; andere Menschen bildeten vor den Tempeln spontane Bürgerwachen, um sie zu beschützen.
Gut zu wissen: 8 Prozent der Bangladescher sind Hindus. Sie stehen traditionell der säkularen Awami-Liga nahe und blicken skeptisch auf die religiöse, in Teilen Islamisten-nahe BNP.
Zugleich beginnt das Weichensetzen für die neue Ära in Bangladesch. Die Proteste wurden von einer Studentenbewegung angeführt, an deren Spitze der 26-jährige Soziologiestudent Muhammad Nahid Islam steht. Er spricht davon, dass Bangladesch nicht zu “faschistischer Herrschaft” zurückkehren dürfte, was ausdrücklich auch eine Militärregierung meint. Das Militär unter General Waker-uz-Zaman hat zwar die Kontrolle übernommen, doch bislang wirkt es, als würde es sich konstruktiv verhalten. Es hat sich mit den Studentenführern, dem Präsidenten und übrigen Parteien getroffen (außer der Awami-Liga) und mehrere Forderungen der Protestler angenommen. Darunter einen schnellen demokratischen Übergang, die Freilassung von Ex-Premierministerin und BNP-Grande Zia, sowie die Einsetzung von Muhammad Yunus als Interimsregierungschef.
Gut zu wissen: Die Rolle des Militärs in der bengalischen Geschichte ist durchmischt. Es war an mehreren Putschen beteiligt, doch leitete zugleich mehrfach tatsächlich einen demokratischen Übergang ein. 2007 intervenierte es inmitten eines tiefen politischen Streits zwischen Awami-Liga und BNP, welcher das Land destabilisierte und die bevorstehende Wahl unmöglich schienen ließ. Es stützte eine technokratische Interimsregierung, welche den Weg zur demokratischen Wahl 2008 freimachte.
Banker/Blutsauger der Armen
Muhammad Yunus dürfte die bekannteste nicht-politische Persönlichkeit Bangladeschs sein, weit über die Landesgrenzen hinaus. Der 84-jährige Ökonom gründete 1983 die Grameen Bank (Bengali in etwa “Dorfbank”), welche das Feld der Mikrofinanz-Kredite revolutionierte. Sie vergibt günstige Mikrokredite an Privatpersonen, welche keine Chance auf herkömmliche Bankkredite hätten. Von den rund 9,5 Millionen Kreditnehmern 2022 waren fast 97 Prozent Frauen (PDF) und viele lebten im ländlichen Raum. Das Konzept wurde in mindestens 64 Ländern und einem Weltbank-Programm kopiert. Die Bank und ihr Gründer Yunus erhielten 2006 den Friedensnobelpreis; Yunus wird manchmal “Banker der Armen” genannt.
Yunus bewies in den späten 2000ern politische Ambitionen und erwog eine Parteigründung. Das brachte ihm den Zorn der damaligen Premierministerin Hasina ein, welche ihn als “Blutsauger der Armen” bezeichnete. Ihre Regierung entfernte ihn 2011 nominell aus Altersgründen von der Spitze der Grameen Bank, was zu Protesten führte. Im Januar 2024 wurde er wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Arbeitsrecht sowie Korruption zu sechs Monaten Haft verurteilt, dazu kommen über 100 weitere Korruptionsanklagen. “Bangladesch hat keine Politik mehr”, so ein resignierter Yunus noch im Juni, bezogen auf eine sich abzeichnende Einparteienherrschaft der Awami-Liga unter Hasina.
Den Erfolg der Proteste nannte er einen “zweiten Befreiungstag” für Bangladesch und als die Protestführer ihn anfragten, ob er eine Interimsregierung anführen wolle, konnte er “nicht Nein sagen”. In Bangladesch haben Interimsregierungen dabei eine besondere Rolle im politischen System seit 1990 inne: Vor einer Parlamentswahl wird die Regierung durch eine geschäftsführende Regierung ersetzt, welche die Wahl verwaltet. Der “Chief Adviser” (Chefberater) leitet die Interimsregierung und wird durch den Präsidenten bestimmt. Als sich BNP und Awami-Liga 2007 nicht auf einen Chief Adviser einigen konnten, kam es zu politischem Chaos und der Intervention des Militärs. Nach der Wahl 2008 schaffte Hasina das Konzept der Interimsregierung ab, womit sie 2014 und 2018 nicht einmal temporär ihre Macht abgeben musste. Nun kehrt die Institution also mit Muhammad Yunus als technokratischem Chief Adviser zurück. “Wir benötigen Beruhigung, wir benötigen eine Roadmap zu neuen Wahlen”, erklärt er seine Prioritäten.
Viele Risiken, viele Chancen
Einfach wird die Zukunft in Bangladesch nicht, selbst unter Yunus, welcher ökonomische Kompetenz und Demokratiebedürfnis bewiesen hat und dem mehrere Beobachter und Wegbegleiter Integrität zuschreiben. Die politische Landschaft bleibt zerrissen, zwischen der Awami-Liga, welche wie Hasina viel Unterstützung im Land behält, und der oppositionellen BNP, welche gestärkt aus den Vorgängen hervorgeht, ihrerseits aber für Korruption und autoritäre Tendenzen bekannt ist. Zudem weist die BNP heutzutage eine teils auffällige Nähe zu den radikalen Islamisten im Land auf. Geht es in den nächsten Tagen mit Ausschreitungen weiter und eskaliert die religiös-kulturell motivierte Gewalt gegen Hindus, könnte es die postrevolutionäre Ordnung destabilisieren. Wie sehr sich das Militär unter General Waker-Uz-Zaman in die Regierung einmischen wird, ist derzeit nicht zu beantworten, auch wenn Bangladeschs jüngste Geschichte und das Verhalten der letzten Tage Grund zu Optimismus bieten.
Zu guter Letzt wird es selbst für eine halbwegs stabile Yunus-Regierung oder eine demokratisch gewählte Folgeregierung sehr schwer werden, die hohen Erwartungen der jungen Protestler in Hinblick auf ihre Lebensstandards zu erfüllen. In hohem Maße liegt es nicht in ihrer Hand, sondern wird von globalen Leitzinsen, Kapitalströmen, Handelsdynamiken und anderen Makro-Wirtschaftsfaktoren abhängen. Geben die Bangladescher in einigen Jahren enttäuscht ihre “Revolution” auf, könnte das der Awami-Liga oder den radikaleren (islamistischen) Elementen der BNP zugutekommen. Tunesien, der einzige Erfolgsfall des “Arabischen Frühlings” 2011, ist ein Beispiel dafür: Dreizehn Jahre später wird es wieder faktisch autoritär regiert, von einem Präsidenten, welcher viel Unterstützung in der resignierten, demokratieverdrossenen Bevölkerung genießt.
Nichtsdestotrotz wirkt vorsichtiger Optimismus angebracht. Bangladesch hat eine inzwischen eindeutig autoritäre Regierung abgeschüttelt und scheint sie mit einer Technokratenregierung zu ersetzen. Ein Übergang zur Demokratie wirkt, so früh nach den Vorgängen, eher wahrscheinlich. Mit der Bekanntheit eines Muhammad Yunus an der Spitze ist das Land in guter Position, Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu verhandeln und ausländische Investitionen anzulocken. Westliche Staaten, lange verärgert über Hasina, dürften den demokratischen Übergang begleiten und belohnen wollen. China wird es auszunutzen versuchen, dass die proindische Premierministerin weg ist und ebenfalls viel investieren. Bislang lässt das Militär keinen Griff auf die Macht erkennen. Und anders als Tunesien besitzt Bangladesch tatsächlich eine gewisse demokratische Tradition und hat die Befähigung zu rasantem Wirtschaftswachstum bewiesen.
Bangladesch, das Land mit 170 Millionen Einwohnern und einer strategischen Lage in Südasien, hat seine Zukunft in der eigenen Hand. Das ist eine gute Ausgangslage. Viele Staaten gelangen nicht einmal an diesen Punkt.
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