Das 2024 Jahresreview: Politik

Die Welt im Umbruch

Beinahe willkommen im neuen Jahr! Wir haben für dich das Wichtigste aus 2024 und einen Ausblick voraus parat. Heute: Politik. Als Nächstes: Wirtschaft und Business.

Die Themen:
Wohin geht es für Deutschland? | Ein neuer Naher Osten | Kriege und Konflikte | Umbrüche weltweit

(insgesamt 25 Minuten Lesezeit)

Es ist einfach, sich in jedem beliebigen Jahr auf das Schlimmste zu konzentrieren und es als Jahr der Kriege, der Katastrophen und der Unsicherheit zu interpretieren – schließlich existiert alles davon in praktisch jedem Jahr. 2024 war allerdings in erster Linie ein Jahr des Umbruchs: Ein Scharnier, dessen Auswirkungen sich erst in der Zukunft zeigen werden. Die Karten in vielen großen Konflikten und in der globalen geopolitischen Lage wurden in den letzten 12 Monaten in hohem Maße neu gemischt; Stärkeverhältnisse umgeworfen und Allianzen auf den Prüfstand gestellt.

Auch innerhalb vieler Länder ist der Eindruck derselbe, jener von Umbruch. Weder westliche Demokratien noch autoritäre Entwicklungsstaaten waren davon verschont, dass 2024 inländisch Dinge in Gang gesetzt wurden, welche es nun in den Folgejahren zu verwalten gilt. Vielerorts wurden gänzlich neue Richtungen eingeschlagen oder alte Richtungen verworfen, ohne dass der neue Kurs bereits klar wäre.

Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass überall Chaos herrschte oder drohe. Mehrere Länder dienen als Beispiel für positive oder optimistisch stimmende Entwicklungen. Dort ist eine Chance entstanden, vormalige Krisen zu beruhigen oder zu lösen. Wir heben mindestens zwei hervor. Und viele der Länder, welche dieses Jahr medial eher unter dem Radar geblieben sind, erlebten keine Krisen und nicht einmal zwingend Umbrüche. Dieses Jahresreview konzentriert sich auf jene Länder, welche in den letzten zwölf Monaten mit gutem Grund die Schlagzeilen dominierten.

Wohin geht es für Deutschland?

(4 Minuten Lesezeit)

Vermutlich Schluss für die Ära Scholz. Quelle: Inga Kjer/ photothek/Deutscher Bundestag, flickr

Das Ende der Ampel

Das zentrale Ereignis in Deutschland war der Bruch der Ampelkoalition im November. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warf die FDP heraus, nachdem ein Streit rund um Ausgabeprioritäten und Konjunkturpläne eskaliert war. Die Liberalen hatten womöglich versucht, den Ausstieg gezielt zu lancieren; in jedem Fall war inzwischen für alle Koalitionspartner sowie Beobachter ein Bruch eine wahrscheinliche Option geworden. Nach der Auflösung des Bundestags am 16. Dezember steht nun am 23. Februar 2025 eine seltene vorgezogene Bundestagswahl bevor.

2022 musste die Ampelregierung zwischen Ukrainekrieg und Energiekrise noch Krisenmanagement betreiben. 2023 hatte sie mehr Raum, um ihre Reformvisionen umzusetzen – kämpfte zugleich aber mit einer kippenden Stimmung aufgrund hoher Inflation und hohen Migrationszahlen. Angepeitscht von einem Verfassungsgerichtsurteil, welches einen Verteilungskonflikt in der Regierung eskalierte, geriet 2024 vor allem zum Jahr des Streits. In wechselnden Konstellationen torpedierten sich SPD, Grüne und FDP gegenseitig. Legislativ brachten sie immer weniger zustande. Selbst das Rentenpaket II ist nie final durchgesetzt worden und ist nun mit dem Ampel-Aus vorläufig gescheitert. 

Neuwahl voraus

Der Wahlkampf verläuft bisher im erwartbaren Rahmen, wenn auch für deutsche Verhältnisse vielleicht etwas streitbar. Allerdings zwischen den Parteien, nicht in ihnen: Die Union hat aus 2021 gelernt und einen selbstzerstörerischen Personalkonfilkt vermieden: Der ambitionierte CSU-Chef Markus Söder und der aufstrebende NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst machten früh Platz für CDU-Chef Friedrich Merz. In der SPD sorgte die relative Beliebtheit von Verteidigungsminister Boris Pistorius und die Unbeliebtheit von Scholz für eine kurze “K-Frage”, welche mit Scholz den wahrscheinlicheren Sieger fand. Die Grünen einigten sich intern auf Realo und Vizekanzler Robert Habeck als Kandidaten, womit er vorerst vor Außenministerin Annalena Baerbock die Nummer 1 in der Partei bleibt. Bis auf ein kurzes Schisma in der Grünen Jugend hätte der Prozess für de Öffentlichkeit kaum friedlicher laufen können. 

Eine Unionsregierung ist sehr wahrscheinlich; die größte Frage bleibt, ob SPD oder Grüne beteiligt sind. Die FDP kämpft inmitten desaströser Umfragewerte um die 5-Prozent-Hürde und blickt auf eine realistische Phase in der außerparlamentarischen Opposition, wo sie womöglich der Linken – welche die Hoffnung auf einen Einzug per drei Direktmandate besitzt – Gesellschaft leistet.

AfD und BSW

Die AfD erlebte ein wechselhaftes 2024, doch gut genug, dass sie mit Alice Weidel eine Kanzlerkandidatin aufstellt. Die Partei kratzte 2023 an den 24 Prozent in den Umfragen, rutschte 2024 auf bis zu 16 Prozent ab und befindet sich nun bei knapp 19 Prozent. Nach wie vor gibt es für sie keine realistische Machtoption und auch keine Sperrminorität. In drei Landtagswahlen zeigten die Rechten aber, dass sie eine etablierte Größe in der deutschen Parteienlandschaft sind. In Thüringen wurde die AfD stärkste Kraft, in Sachsen und Brandenburg jeweils zweitstärkste. Die Koalitionsbildung um sie herum wird immer komplizierter. Auch in der Europawahl im Juni kam die AfD auf Platz 2.

Ein völlig neuer Faktor war das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Es wurde erst Anfang des Jahres gegründet, doch erzielte in den ostdeutschen Bundesländern aus dem Stand heraus 11 bis 16 Prozent und in der Europawahl immerhin 6,7 Prozent. Erste Flügelkämpfe und der Mangel an Strukturen schaffen Herausforderungen für die Partei, welche dennoch auf ein starkes Ergebnis in der Bundestagswahl hoffen kann.

Unsere Explainer:
Volt und das BSW (September 2024)

Alles nur die Migration?

Thematisch prägten zwei Themen das Jahr in Deutschland: Migration und Wirtschaft. Das “Wirtschaftsjahr” beleuchten wir in unserem morgigen Jahresreview, doch in aller Kürze: Eine schwache Konjunkturlage und das kleine “Trauma” der Inflationsphase beförderten die Wirtschaftslage zum großen Politthema, ungeachtet der Tatsache, dass Arbeitsmarkt und Reallohnwachstum robust blieben – wobei ersterer im Jahresverlauf nachzugeben schien.

Steigende Migrationszahlen sorgten derweil für Verunsicherung und einen Rechtsruck innerhalb des Themas. Wir schrieben bereits im Jahresreview 2023 vom “Megathema Migration” und unterteilten das Kapitel in “Festung Europa” und “Festung USA”. 2024 wünschten sich viele Deutsche ebenfalls eine Festung herbei. In Umfragen sprach sich ein absolutes Gros der Bevölkerung – je nach konkreter Frage meist 60 bis 80 Prozent – für eine schärfere Migrationspolitik aus. Selbst unter Unterstützern der Grünen forderten ab einem gewissen Zeitpunkt mehr Befragte Maßnahmen für weniger Asylsuchende und Flüchtlinge, als sich dagegen aussprachen. 

Eindimensionale Erklärungen sind oft tückisch, doch es ist verlockend, die Umgestaltung der politischen Landschaft in Deutschland maßgeblich mit der Migrationspolitik zu erklären. Für die AfD ist es das “Hausthema” und das BSW etablierte sich als migrationsskeptische, prorussische Variante der Linken. Die Union schwenkte früh auf eine härtere Linie um; spricht sich etwa für extraterritoriale Asylverfahren aus, in welchen Asylanträge außerhalb der EU bearbeitet würden. Und auch die Ampelkoalition versuchte eine härtere Linie zu signalisieren, kollidierte dabei aber teils mit ihren zerstrittenen Basen und bekam das Absinken der Zuwanderungszahlen – von sehr hohem Niveau – nie politisch für sich verwertet.

Gut zu wissen: In unserer Grafik über die Ergebnisse in der Sonntagsfrage weiter oben haben wir auch hervorgehoben, wann die Asylerstanträge die Marke von 20.000 pro Monat überschritten und ab wann sie sie wieder unterschritten. Das korreliert recht gut mit steigenden Werten für die AfD.

Für 2025 vermutet die whathappened-Redaktion eine gewisse Beruhigung bei den Migrationszahlen und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Themas. 2024 wurde noch immer der kräftige Zuzug 2022/23 verarbeitet, wie auch der Schock eines plötzlichen Zuzugs von rund einer Million Ukrainern – in den Asylzahlen gar nicht enthalten. Schärfere Migrationsregeln in Deutschland und Europa sorgten derweil schon 2024 für weniger irreguläre Zuwanderung. Einzelereignisse wie der Umbruch in Syrien könnten nicht nur für weniger Immigrationsdruck, sondern für Emigration sorgen. Ganz ähnlich übrigens in den USA: Ab Mitte 2024 fiel die irreguläre Migration auf ein Niveau unterhalb der letzten Trump-Jahre. Dass sich die öffentliche Wahrnehmung dieser Datenlage vermutlich unter Trump manifestieren wird, ist ein großes Geschenk für den neuen Präsidenten. Ähnlich dürfte es der neuen deutschen Regierung ergehen.

Explainer zu Migration:
Worum es in der US-Wahl geht: Migration (Oktober 2024)
Europa redet wieder über Migration (September 2023)

Ein neuer Naher Osten

(6 Minuten Lesezeit)

Israelische Soldaten vor der Invasion des Gazastreifens. Quelle: IDF Spokesperson’s Unit, wikimedia

Der Israel-Hamas-Krieg

Einen “Sieg” im Krieg zwischen Israel und der Hamas zu verkünden wäre zwar verfrüht, doch in den letzten 12 Monaten kam Jerusalem in hohem Maße an eine gangbare Siegesdefinition heran. Die israelische Armee zerrüttete die Strukturen der Hamas im Gazastreifen, tötete ihre Führungsriege und etablierte eine unvollständige, doch weitreichende militärische Kontrolle über die Region.

Danach sah es nicht die ganze Zeit aus. Bis Mitte des Jahres schien die israelische Invasion verfahren. Die Hamas operierte ungebrochen in Gaza und behielt vielerorts die Kontrolle; die Führung schien weitestgehend intakt und am Leben. Rasant steigende Opferzahlen unter den Gaza-Palästinensern – Stand heute laut Hamas-Behörden rund 46.000 – setzten Israel international unter Druck und kosteten es viel Zuspruch. Selbst das Verhältnis mit den verbündeten USA litt, insbesondere nachdem Jerusalem eine “rote Linie” überschritt und in die südliche Stadt Rafah vorrückte. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) und der Internationale Gerichtshof (ICJ) ermittelten gegen Israel; ersterer stellte im November einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu aus. Und da die Befreiung israelischer Geiseln kaum vorankam, wuchs auch der Druck zuhause spürbar.

Etwa ab Juli begann sich das Blatt zu wenden. Die Tötung des politischen Anführers der Hamas, Ismail Haniyeh, in Teheran war noch von fraglicher strategischer Bedeutung. Jene der militärischen Anführer Mohammed Deif (bis heute nicht final bestätigt) und Yahya Sinwar (bestätigt) waren dagegen fraglos ein Erfolg für Israel und ein Rückschlag für die Kampfstärke der Hamas. Die Miliz ist zwar keineswegs zerschlagen, doch dass sie zerrüttet ist wird auch dadurch gezeigt, dass sie von zentralen Forderungen für eine Waffenruhe abrückt: Plötzlich ist es keine Bedingung mehr, dass Israel sämtliche Truppen aus dem Gazastreifen abzieht. Eine baldige Kampfpause wirkt dadurch wahrscheinlicher denn je.

Wie und wann genau der Gazakrieg enden wird, ist noch unklar. Es gibt jedoch Indizien, dass er nicht zu einem “Forever War” geraten wird. Stattdessen scheint es jetzt, dass er mit etwas enden könnte, dass den israelischen Vorstellungen rund um eine dezimierte Hamas und israelische Sicherheitskontrolle am ehesten ähnelt. Schon 2025 könnte so weit sein. Dann könnte sich der Blick auch langsam auf den jahrzehntelangen Wiederaufbau Gazas richten, in welchem laut zwei US-Forschern 60 Prozent aller Gebäude in der israelischen Invasion zerstört worden sind.

Explainer zum Israel-Palästina-Konflikt
Israel und Palästina (Oktober 2023)
Israel und die Hamas im Krieg (Oktober 2023)
Was ist Genozid? (November 2023)
Die Optionen für Frieden in Nahost (Dezember 2023)
Wie steht es um die Hamas? (2024)

Israel, der Libanon und Iran

Hisbollah-Unterstützer bei einer Rede des später getöteten Milizenchefs Hassan Nasrallah im November 2023. Quelle: Fars Media Corporation, wikimedia

Für Israel machte sich zudem eine zweite Front auf: Schon unmittelbar nach der Attacke der Hamas am 7. Oktober 2023 eröffnete auch die Hisbollah im Libanon das Feuer auf Israel, um die Hamas inmitten israelischer Luftschläge und später der Invasion zu unterstützen. Damit eskalierte die Hisbollah einen niedrigschwelligen Grenzkrieg, welcher seit Jahrzehnten gelaufen war. Auch diese Eskalation blieb lange Zeit allerdings eher verhalten. Sie zwang zwar Hunderttausende Israelis und Libanesen auf beiden Seiten der Grenze zur Flucht, doch ein großflächiger Krieg zeichnete sich nicht ab. Bis Mitte 2024.

Israel erhöhte spürbar die Angriffsintensität gegen die Hisbollah. Vermutlich sah das Land eine Gelegenheit, um den Feind im Norden maßgeblich zu schwächen. Israelischen Angaben zufolge habe die Hisbollah zudem ihren eigenen “7. Oktober” geplant. Israel intensivierte die Luft- und Artillerieangriffe und attackierte gezielt Führungspersonal. Für Aufsehen sorgte die “Pager-Attacke“, bei welcher Israel in einer wohl jahrelangen Geheimdienstoperation mit Sprengstoff präparierte Pager und Funkgeräte in den Reihen der Hisbollah platziert hatte. Beirut, vor allem das reiche Stadtviertel, in welchem die Hisbollah sich festgesetzt hatte, gerieten zum Kriegsgebiet. Der Höhepunkt war Ende September erreicht, als Israel mit heftigen bunkerbrechenden Bomben den Milizenchef Hassan Nasrallah tötete und eine geringfügige Invasion des Südlibanons begann. Ende November wurde dann eine Waffenruhe beschlossen, welche noch bis Ende Januar laufen soll.

Selbst Iran wurde ungewöhnlich stark in den Konflikt hineingezogen. Teheran übt viel Einfluss auf Hisbollah und Hamas aus und steuert mindestens erstere in relevantem Maße. Mit Israel herrschte seit Jahrzehnten ein “Schattenkrieg”, in welchem Iran über besagte Proxymilizen und Israel über Geheimdienst- und Cyberoperationen agierten. Eine direkte offene Konfrontation gab es dagegen noch nie. 2024 änderte sich das gleich zwei Mal: Im April vergalt Iran einen Angriff auf seine Botschaft in Damaskus mit einem Luftbombardement gegen Israel. Und im Oktober reagierte es mit einem erneuten Bombardement auf die israelische Zerrüttung der Hisbollah-Führung. Beide Attacken beförderten den Schattenkrieg aus dem Schatten heraus, waren insgesamt aber limitiert – vermutlich ein Ausdruck der Unsicherheit Irans, wie viel Eskalation es sich tatsächlich leisten konnte. Auch Israels Reaktion auf die Bombardements war eher symbolischer Natur. Wahlweise, weil Jerusalem ebenfalls kein Interesse an noch mehr Eskalation hatte oder weil ausländische Partner erfolgreich eingewirkt hatten.

Explainer zum Nahen Osten generell
Der Jemen und die Houthis (Januar 2024)
Der Nahe Osten tut, was der Nahe Osten immer tut (Januar 2024 – zweiter Artikel)
Der Islamische Staat und Russland (März 2024)
Weniger Schatten zwischen Iran und Israel (April 2024 – zweiter Artikel)
Saudi-Arabien, Iran und der Deal (März 2023)
Die Wagner-Gruppe (Juni 2022)

Syrien

Syriens neuer Machthaber: Ahmed al-Sharaa. Quelle: Amrmilno, wikimedia

Der syrische Bürgerkrieg war dermaßen stark vom öffentlichen Radar im Westen verschwunden, dass sich viele Beobachter gefragt haben dürften, ob er überhaupt noch läuft. Im November bekamen sie ihre Antwort. Binnen zwei Wochen schafften es Rebellengruppen rund um die Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die Assad-Regierung zu zerschlagen und den langjährigen Autokraten aus dem Land zu treiben. Nach 13 Jahren Bürgerkrieg hatte es keine 13 Tage gedauert, bis die Ära Assad schlagartig zu Ende war.

Unser Explainer zu Syrien, welcher wortwörtlich eine Stunde vor Versand noch um die Flucht Assads ergänzt werden musste, erklärt die Hintergründe. Darunter, dass die plötzliche Entwicklung in Syrien direkt mit den Vorgängen in der Region zusammenhing. Die Schwächung Irans und der Hisbollah durch Israel – sowie Russlands Abgelenktheit in der Ukraine – schufen eine Gelegenheit für die Rebellen und eine kritische Schwäche für Assad.

Nun achten Beobachter vor allem darauf, wie die HTS um Anführer Ahmed al-Sharaa das neue Syrien gestalten wird. Die Gruppe verspricht Pluralismus, Freiheits- sowie Minderheitenrechte und eine friedliche Außenpolitik. Sie sagt all die richtigen Sachen für ein Publikum im Westen: Mit Israel werde ein friedliches Zusammenleben gewünscht; dessen Skepsis über die neuen Herrscher in Damaskus sei nachvollziehbar. Islamistische Vandalen aus den Reihen der Rebellen, welche christliche Weihnachtsbäume zerstört hatten, würden verfolgt und die Weihnachtsbäume ersetzt werden. Christliche Gottesdienste durften wieder starten. Al-Sharaa selbst wandert von Interview zu Interview, immer öfter im Anzug und nicht in Milizenuniform.

Skeptiker sind nicht überzeugt. Sie betonen, dass die HTS aus al-Qaida hervorging. Sie mag sich zwar nicht mehr mit der Terrorgruppe assoziieren, doch die islamistische Tradition ließe sich nicht schlagartig ablegen. Über gewisse Dinge, etwa das exakte Maß an Frauenrechten, äußern sich die neuen Machthaber auffällig zurückhaltend. Und ironischerweise war auch Assad einst der telegene Darling der westlichen Medien, bevor er zum verhassten Diktator geriet. Klar ist, dass selbst wenn al-Sharaa eine moderate Vision für Syrien verfolgt, er diese gegen Hardliner-Fraktionen in seinen Reihen verteidigen muss.

Dazu kommt, dass Syrien den Wechsel vom Bürgerkriegs- zum Alltagsmodus schaffen muss. Eine hohe Zahl von Milizen müssen entwaffnet und regularisiert werden. Der Umgang mit der regulären Armee und mit Assad-treuen Institutionen muss gefunden werden. Dann bleibt da die “Kurdenfrage”: Die Kurden rund um die Miliz SDF haben im Nordosten ein eigenes staatsähnliches Gebilde namens Rojava gebildet und dürften wenig Interesse daran haben, ihre Autonomie wieder aufzugeben – insbesondere, da der Erzfeind Türkei einer der größten Unterstützer der HTS ist und eine andere große Miliz namens SNA weitestgehend kontrolliert.

2025 wird für Syrien somit das Jahr, in welchem sich entscheidet, ob der Bürgerkrieg zu Ende geht – oder lediglich in eine neue Phase.

Syriens Opposition hat gesiegt (Dezember 2024)

Konflikte in aller Welt

(5,5 Minuten Lesezeit)

Quelle: Ukrainisches Verteidigungsministerium, wikimedia

Die Ukraine

Die Ukraine existiert weiterhin, doch von einem militärischen Sieg ist kaum noch die Rede. Russland besaß 2024 die Initiative, fast durchgehend. Sehr langsam – aber im Kontext des Ukrainekriegs gar nicht sonderlich langsam – drückte es die Ukrainer im Donbass zurück. Unter offenbar hohen materiellen und personellen Kosten eroberte es kleine Orte und verbesserte seine strategische Situation.

Ein Achtungserfolg für die Ukraine war die handstreichartige Eroberung von Teilen der russischen Oblast Kursk. Es war eine gewagte, hochriskante Operation im Stile der Charkiw-Überraschungsoffensive 2022 und brachte den Krieg erstmals auf russisches Territorium. Für Kiew bedeutete sie neben einem Motivationsschub, wichtiger PR und weniger Beschuss aufs eigene Hinterland auch eine bessere Ausgangslage für mögliche Verhandlungen.

Der Wahlsieg von Donald Trump in den USA verändert die Situation in der Ukraine – nur wie, das ist noch unklar. Verhandlungen wirken wahrscheinlicher und werden in der ukrainischen Bevölkerung auch erstmals von einer Mehrheit akzeptiert. Die Regierung in Kiew deutete an, zu territorialen Konzessionen bereit zu sein. Viel einfacher macht es das nicht: Der Verhandlungsraum zwischen den Sicherheitsgarantien, welche die Ukraine einfordern müsste, und den maximalistischen Forderungen, welche Russland stellt, ist schmal.

Einen besonderen Geschmack erhielt der Ukrainekrieg durch den Kriegseintritt Nordkoreas, welches Russland mit einigen Tausend Soldaten an der Front unterstützt. Der Ukrainekrieg war schon vorher internationalisiert, mit westlichem Kriegsgerät in der Ukraine und iranischem Kriegsgerät sowie viel chinesischem Rückhalt in Russland. Doch der Eintritt offizieller ausländischer Truppen ist eine neue Qualität.

2025 wird damit zum Jahr des Scheidewegs in der Ukraine. Womöglich geben die USA das Land auf. Womöglich gibt es eine Verhandlungslösung. Oder der Krieg intensiviert sich mit noch mehr ausländischer Beteiligung. Es dürfte auch das Jahr sein, in welchem die Schmerzen auf die kriegserschütterte ukrainische Wirtschaft und die sanktionierte, überhitzte russische Wirtschaft nicht mehr zu ignorieren sein werden – und sich andeutet, welches Land den längeren Atem besitzt.

Putins Russland verabschiedet sich aus der Zivilisation
 (Februar 2022)
Dieser Krieg wird noch lange dauern – und der Westen muss bereit sein (September 2022)

Wagner-Aufstand: Die Geister, die du riefst (Juni 2023)
ATACMS, HIMARS und Co.: Die Waffen des Ukrainekriegs (September 2023)

Der Russland-NATO-Schattenkrieg

Eine deutsche Fregatte in der Ostsee, 2020. Quelle: Defense Visual Information Distribution Service, picryl

2024 war das Jahr, in welchem der Konflikt zwischen Russland und der NATO immer greifbarer wurde. Eine Vielzahl von Sabotage- und Spionageaktivitäten fand in europäischen NATO-Staaten statt, welche sich durchaus als Salven in einem “grauen” Konflikt lesen ließen – also vermutlich unterhalb der Kriegsschwelle, aber offen mit ebendieser Unsicherheit spielend. Darunter waren zerstörte Internet- und Kommunikationskabel in der Ostsee, auffällig viele Brandattacken auf Einrichtungen und Logistiknetze in Europa (darunter solche mit klarem Bezug zu Ukrainehilfen); ein mutmaßlicher Anschlagsversuch auf Rheinmetall-CEO Armin Papperger; und die Desinformation- und Einflusskampagnen, welche Russland kaum verhohlen seit mindestens acht Jahren betreibt.

Die Reaktion Europas fällt durchmischt aus. Vor allem in Ost- und Nordeuropa wird die Lage als dringend wahrgenommen. “Wir sind einfach zu höflich”, so etwa Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen, “obwohl sie uns jeden Tag angreifen”. Und der litauische Ex-Außenminister Gabrielius Landsbergis störte sich am Begriff “hybride Kriegsführung”: Solange man die russischen Aktionen so bezeichne, müsse man nichts tun. “Wenn du es Terrorismus nennst, impliziert das eine Reaktion”. Und Schweden erwägt, Artikel 4 der NATO zu ziehen: Noch nicht der Verteidigungsfall von Artikel 5, aber eine Aufforderung, sich gemeinsam zu beraten, weil ein Mitgliedsland seine “territoriale Integrität, Unabhängigkeit oder Sicherheit” bedroht sieht. Andere Länder, darunter Deutschland, schrecken derweil vor allzu harschen Reaktionen und selbst allzu harscher Rhetorik zurück, auch wenn sich auch dort der Maßstab allmählich verändert

2025 wird damit das Jahr, in welchem der Russland-NATO-Schattenkrieg ein neues Gesicht annehmen könnte. Es ist wahrscheinlich, dass er sich weiter intensiviert: Mehr russische Operationen, vielleicht verwegenere und gefährlichere; womöglich mehr Reaktion durch die NATO, zum Beispiel durch eine Marinemission in der Ostsee. Das prorussische Ungarn und die neutrale Türkei könnten ein entschiedenes Vorgehen des Militärbunds allerdings erschweren. 

Explainer zu Europas Verteidigung:
NATO: Vom Gehirntod zur Wiedergeburt
 (Februar2022)
Die kritische Infrastruktur in Deutschland und Europa (Oktober 2022)
Die Herausforderungen der EU (Juni 2024)
Wie es um Europas Verteidigungsfähigkeit steht (November 2024)

Haiti

Port-au-Prince. Quelle: Siri B.L, flickr

Der Bandenkrieg in Haiti hat weniger mit einer Verbrechenswelle als mit einem bewaffneten Konflikt im Stile eines Bürgerkriegs zu tun. Bandengewalt existierte in Haiti zwar seit jeher, doch Anfang des Jahres eskalierte die Lage. Mehrere Banden hatten sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen und gingen gegen die Sicherheitskräfte und andere Banden vor. Binnen weniger Wochen kontrollierten sie 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince. Premier Ariel Henry konnte nach einer Auslandsreise nicht ins Land zurückkehren und musste abdanken; ein Übergangsrat übernahm.

Die Lage in Haiti bleibt bis heute prekär. Die Gewalt zwischen den Banden scheint zwar deutlich zurückgegangen zu sein, doch Angriffe auf staatliche Institutionen finden bis heute statt. Nach wie vor sind knapp vier Fünftel der Stadt in der Hand der Banden, welche immer stärker in wohlhabende Gebiete vordringen. Eine internationale Polizeimission unter Leitung Kenias befindet sich zwar im Land, doch konnte die Lage höchstens etwas lindern, aber nicht ernsthaft stabilisieren. Um diese Mission wird derweil auf Staatenebene gefeilscht: Kenia, die USA und weitere wollen sie zu einer UN-Friedensmission befördern; Russland und China blockieren das.

Haiti im Zerfall (März 2024)

Sudan und Myanmar

Die Lage im Sudan. Rot: Sudanesische Armee (SAF). Grün: Rapid Support Forces (RSF). Weitere Farben: Kleinere Milizen. Quelle: ElijahPepe, wikimedia

Ein schneller Überblick über zwei bewaffnete Konflikte, welche zwar weiter liefen, aber medial nie so recht die volle Aufmerksamkeit erfuhren:

  • Der Krieg im Sudan ist womöglich die derzeit größte humanitäre Katastrophe weltweit. Die diffuse Lage und die Verschwiegenheit beider Kriegsparteien erschwert eine Einschätzung über die Zahl der Toten und Vertriebenen sowie die Lage vor Ort. Klar ist, dass die militärischen Entwicklungen im zweiten Jahr des Bürgerkriegs eher inkrementell waren: Die Armee (SAF) konnte ein wenig Gebiet rund um die Hauptstadt Khartum wettmachen und bleibt im Osten konsolidiert; die Rapid Support Forces (RSF) übernahmen Territorium im wichtigen “Brotkorb” Gezira sowie im westlichen Darfur. Dort harrt mit der Großstadt Al-Fasher eine letzte Bastion der SAF aus. Geht die RSF zum Sturm über, wie sie einige Male angedeutet hatte, könnte das den humanitären Tiefpunkt des Bürgerkriegs darstellen. 

    Ein Ende des Krieges zeichnet sich nicht ab. Ein militärischer Durchbruch ist nicht zu erkennen; Verhandlungswillen der beiden Seiten ebenso wenig. Mit der Einmischung Russlands, Libyens, Tschads und der VAE (aufseiten der RSF) sowie Irans und womöglich Ägyptens (aufseiten der SAF) erhalten die Parteien zudem Ausdauer von außen.
  • Myanmars großflächiger Bürgerkrieg läuft seit Anfang 2021. Das abgelaufene Jahr war vor allem für die Rebellen erfreulich; ein loser Verbund aus zahlreichen kampferprobten ethnischen Milizen und einer neuen prodemokratischen Fraktion. Die Junta verlor wichtiges Territorium an den Grenzen zu China, Indien und Bangladesch. Der Druck auf die Generäle steigt, was sich inzwischen auch in der Moral der Armee und der Junta-Unterstützer in der Bevölkerung zeigt. 2025 könnte entscheidend werden.

Explainer zu Sudan und Myanmar:
Sudan am Scheideweg (November 2021)
Die Stunde Null des Sudan (April 2024)

Myanmar nähert sich dem Kipppunkt (Dezember 2023)
Myanmars Tanz zwischen Diktatur und Demokratie (Februar 2021)
Das Militär richtet das Land zugrunde (April 2021)
Kein Ende in Sicht (Januar 2023)

Umbrüche weltweit: Wahlen, Proteste und Revolutionen

(10 Minuten Lesezeit)

USA

Die USA wählten 2024 eine Rückkehr zur Ära Trump. Er siegte gegen Vizepräsidentin Kamala Harris; zwar knapper, als es medial durchklang, aber entlang fast aller Demografien mit mehr Rückhalt als noch 2020. Dem ging ein tumultreicher Wahlkampf zuvor: Nach Sorgen über den Gesundheitszustand von Präsident Joe Biden trat dieser ungewöhnlich spät aus dem Wahlkampf zurück. Harris versammelte ihre Partei schnell hinter sich und vermied einen innerparteilichen Wettkampf. Anderthalb Attentatsversuche auf Donald Trump fanden statt. Der Unternehmer Elon Musk wurde zum lautstärksten Wahlkämpfer Trumps und scheint nun ein noch nicht so recht einschätzbares Machtzentrum neben dem President-elect aufgebaut zu haben. 2025 wird viele Antworten darüber liefern, wie es mit den USA unter Trump #2 weitergeht.

Europa

Frankreich

Frankreich wählte im Juni sein Parlament und realisierte schnell, dass es damit nicht weit kommt. Ein von Linkspopulisten dominiertes Linksbündnis und der rechtspopulistische Rassemblement National (RN) legten stark zu und teilten das Parlament mit den Liberalen in drei ähnliche Teile. Die Regierungsbildung war damit von Anfang an komplex. Präsident Emmanuel Macron, welcher die Wahl nach dem starken Europawahl-Ergebnis des RN frühzeitig ausgerufen hatte, ernannte Michel Barnier zum Premier. Der frühere Brexit-Chefverhandler versuchte es einige Monate lang, doch scheiterte daran, einen für zumindest für zwei von drei Seiten gangbaren Haushalt zu finden. Nun darf Francois Bayrou seine Hand als Premier versuchen. Womöglich steht Frankreich 2025 schon vor der nächsten Wahl.

Rumänien

Als Rumänien am 25. November auf die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahl blickte, saß der Schock tief. Der Rechtskandidat Calin Georgescu war auf den ersten Platz gelangt, obwohl er vorher im Land kaum bekannt gewesen und selbst in den allermeisten Umfragen nur unter “Sonstige” geführt worden war. Rumänische Behörden berichteten, dass ein ausländischer Staat – gemeint war recht offensichtlich Russland – sich erfolgreich eingemischt habe. Dafür sei auch TikTok eingesetzt worden. Das Verfassungsgericht stimmte zumindest zu, dass Georgescu gegen Wahlkampffinanzierungsgesetze verstoßen hatte und annullierte die Wahl – ein drastischer Schritt. Er verschiebt die Antwort darüber, wie es in Rumänien weiter geht, auf 2025. Die Regierung wird derweil von einer proeuropäischen Koalition gebildet, denn am 1. Dezember fanden parallel Parlamentswahlen statt. 

Georgien

Gehört Georgien überhaupt ins Unterkapitel “Europa”? Das war gewissermaßen auch die Frage im Jahr 2024. Georgien hielt Ende Oktober eine Parlamentswahl ab, welche offiziell durch die Regierungspartei Georgischer Traum gewonnen wurde. Wahlbeobachter, Umfrageninstitute und die Opposition kritisieren das Ergebnis allerdings als manipuliert und statistische Unmöglichkeit. Tatsächlich agiert Georgischer Traum zunehmend autoritär und prorussisch, was sich im Jahresverlauf 2024 so deutlich wie noch nie zeigte.

In Georgien herrscht viel Rückhalt für einen Westruck und einen perspektivischen Beitritt zur EU, wohingegen Russland von vielen Georgiern mit Skepsis betrachtet wird. Kein Wunder, führte das Land 2008 doch eine Invasion durch und spaltete Abchasien sowie Südossetien als pseudounabhängige Gebiete ab. Deswegen war Georgischer Traum jahrelang etwas subtiler prorussisch und schien einen Balanceakt zwischen den eigenen Loyalitäten und der Befindlichkeit in der Bevölkerung zu üben.

Womöglich war es die sich abzeichnende Gefahr, die Parlamentswahlen zu verlieren, welche die Partei zum Einlenken bewegte. Schon im Jahresverlauf hatte sie zwei durch Russland inspirierte Gesetze auf den Weg gebracht, eines gegen “LGBT-Propaganda” und eines gegen “ausländische Agenten”, was viele missliebige Medien und Organisationen meinen konnte. Bereits dagegen hatte es Massenproteste gegeben, auf welche die Regierung erst mit Konzessionen reagierte, sie letzten Endes aber einfach aussaß.

Auch die Massenproteste nach der Parlamentswahl scheinen Georgischer Traum nicht zu schrecken. Die Partei marschiert in ihrer Umgestaltung des Landes voran und hat zwischen Parlament, Regierung, Präsidentschaft, Wahlbehörde und Verfassungsgericht praktisch alle staatlichen Institutionen in ihrer Kontrolle. Da eine bedeutungsvolle Intervention der EU oder der USA unwahrscheinlich ist, kommt es nun nur darauf an, wie sehr die Protestler zur Eskalation bereit sind – und wo die Loyalitäten des Militärs liegen. 2025 wird für Georgien das Jahr, in welchem es endgültig (und ungeachtet der Invasion 2008) in den russischen Orbit rutscht, einen großen Sieg des prowestlichen Lagers erlebt oder im Chaos versinkt. Option 1 ist am wahrscheinlichsten.

Russland

Für Russland würde die whathappened-Redaktion von ihrem “Jahresmotto” abweichen: Es war kein Jahr des Umbruches, sondern eher der Verfestigung der Umbrüche der vergangenen Jahre. Russland wurde 2024 noch autoritärer, paranoider und kriegerischer. Sei es der Umbau des Landes zu einer Kriegswirtschaft oder die ersten Urteile im Zusammenhang mit einem Gesetz gegen die als extremistisch deklarierte “LGBT-Bewegung”. Die Zahl der Verurteilungen aufgrund von Staatsverrat hat sich in der ersten Jahreshälfte 2024 gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdreifacht; jene der Verurteilungen wegen Spionage sogar verneunfacht, wie russische Oppositionsmedien berichten. Eine 21-jährige Russin muss etwa 9 Jahre in Haft, weil sie umgerechnet 27 EUR an die ukrainische Armee gespendet hatte. Die Zahl mysteriös verstorbener prominenter Russen wächst stetig.

Am besten wurde das neue Russland allerdings durch den Tod Alexei Nawalnys zu Beginn des Jahres verdeutlicht. Seine Todesursache bleibt ungeklärt, doch sollten die russischen Behörden ihn nicht aktiv getötet haben, so nahmen sie seinen Tod wissentlich in Kauf. Das Ende des prominentesten Oppositionellen steht symbolisch für die Auslöschung der gesamten russischen Opposition, welche nur noch relativ ineffektiv im Ausland existiert, im Inland aber effektiv zerschlagen ist. Alles was bleibt ist eine “systemimmanente” Opposition, welche vom Kreml also geduldet wird und rein kosmetisch ist; sowie ein ultranationaler Flügel, welchem der Kurs des Kremls noch zu vorsichtig ist, der sich aber auch nicht aktiv gegen ihn richtet.

Passend zu Nawalnys Tod sorgte Anfang August ein großer Gefangenenaustausch für Aufsehen, genauer der größte zwischen Russland und dem Westen aller Zeiten. Die whathappened-Redaktion nahm ihn für einen Explainer zum Anlass. Ungewöhnlicherweise waren unter den aus Russland befreiten Menschen nicht nur westliche Bürger wie US-Journalist Evan Gershkovich und mehrere Deutsche, sondern auch eine Reihe russischer Dissidenten. Es handelte sich damit in bester Kalter-Krieg-Manier um eine sehr seltene Evakuierung ausländischer Dissidenten im Rahmen eines Gefangenenaustauschs. Der “Kostenpunkt” war die Freilassung mehrerer russischer Spione sowie des Attentäters Vadim Krasikov, welchen Putin herzlich in Moskau empfing.

Asien

Bangladesch

In Bangladesch mit seinen 175 Millionen Einwohnern brachen im Juni schwere Proteste aus, anfangs getrieben von Studenten, dann auf die gesamte Bevölkerung erstreckt. Die Sicherheitskräfte reagierten robust, doch bis August verloren sie die Kontrolle. Premierministerin Sheikh Hasina floh ins Nachbarland Indien und überließ Bangladesch den Protestlern sowie der Armee. Und seitdem scheint alles… ziemlich gut gelaufen zu sein.

Bangladeschs Militär bekannte sich früh zu einem demokratischen Übergang und der Zusammenarbeit mit den Protestlern. Diese verlangten, dass der renommierte Ökonom Mohammed Yunus Interimspremier einer Technokratenregierung wird und auch darauf ließ sich das Militär ein. Seitdem gestaltet Bangladesch seinen politischen Übergang und räumt mit der 15-jährigen Ära Hasina auf, welche zunehmenden Autoritarismus, brutales Vorgehen gegen politische Gegner und viel Korruption bedeutet hatte (zumindest zu Beginn aber auch rasante Wirtschaftsentwicklung).

In den ersten sechs Monaten seit der Revolution ging es vor allem um die Stabilisierung des Landes. Und das scheint gelungen zu sein. Öffentliche Dienstleistungen und Institutionen operieren wieder, darunter auch die Polizei. Die Wirtschaft befindet sich nicht mehr im freien Fall. Damit kann als nächstes der demokratische Übergang stattfinden: Die Frage, wann Wahlen stattfinden können und unter welchen Bedingungen.

Die Herausforderungen für Bangladesch bleiben groß: Yunus regiert ohne verfassungsrechtliche Legitimation und nur auf Basis seines populären Rückhalts, welcher aus vielen Gründen schwinden könnte – etwa der nach wie vor schwierigen Wirtschaftslage. Wie mit Hasinas Partei, der Awami-Liga, umgegangen werden soll, spaltet das Land. Geht derweil die religiös-konservative Oppositionspartei BNP aus der nächsten Wahl als Siegerin hervor, wäre das für viele Bangladescher einfach nur eine Fortführung des ehemaligen Duopols, nur diesmal mit umgedrehten Vorzeichen.

Nichtsdestotrotz: Für die meisten westlichen Beobachter dürfte Bangladesch das klare Land des Jahres 2024 sein. Eine erfolgreiche, verhältnismäßig gewaltarme Revolution und ein bisher friedlicher, stabiler Übergang, welcher Demokratisierung wahrscheinlich wirken lässt – das ist woran viele andere Länder in unserem Jahresreview gescheitert sind oder worauf sie 2025 hoffen.

Bangladesch wagt den Neuanfang (August 2024)

Südkorea

Ein irritierender Moment in Südkorea Anfang Dezember: Präsident Yoon Suk-yeol rief das Kriegsrecht aus und ließ das Parlament besetzen. Es sah alles nach einem Selbstputschversuch des unbeliebten Präsidenten aus. Die gesamte Parteienpolitik – inklusive Yoons konservativer Partei (PPP) – stellte sich gegen den Vorgang; das Militär war offenbar überrumpelt. Massenproteste brachen aus. Binnen etwa 6 Stunden war das Kriegsrecht wieder beendet. Yoon entschuldigte sich und seine PPP scharte sich kurzzeitig um ihn, doch bis Mitte Dezember war er per Misstrauensvotum abgesetzt.

Südkorea hat Erfahrungen mit Militärdiktaturen, zumindest vor 1987. Die Parteienpolitik des Landes gilt als hochintensiv und streitbar. Der Selbstputschversuch war dennoch unerwartet und drohte eine von drei stabilen Demokratien in Ostasien auszuschalten. Stattdessen ließ sich der Vorgang am Ende als Bestätigung der Stärke der südkoreanischen Demokratie lesen. Für Südkorea ist das zwar ein Trost, verändert aber nichts daran, dass das Land die Krise nun aufarbeiten muss. Ein Anfang wäre es, zu entscheiden, wer die Regierung übernimmt: Auch Übergangspräsident Han Duck-soo wurde Ende Dezember per Misstrauensvotum abgesetzt, da er Untersuchungen gegen Yoon und die Ernennung neuer Verfassungsrichter blockierte. Südkorea steht ein schwieriges 2025 bevor, doch wenn es Glück hat, bleibt die zweite Hälfte ruhiger.

Honorable Mentions

  • Taiwan hatte bereits im Januar gewählt. Die chinaskeptische DPP setzte sich durch und stellt weiterhin den Präsidenten. Legislativ ist sie allerdings von einer relativ jungen Drittpartei abhängig, der TPP, welche einen Mittelweg zwischen DPP und der chinafreundlicheren Kuonmintang bildet.
  • Indonesien hat sich für Kontinuität entschieden. Ex-General Prabowo Subianto wurde im Februar als Präsident gewählt. Wie schon Joko Widodo wird er den Fokus auf die rasche Entwicklung der Inselnation fortsetzen, deutet aber auch an, Indonesiens diplomatische Rolle in der Welt ausbauen zu wollen.
  • Die Wahl in Indien im Frühjahr sollte eigentlich zum großen Sieg von Narendra Modi und seiner hindunationalistischen BJP geraten. Stattdessen schnitt die BJP überraschend schlecht und das Oppositionsbündnis INDIA unerwartet gut ab. Für Indien bedeutete das die Rückkehr der nationalen Parteienpolitik, auch wenn Modi weiter im Amt blieb.

Lateinamerika

Ecuador

Die kleine Andenrepublik katapultierte sich Anfang des Jahres in die Schlagzeilen, da ein Bandenkrieg eskalierte. Es waren zwar nicht ganz haitianische Verhältnisse, doch ähnelte in unangenehmem Maße dem, was Mexiko oder einst Kolumbien erlebten. Der neue Präsident wählte eine strenge Linie und schien sich durch El Salvador inspirieren zu lassen, wo Präsident Nayib Bukele zwar autoritär regiert, doch die Bandengewalt mit harter Hand tatsächlich reduziert bekommen hat. In Ecuador ist weder der Autoritarismus noch der Fortschritt gegen die Gewalt gleich weit: Bandengewalt bleibt an der Tagesordnung und beherrscht das Leben zahlreicher Ecuadorianer.

Venezuela

Venezuela hielt Ende Juli Wahlen ab. Dass diese fair verlaufen würden, schien von Anfang an wenig aussichtsreich: Die Maduro-Regierung ist dermaßen unbeliebt, dass sie kein faires Votum überstehen würde. Kein Wunder, immerhin hat sie 10 Jahre an wirtschaftlichem Verfall vorzuweisen, welche sich auch nicht durch einen Verweis auf amerikanische Sanktionen ernsthaft erklären lassen, wie unser Explainer bereits 2022 aufzeigte.

Es kam, wie erwartet. Die von der Regierung kontrollierte Wahlbehörde verlautbarte den Sieg Maduros. Die Opposition hielt dagegen, dass sie genügend Abdrücke der Wahlstimmen in Besitz gebracht hatte (eigentlich sollte sie darauf per Verfassung ohnehin Zugriff haben, doch die Wahlbehörde kam der Aufforderung einfach nicht nach), um zu zeigen, dass ein Maduro-Sieg mathematisch gar nicht möglich sei. Also erkannte die Opposition das Ergebnis nicht an, erklärte sich selbst zum Sieger und organisierte Massenproteste.

Die Realität in Venezuela ist allerdings, dass viel “Protestpotenzial” in den letzten 10 Jahren ausgewandert ist. Venezuela stellt eine der größten Flüchtlingskrisen der Welt und die einzige in den Top 10, welche mit keinem Krieg oder Bürgerkrieg zu tun hat. Die Regierung hat das Land damit gewissermaßen auf ein durch Gewalt verwaltbares Niveau herabgewirtschaftet. Solange die Maduro-Regierung grundsätzlich die Loyalität der Sicherheitskräfte und der Armee behält, ist ihr Machterhalt wahrscheinlich – zumindest, insofern auch der Druck aus dem Ausland moderat bleibt.

Dinge können sich schnell verändern und plötzliche Umbrüche geschehen unerwartet, nur um dann im Nachhinein als unausweichlich verklärt zu werden. Ob die Maduro-Regierung 2025 überlebt, ist also nicht gesichert. Es gibt derzeit allerdings keine Anzeichen, dass sie es nicht tun wird. Abgesehen von einer desaströsen Wirtschafts- und Versorgungslage, einer tiefen Unbeliebtheit und Feindseligkeit durch gewisse Nachbarn sowie die USA – doch alles davon ist bereits seit zehn Jahren der Fall.

Venezuelas Fiasko und das kleine Comeback (Juni 2022

Honorable Mentions

  • Mexiko wählte mit Claudia Sheinbaum die Kontinuitätskandidatin, welche das Vermächtnis des Linkspopulisten Andres Manuel Lopez Obrador fortführen soll. Ob sie das tatsächlich tut oder, wie so oft, mit der Linie ihres Mentors in signifikanter Weise bricht, wird sich 2025 zeigen.
  • Argentiniens erstes Jahr unter Javier Milei ist aus wirtschaftlicher Sicht spannender als aus politischer, weswegen wir es in unserem Wirtschaftsrückblick stärker hervorheben werden.

Mexikos Wahl ist eine riskante Wette (Juni 2024)

Wir können nur lernen, wenn wir vom Bekannten zum Unbekannten schreiten.— Claude Bernard

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