Der Monat im Rückblick: Januar 2024

Das Monatsreview mit vier Mini-Explainern: 

Ecuador | Naher Osten | Nordkorea | Deutschlands Populisten

(insgesamt 15 Minuten Lesezeit)

Ecuador in der Gewaltspirale_

(4 Minuten Lesezeit)

“Fito” feiert seinen 44. Geburtstag im Gefängnis. Quelle: Penitenciaría, wikimedia

Turbovariante: Ecuador droht, im Bandenkrieg zu versinken. Hintergrund ist eine Veränderung der Routen des regionalen Kokainschmuggels.

Fito flieht

Der Januar begann mit einem Gewaltausbruch in Ecuador: Zuerst floh der Bandenchef José Adolfo Macías Villamar, bekannt als “Fito”, am 7. Januar aus dem Gefängnis “La Regional” in der Hafenstadt Guayaquil. Er sollte in das als sicherer geltende Gefängnis “La Roca” verlagert werden. Allerdings scheint es, als hätte Fito rechtzeitig davon erfahren. Als die Polizei eintraf, war von ihm keine Spur mehr.

Was ein peinlicher, wenn auch in Lateinamerika gar nicht so ungewöhnlicher Vorfall hätte sein können, wurde zum Auftakt eines Gewaltausbruchs. Mit Fitos Flucht begannen in mindestens sechs Gefängnissen in ganz Ecuador Aufstände, bei welchen mehrere Wärter als Geiseln genommen wurden. Polizisten im gesamten Land wurden angegriffen. Maskierte Angreifer attackierten ein TV-Studio und nahmen vor laufender Kamera die Mitarbeiter als Geiseln; zwangen einen Moderator, eine Botschaft zu verkünden.

Recht offenkundig wertete die Bande um Fito, “Los Choneros” genannt, die Gefängnisverlagerung als Kriegserklärung der Regierung. Fito hatte “La Regional” wie ein persönliches Ferienlager kontrolliert, die Wärter waren gewissermaßen nur zu Besuch. Die Bandenmitglieder, welche die Einrichtung in Wahrheit kontrollierten, vermieteten Zellen an Insassen, schmuggelten Essen, Getränke und Drogen hinein und verkauften sie. Fito selbst ließ im Gefängnishof eine Szene für ein Rapvideo seiner Tochter aufnehmen.

In den Gefängnissen herrscht oft eine fragile Machtbalance, denn manchmal existieren dort mehrere Banden oder mehrere Fraktionen einer Bande Seite an Seite. Sie kontrollieren dann unterschiedliche Flügel, welche auch physisch voneinander getrennt sind. Dennoch kann es schnell zu Angriffen kommen, was erklärt, warum Ecuador in den letzten Jahren große Gefängnisaufstände erlebt hatte: Nicht Insassen gegen Wärter, sondern Bandenmitglieder gegen andere Bandenmitglieder. Allein 2021 starben Hunderte Häftlinge bei Gefängniskämpfen.

Dass die neue Regierung des Zentristen Daniel Noboa, erst im November ins Amt gewählt, Fito aus seinem Revier nehmen wollte, war eine andere Form von veränderter Machtbalance. Fito selbst hatte davor gewarnt, nämlich in einem (selbstverständlich aus dem Gefängnis heraus geführten) Interview für eine Reihe namens Paz o Plomo, also “Frieden oder Blei”: Sollte er jemals nach La Roca verlagert werden, wäre das eine Grenzüberschreitung und würde sofort “Aufstände in allen Gefängnissen” bedeuten.

Vom Ferienparadies zum Failed State

Wie konnte es soweit kommen in Ecuador, einem Land, welches einst als eines der sichereren der Region galt? Der Drogenhandel, vor allem für Kokain, ist die Antwort. Er destabilisiert Ecuador so, wie er bereits Kolumbien und in geringerem Maße Peru destabilisiert hatte, zwei große Anbau-, Verarbeitungs- und Exportländer für Kokain. Ausgerechnet die graduellen Erfolge in den Nachbarländern trugen dazu bei, die Drogenbanden immer stärker nach Ecuador zu verschieben. Doch auch unabhängig davon ist das kleine Land mit seiner dollarisierten Wirtschaft, der Lage zwischen Peru und Kolumbien sowie dem großen Pazifikhafen Guayaquil ein intuitiver Standort. 

Für Ecuador ist es ein raues Erwachen. Das Land kannte inländischen Konflikt zwischen politischen Interessensgruppen, insbesondere mit der oftmals unzufriedenen indigenen Bevölkerung, doch vom rasanten Wachstum der Drogenbanden wurde es unvorbereitet getroffen. Die Sicherheitskräfte besitzen wenig Erfahrung im Umgang mit ihnen. Dabei geht es nicht nur um hausgemachte Banden, Kolumbianer und Peruaner, sondern auch um mexikanische Kartelle und Mafias vom Balkan, insbesondere Albanien. Sie alle versuchen, ein Stück vom Kuchen abzubekommen, welcher der ecuadorianische Drogentransit darstellt. Die Gewalt zwischen den Fraktionen und zwischen Banden sowie Staat nahm stetig zu. Sie traf die Zivilbevölkerung und auch all jene, welche es wagten, sich allzu stark gegen die Banden auszusprechen: Der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio wurde im August auf einer Wahlkampfveranstaltung ermordet; alle anderen Kandidaten leisteten den Wahlkampf danach nur noch mit schusssicherer Weste ab.

Die Regierung nimmt die Herausforderung der Banden an. Präsident Noboa spricht von einem “innerstaatlichen Konflikt” mit einer “nicht-staatlichen Kriegspartei”, welche “Terrorismus” begehe. Die Regierung hat einen 60-tägigen Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre von 23 bis 5 Uhr morgens ausgerufen. Militär sowie Polizei sind angewiesen, gegen die Banden vorzugehen. Soldaten sollen die Ruhe in den Gefängnissen wiederherstellen. In Guayaquil kam das öffentliche Leben einige Tage lang zum Erliegen, bevor die Geschäfte, Schulen und Büros wieder vorsichtig öffneten – einen Lockdown kann sich niemand leisten.

Wie geht es in Ecuador weiter? Schwer zu sagen. Wer auf einen schnellen Erfolg der Staatsgewalt gegen die Drogengewalt gehofft hat, wurde in den letzten Jahrzehnten praktisch immer enttäuscht. Eine Ausnahme in jüngster Zeit war El Salvador, wo ein skrupelloser Präsident die Sicherheitslage tatsächlich per Brechstange verbessert hat. Klar ist nur, dass Ecuador eine üble Zeit erwartet. Der Staatsanwalt, welcher zur Attacke auf das TV-Studio ermittelt, wurde bereits ermordet. Und ein entführter Polizist wurde von den Banden gezwungen, eine Botschaft an Präsident Noboa aufzusagen: “Du hast Krieg erklärt, du wirst Krieg bekommen. Du hast einen Ausnahmezustand ausgerufen, wir rufen Polizei, Zivilisten und Soldaten zu Kriegsbeute aus.”

Der Nahe Osten tut, was der Nahe Osten immer tut_

(3 Minuten Lesezeit)

Gaza-Stadt, 2023. Quelle: apaimages

Turbovariante: Alle gegen alle, mehr oder weniger.

Israel, Gaza und das G-Wort

Das neue Jahr startete mit vielen neuen und alten Konfliktherden. Na gut, wenn wir von Konflikten sprechen, meinen wir mehrheitlich eine Region: den “erweiterten” Nahen Osten. 

Der Israel-Hamas-Krieg lief auch im Januar ungebrochen weiter. Es war zwar von einem Wandel in den israelischen Operationen hin zu nadelstichartigeren, präziseren Attacken die Rede, doch noch ist nicht ganz ersichtlich, wie sich das vor Ort äußert (außer, dass viele Reservisten wieder von der Front abgezogen worden sind). Das heftige Luftbombardement scheint sich fortzusetzen und die Meldung der israelischen Armee (IDF), die große Stadt Khan Younis umzingelt zu haben, deutet auf großflächige Bodenoperationen hin.

Ein bemerkenswerter Vorgang war die Genozid-Anklage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof (ICJ). In einem ersten Schritt bestätigten die Richter, dass sie zuständig seien und sich über den Sachverhalt des Genozids verhandeln ließe. Israel werde zwar nicht zu einem unilateralen Waffenstillstand aufgerufen, wie Südafrika gefordert hatte (was dem Land faktisch die aktive Verteidigung verboten hätte), aber dazu, “genozidale Handlungen” und Aufrufe dazu zu verhindern sowie zu bestrafen. Es ist ein kleiner Erfolg für Südafrika, aber keine Bestätigung des Vorwurfs des Genozids, auch wenn es in den sozialen Medien fälschlicherweise so interpretiert wird. Darüber urteilt der ICJ erst in einigen Jahren, vielleicht gar einem Jahrzehnt. Die Hürde für eine rechtskräftige Verurteilung aufgrund von Genozids liegt dermaßen hoch, dass sich die whathappened-Redaktion aus dem Fenster lehnt und ein entsprechendes Urteil für unwahrscheinlich erachtet. Unser Explainer zu Genozid erklärt diesen Schluss genauer.

Alles ein Brandherd

Im Januar nahmen auch die Ausstrahlungseffekte des Gazakriegs an Fahrt auf. Israel und die Hisbollah im Libanon intensivierten die Angriffe aufeinander. Das betrifft auch Syrien, durch welches die Hisbollah und Iran Material und Kämpfer bewegen. Viele der roten Linien, welche im “Schattenkrieg” zwischen Israel und Irans Einheiten (inklusive der Hisbollah) bestanden, wurden in den vergangenen Wochen und Monaten gerissen. Noch herrscht eine Art instabile Stabilität, da eine große Eskalation für Hisbollah, Iran und wohl auch Israel zu riskant ist. Doch eine weitere Intensivierung der Lage ist denkbar.

Iran ist ein gutes Stichwort. Die proiranische Houthi-Miliz im Jemen beschießt seit Wochen das Rote Meer, um auf den Israel-Hamas-Krieg einzuwirken. Das zieht inzwischen sogar die USA, Großbritannien und perspektivisch die EU hinein, denn sie reagieren auf die Störung des Schiffsverkehrs mit Beschuss der Houthis. Unser aktueller Explainer zu Jemen und den Houthis erklärt mehr.

Auch im Irak sind es proiranische Milizen und die USA, welche sich seit einigen Wochen verstärkt angreifen. Der Irak wird seit dem Sturz von Saddam Hussein von den USA und von Iran beeinflusst, wobei sich die proiranischen Fraktionen im Land tendenziell durchsetzen. Also platziert Teheran zahlreiche Milizen im Land, mit welchen es die Innenpolitik beeinflusst und die US-Militärpräsenz testet. Gelegentliche Gefechte gibt es seit Jahren, doch in den letzten Wochen hat er an Fahrt aufgenommen: Die proiranischen Milizen attackieren die US-Militärbasen, die USA bombardieren die Milizen. Eine sonderliche Eskalationsgefahr besteht hier nicht unbedingt, doch der Vorgang steht symptomatisch für die Feindseligkeit zwischen Iran und den USA.

Interessant war, dass sich Iran und Pakistan gegenseitig bombardierten. Teheran reagierte mit seinem Angriff auf die Region Belutschistan, Pakistan, auf IS-affilierte Terrorzellen im Nachbarland, welche einen schweren Anschlag auf eine Trauerfeier in Iran durchgeführt hatten. Pakistan vergalt das mit einem Schlag auf Saravan, Iran, wo es seinerseits Terrorzellen vermutet. Weitere Schläge von Iran richteten sich gegen Syrien (mutmaßlich IS-Terrorzellen) und die Millionenstadt Erbil im Nordirak (mutmaßlich israelische Einrichtungen). Der Nahe Osten wird immer mehr zu einem undurchsichtigen Netz aus Feindseligkeiten und Angriffen.

Weiterlesen: 

Zum Nahostkonflikt
Israel und Palästina (Oktober 2023)
Israel und die Hamas im Krieg (Oktober 2023)
Die Optionen für Frieden in Nahost (Dezember 2023)
Was ist Genozid? (November 2023)

 

Zu Saudi-Arabien und Iran
Saudi-Arabien, Iran und der Deal (März 2023)
 

Zu Iran
Iran: Der komplizierte Gottesstaat (2021)
Iran im Aufruhr (2022)
Proteste in Frankreich, Israel und… Iran? (März 2023)

Zu Israel
Israels verrückte Innenpolitik (2021)
Israel und die Extremisten (2022)
Proteste in Frankreich, Israel und… Iran? (März 2023)

Zu anderen regionalen Akteuren
Der Jemen und die Houthis (Januar 2024)

Etwas tut sich in Nordkorea_

(2 Minuten Lesezeit)

Kim Jong-un (2. v. l.). Quelle: Kreml

Turbovariante: Nordkorea gibt das Ziel der Wiedervereinigung auf. Das ist nicht ganz einfach zu interpretieren.

Kriegszustand statt Vereinigung

Nordkorea eskaliert seine Rhetorik gegenüber Südkorea. Nicht nur, dass Pjöngjang wie immer am Ausbau seines Waffenarsenals arbeitet, Machthaber Kim Jong-un kassierte auch noch das Ziel der friedlichen Wiedervereinigung mit dem Süden. Stattdessen erklärte er diesen zum Feindstaat, mit welchem man sich im Krieg befinde und welcher versuche, den Norden zu absorbieren. Gemeinsame Einrichtungen, welche zur Vertrauensbildung oder für das Hinarbeiten auf die Wiedervereinigung dienten, werden geschlossen; ein Monument zur nationalen Einheit wird abgerissen.

Das ist kein leichtfertiger Schritt, denn Kim erkennt Südkorea damit im Grunde explizit als unabhängigen Staat an. Außerdem gibt er einen zentralen Aspekt der Ideologie seines totalitär-kommunistischen, dynastisch geführten Staates auf. Das bedeutet, dass er von den erklärten Zielen seines Vaters und seines Großvaters, beide mit gottesähnlichem Status, abrückt.

Unter Nordkorea-Beobachtern sorgte das für Aufsehen, und umso mehr, als zwei bekannte Analysten der Zunft ausdrücklich vor Krieg warnten. Kim Jong-un habe die “strategische Entscheidung getroffen, in den Krieg zu ziehen”, so Robert L. Carlin, ein früherer CIA-Analyst, und Siegfried S. Hecker, ein Nuklearforscher. Der Großteil der Analysten sieht es aber anders: Ein Krieg bleibt viel zu riskant für das Regime, denn es besitzt kaum Chance, ihn konventionell zu gewinnen, könnte beim Versuch aber zerfallen. Wahrscheinlicher wären limitierte Schläge, Provokationen und das Austesten der südkoreanischen roten Linien.

Vielleicht hat es auch einfach mehr mit der Innenpolitik zu tun. Nordkorea betreibt seit jeher einen Zyklus aus Eskalation und Deeskalation, mit welchem es sich internationale Hilfsgüter, vor allem aus dem Westen und Südkorea, hebelt. Das geschieht mit fast schon beeindruckender Regelmäßigkeit. Berichte über eine schwere Hungerskrise in Nordkorea und die bevorstehenden Wahlen in den USA und Südkorea könnten eine verlockende Ausgangslage geschaffen haben.

Außerdem könnte Kim versuchen, mit dem neuen Feindbild seine Position in der Bevölkerung oder gegenüber Fraktionen innerhalb der Elite zu stärken. Ein möglicher Grund: Die Dissonanz aus einem Südkorea, welches gleichzeitig bösartig ist und vereint werden müsse, dessen Kultur gleichzeitig toxisch und irgendwie aber auch ja auch die gemeinsame koreanische sei, war stets ideologischer Ballast. Ist der Süden einfach nur der Teufel, welcher den integren Norden zerstören möchte, kann das Regime gewisse Dinge einfacher erklären, zum Beispiel seinen hohen Militarisierungsgrad. Ob es überhaupt irgendetwas erklären muss, wissen wir leider nicht genau – Nordkorea ist notorisch undurchsichtig. 

Deutschlands Populisten im Aufwind_

(6,5 Minuten Lesezeit)

Sahra Wagenknecht. Quelle: Af Niels Holger Schmidt/Openverse.

“Remigration”

Das Hauptereignis in Deutschland war im Januar das Bekanntwerden eines Geheimtreffens von Rechtsextremisten. Der Identitären-Vordenker Martin Sellner hielt eine Rede vor Szeneköpfen, bei welchen er von “Remigration” sprach: Einem losen Plan, knapp 2 Millionen Migranten in Deutschland aus dem Land zu schaffen und dazu auch deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund, welche nicht “assimiliert” genug seien. Das Grundgesetz erschwert letzteres, doch ein “hoher Anpassungsdruck” mittels “maßgeschneiderter Gesetze” solle es umsetzbar machen.

Heikel daran war vor allem, dass neben besagten Rechtsextremen, einigen Unternehmern und zwei Mitgliedern der Werteunion mindestens vier hochrangige Politiker der AfD – grob gesagt aus der zweiten Reihe – anwesend waren. Und einer, der persönliche Referent von Parteichefin Alice Weidel, offenbar versprach, das Thema in die Partei hineintragen zu wollen.

Als die Investigativplattform Correctiv das Treffen in einem großen Bericht der Öffentlichkeit bekannt machte, führte das zu einem, nun ja, Aufschrei. Hunderttausende, womöglich Millionen von Menschen gingen auf die Straße, um sich auf Kundgebungen gegen die AfD und die grundgesetzwidrige “Remigration”-Iden auszusprechen – eine für deutsche Verhältnisse bemerkenswerte Dimension. Ein Verbot der AfD und ein Entzug der Grundrechte für den Anführer des rechtsextremen Flügels, Björn Höcke, wurden von Medien, Politik und AfD-feindlicher Öffentlichkeit verstärkt diskutiert. Protestteilnehmer, soziale Medien und auch so manch Meinungsbeitrag in deutschen Leitmedien warnten vor einem bevorstehenden Ende der Demokratie; verglichen die Lage mit dem Jahr 1933.

In gewisser Hinsicht darf die Intensität der Reaktion überraschen. Dass es in der AfD rechtsextreme Elemente gibt, ist seit Jahren hinreichend bekannt. Auch die Kontaktpunkte zu den Identitären sind keine Neuigkeit. Ein Treffen zwischen Rechtsextremen, AfD-lern und sympathisierenden Privatpersonen dürfte niemanden schockieren. Genauso wenig, dass darin über radikale, migrationsfeindliche Ideen diskutiert wurde. Die vorgeschlagene “Remigration” ist mit ihrem Einbeziehen von eigenen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund tatsächlich ungewöhnlich radikal (selbst Frankreichs oberste Rechtspopulistin Marine Le Pen distanzierte sich von der AfD). Bräche man sie nur auf die Massenabschiebung ungewollter Migranten herunter, wäre es plötzlich eine fast schon langweilig-gewöhnliche Position im rechtspopulistischen Diskurs in Europa. Und zu guter Letzt: In der AfD wird seit mindestens 8 Jahren über Spielarten von Remigration diskutiert, darunter auch seitens Björn Höcke in einem Buch 2018. Alles beim Alten, also.

Die AfD im Fokus

Warum dann ausgerechnet jetzt die Massenproteste und der aufgeregte Diskurs? Die whathappened-Redaktion hat zwei Vermutungen. Erstens, die Vorstellung eines “Geheimtreffens” schafft den Eindruck einer konspirativen Operation (in den sozialen Medien finden sich wilde Vergleiche zur Wannseekonferenz), in welcher eine unmittelbare Gefahr für die Bundesrepublik heranziehe, nicht unähnlich zur Planung eines Putschversuchs. In Wahrheit hat der Plan akut und auf mittelfristige Sicht keinerlei (legislative) Relevanz, war trotz seines Labels als “Masterplan” nicht einmal sonderlich konkret oder durchdacht und ist, wie schon erwähnt, im AfD-Kosmos nicht völlig neu.

Zweitens, der Höhenflug der AfD im Jahr 2023 macht die Gegner der Partei nervös. Beflügelt von einem kräftigen Anstieg der Zuwanderung und, in geringerem Maße, den Nachwehen von Ukrainekrieg, Inflation und Covid-Krise sind die Rechtspopulisten inzwischen zweitstärkste Kraft geworden, ohne bei den allermeisten Themen eine kohärente Policy-Plattform bieten zu müssen. Bei den Landtagswahlen im September könnte die AfD realistisch stärkste Kraft in einem Landesparlament werden. Gepaart damit fühlen sich Geheimtreffen und Radikalplan plötzlich deutlich relevanter an und im selben Zuge auch die Proteste gegen diese.

Bewirken der mediale Aufschrei und die Proteste tatsächlich etwas? Im Vorhinein schwierig einzuschätzen. Sie vergewissern die Unsichereren unter den AfD-Gegnern, dass die “Ihren” tatsächlich zahlreich und mobilisierbar sind; dass die Medianmeinung im Land womöglich doch weiter weg von der AfD ist, als befürchtet worden war. Sie befeuern eine politische Dynamik, welche ein tatsächliches AfD-Verbot etwas wahrscheinlicher macht (auch wenn es aufgrund der hohen rechtlichen und politischen Hürden eher unwahrscheinlich bleibt). Und sie verunsichern die AfD, welche nach Bekanntwerden des Treffens auffällig dilettantisch kommentierte und tagelang keine Linie fand.

Und doch könnte der Effekt für die Partei ein positiver sein. Die AfD gewinnt seit Monaten rasant an Mitgliedern und anekdotisch scheint auch das Geheimtreffen ihr einen Schub verpasst zu haben. Zum einen, weil tatsächliche Freunde von Remigration und Identitären die Meldung natürlich positiv aufnehmen, doch das dürfte nur eine kleine Zahl sein. Wichtiger ist vermutlich, dass die Reaktionen auf das Treffen von nicht wenigen Beobachtern als schrille Überreaktion empfunden werden, wie auch AfD-Funktionäre anonym erklären: AfDler werden kollektiv zu Nazis ernannt, das Treffen in Potsdam gerät zur Wannseekonferenz 2.0 und 2024 ist das Jahr 1933 Reloaded. Manch Beobachter weist nicht einfach nur das (durchaus korrekt) als Vereinfachung und Dramatisierung zurück, sondern traut – ironischerweise als eigene Überreaktion – selbst legitimen Kritiken an der Partei nicht mehr.

Wagenknecht versucht’s

Nicht nur die AfD sorgte in der deutschen Parteienlandschaft im Januar für Schlagzeilen. Ex-Linkenfraktionschefin Sahra Wagenknecht gründete endgültig ihre eigene Partei, das “Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit”, welches bis 2025 noch einen anderen Namen erhalten soll. Ende des Monats wurde auch der erste Parteitag abgehalten.

Als “Linksnationalismus” wird ihre Politikrichtung manchmal beschrieben. Ein kraftvoller, verteilungsfreudiger Staat, eine antiamerikanische und interventionsscheue Außenpolitik, eine Ablehnung progressiver, identitätspolitischer Standardpositionen (z.B. das Gendern), eine tendenziell ablehnende Haltung zur Migration und Klimapolitik sowie ein populistisches Potpourri aus Elitenfeindlichkeit (Kapitalisten, Politiker, Rüstungslobbyisten, …). Das scheint sich zu verfangen, auch, da sich eine solche Kombination bislang am ehesten in der für viele Linke toxischen AfD finden ließ (wenn auch mit weniger linker Wirtschafts- und Sozialpolitik). Nirgendwo sonst in der deutschen Parteienlandschaft gab es bisher eine ablehnende Haltung zur Ukraine und viel Sympathie gegenüber Russland. Wer von Identitätspolitik wenig hält und die Migration eindämmen möchte, könnte zwar CDU wählen, doch findet dort nicht genug Sozialstaat. Grüne und SPD sind zwar “staatsgläubiger”, doch gibt es heute eben nur mit Gendern und Ukraine. Das BSW rückt in diese Lücke.

Turbovariante: Wahlomat, gefällig? Im “BSW-O-Mat” der Universität Potsdam kannst du dir auf Basis von Aussagen des Gründungsmanifests schätzen lassen, wie sehr du mit der Partei von Sahra Wagenknecht übereinstimmst. Wie immer mit den üblichen Schwächen eines Wahlomats, aber ein nettes Gimmick.

Bislang läuft alles prächtig bei der Partei. In Umfragen kommt sie bundesweit auf knapp 7 Prozent und in Thüringen auf bis zu 17 Prozent (wobei es extreme Schwankungen zwischen den Umfragen gibt). Politikwissenschaftler schätzen das maximale Wählerpotenzial auf rund 20 Prozent. Realisieren wird sich davon vermutlich nur ein kleiner Teil, doch ein Bundestagseinzug ist tatsächlich möglich. Dazu verhilft der Partei, dass sie aus dem jahrelangen, quälend langsamen Schisma der kaum noch lebendigen Linkspartei hervorgegangen ist. Sahra Wagenknecht war damit vom ersten Moment an viel mediale Aufmerksamkeit sicher. Und beim ersten Parteitag lief alles geordnet ab. Wagenknecht konnte unter viel Applaus die “dümmste Regierung Europas” (Ampelregierung) kritisieren und gegen “Rüstungslobbyisten” (FDP-Politikerin Strack-Zimmermann) wettern.

Der Höhenflug könnte jäh enden, denn noch war das BSW keinem Test ausgesetzt. “Personenkult-Parteien” sind traditionell volatil und beim Aufbau von Strukturen und Machtdynamiken kann vieles schiefgehen, das Wähler vertreibt. Doch die Populisten an der wirtschafts- und sozialpolitischen linken Seite der AfD gehen mit viel Selbstbewusstsein ins neue Jahr.

Neugründungen galore

Und dann wäre da noch eine weitere neue Partei: Die Werteunion hat sich zur Gründung entschieden. Aus dem CDU-nahen, erzkonservativen Interessensverein wird damit eine eigenständige, am rechten Rand der CDU fischenden Partei. Hans-Georg Maaßen, ein früherer Verfassungsschutzchef, gegen welchen in der CDU ein Parteiausschlussverfahren lief, hat nun seinen Austritt aus der CDU verkündet. Die Partei habe “Verrat” an ihren “klassischen Werten” begangen. Sie verantworte “Migrationskatastrophe”, “unverantwortliche Energiewende”, “Erosion von Rechtsstaat und Demokratie” sowie “Brandmauern [und] die politische Benachteiligung Andersdenkender”.

Grundsätzlich sollte man vorsichtig sein, auf neue Parteien zu wetten. Die Herausforderungen und Hürden für sie sind so hoch, dass die meisten nicht allzu weit kommen. Und die Werteunion mag zwar ein bekannter Name sein, doch ist nicht sonderlich groß. Sie wird erklären müssen, warum es sie zwischen CDU und AfD benötigt und versuchen müssen, möglichst viele ihrer Mitglieder aus der CDU heraus in die Neugründung zu locken. Ihre Chancen, relevant zu werden, stehen deutlich schlechter als beim BSW.

Viel los in der deutschen Parteienlandschaft. Schauen wir mal, ob sie in einigen Monaten nachhaltige Ergänzungen besitzt oder lediglich mehr Kleinstparteien, welche unter “Sonstige” herumdümpeln.

Die Aktienmärkte_

Index: 30-Tage-Entwicklung (12-Monate-Entwicklung)
Dax 40: +1,56% (+12,13%)
S&P 500: +2,25% (+21,73%)
Dow Jones: +1,06% (+13,03%)
Nasdaq 100: +3,09% (+46,24%)
Nikkei 225: +6,83% (+30,32%)
MSCI World ETF (iShares): +1,42% (+18,55%)
Bitcoin: +1,70% (+91,60%)

Anleger wetten weiterhin auf die baldige Zinswende (und diesmal bedeutet das sinkende Zinsen). Die mag zwar noch Monate entfernt sein, doch Vorfreude – und Erleichterung über das gut überstandene Jahr 2023 – überwiegen. Robuste Unternehmensdaten und keine neuen Hiobsbotschaften in der Geopolitik helfen den Märkten obendrein.

Quelle: Google Finance, onvista

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