Der Monat im Rückblick: Juli 2023

Wir erproben eine Änderung im Format: Anstelle eines breiten Themenüberblicks eine Handvoll Mini-Explainer. Mehr Tiefe, weniger Breite. Was hältst du davon? Schick uns am Ende eine Nachricht. 

Putschgürtel | Deutschland | Israel | Rezession?


(insgesamt 16 Minuten Lesezeit)

Willkommen zurück im Putschgürtel_

(5 Minuten Lesezeit)

Quelle: whathappened.io

Turbovariante: Der Staatsstreich im Niger komplettiert den “Putschgürtel”, doch ist zugleich besonders ärgerlich – vor allem für den Westen.

Der Sahel ist die Küste und zwar ganz wortwörtlich, denn im Arabischen bildet die Region das rettende Ufer hinter dem Wüstenmeer der Sahara. Er ist auch ein Gürtel, immerhin zieht er sich 5.900 Kilometer lang, doch an einigen Stellen nur Hunderte Kilometer breit, vom Westen bis in den Osten Afrikas, von (echter) Küste zu (echter) Küste. Und seit wenigen Tagen ist er ganz offiziell wieder ein Putschgürtel.

Von Guinea an der Atlantikküste bis nach Sudan am Roten Meer befindet sich ein ununterbrochener Streifen an Ländern, welche seit 2020 einen oder mehrere Staatsstreiche erlebt haben. Der jüngste Eintrag ist Niger, kaufkraftbereinigt das neuntärmste Land der Welt (BIP pro Kopf: 1.600 USD) und doch irgendwie lange eines der stabilsten Staaten seiner Nachbarschaft. Am 26. Juli umzingelte ausgerechnet die Präsidentengarde den Palast in Niamey, verhaftete den demokratisch gewählten Präsident Mohamed Bazoum und gab im nationalen Fernsehen das Ende seiner Regierung bekannt. Der Chef der Präsidentengarde, Abdourahmane Tchiani, erklärte sich zum neuen Staatsführer. Hintergrund dürfte ein Streit zwischen Bazoum und Tchiani gewesen sein; eine Entlassung des Generals habe bevorgestanden. Tchiani begründet es anders: “Wir mussten intervenieren”, erklärte er, mit Bezug auf mutmaßliche Korruption und Sicherheitsversagen Bazoums im Kampf gegen Islamisten.

Here we go again

Die Beteuerungen der Militärjunta klingt wie ein Echo, denn dasselbe haben wir aus der Region seit 2020 mehrfach gehört:

  • In Mali putschten Offiziere um Assimi Goita den demokratisch gewählten Präsidenten Boubacar Kaita im August 2020 aus dem Amt. Es ging um mutmaßliche Korruption und Versagen im Kampf gegen die Islamistenrebellion im Norden des Landes. Als Interimspräsident Bah Ndaw auf Druck der Regionalgruppe ECOWAS eine Rückkehr zur zivilen Demokratie in Aussicht stellte, putschte das Militär im Mai 2021 erneut, diesmal gegen die seinigen. Putschführer Goita ernannte sich zum Präsidenten.
  • Im Tschad starb Präsident Idriss Deby (ein Milizenführer, welcher 1990 einen anderen General vertrieb) offenbar bei Kämpfen mit Rebellen im April 2021. Das Militär verzichtete auf den verfassungsrechtlichen Prozess und übernahm selbst die Macht, löste das Parlament auf und machte Debys Sohn zum Interimspräsidenten.
  • In Guinea entmachteten Spezialkräfte um Mamady Doumbouya im September 2021 den demokratisch gewählten Präsidenten Alpha Condé. Teile der Gesellschaft unterstützen den Putsch: Condé habe zunehmend autoritär und korrupt regiert, so die Opposition. Beispielsweise hatte er erst im Vorjahr ein Amtszeitlimit in der Verfassung aufgehoben.
  • In Burkina Faso putschten Soldaten um Generalleutnant Paul-Henri Dambia im Januar 2022 gegen die demokratisch gewählte Regierung von Roch Kaboré. Die versprochene Verbesserung der Sicherheitslage stellte sich nicht ein, weswegen – ganz genau – im September ein zweiter Putsch durch den jetzigen Juntachef Ibrahim Traore folgte.
  • Im Sudan führte die Armee unter Abdel Fattah Burhan im Oktober 2021 einen Selbstputsch gegen den Übergangsrat durch, welchem sie zusammen mit der zivilen Opposition seit dem Umsturz des Langzeitdiktators Omar Baschir 2019 angehört hatte. Die mächtige RSF-Miliz unter General Hemeti hatte die Armee in ihrem Putsch unterstützt. Mitte April 2023 wandte sie sich gegen sie und startete einen Bürgerkrieg, welcher bis heute anhält.

Der weitere Prozess ist ganz simpel: Die (zunehmend ausgedünnte) Regionalgruppe ECOWAS verlangt wütend eine Rückkehr zur zivilen Regierung, welche die Junta wahlweise ignoriert oder mit einem symbolischen Zeitplan für demokratischen Übergang abspeist. Die EU, die USA und afrikanische Demokratien drücken ihre Sorge aus. Washington droht mit der Einfrierung von Finanzhilfen; die EU pausiert die Sicherheitskooperation. Es wird Druck gemacht, aber nicht so viel, dass man die neue Junta sofort in die Arme von Moskau treibt. Passieren könnte das dennoch.

Ein Blick auf Niamey. Quelle: NigerTZai, wikimedia

Ein großer Schritt zurück

Für Demokratiefreunde in Afrika ist es wahrlich keine gute Entwicklung. Schulter an Schulter regieren im Sahel nun Soldaten, absolut einzigartig in der Welt. Das ist ohne Frage kein Zufall: Der Putsch in Mali inspirierte Generäle in umliegenden Ländern; Guineas Juntachef Mamady Doumbouya war mit Malis Assimi Goita befreundet. Mali war somit der erste Dominostein, Niger der letzte – zumindest, um den Putschgürtel in seiner Minimalform zu komplettieren.

Wenn schon von Dominosteinen die Rede ist, müssen die elementaren Gründe für die Lage des Sahels benannt werden: Er ist die wohl ärmste Region der Welt, mit einer der höchsten Geburtenraten (der Niger führt die Liste mit 6,8 Kindern pro Frau an, Mali folgt auf Platz vier). Der Klimawandel trifft die aride Region hart; die Wüste breitet sich aus und zerstört Farmland. Demokratische Tradition ist seit der Unabhängigkeit 1960 (Guinea: 1958, Sudan: 1956) teils inexistent, teils extrem fragil. Islamistische Gewalt ist seit 2012 rasant angestiegen, als sich Extremisten aus dem zerbombten Nahen Osten nach Nordafrika begaben und die dortigen Zellen ausbauten: Machten die Sahelstaaten 2007 noch 1 Prozent der globalen Islamismus-Gewaltopfer aus, so waren es 2022 bereits 43 Prozent. Die Putsche selbst sind ein Spiegel der Situation: Ihre Anführer sind jung; Ibrahim Traoré war mit 34 Jahren der jüngste Staatschef der Welt.

Nigers “Sturz” ist besonders ärgerlich. Bazoum war nicht nur demokratisch gewählt, sondern hatte auch noch friedlich vom Vorgänger die Macht übertragen bekommen, ein Novum in Niger und eine Seltenheit in der gesamten Region. Der Kampf gegen Islamisten lief besser als in den meisten Nachbarstaaten. Bazoum schien wirtschaftliche Entwicklung hoch zu priorisieren und das auch noch recht inklusiv, wurde etwa von der Bill & Melinda Gates Stiftung als “Geschlechterkämpfer” (Gender Warrior) betitelt. Und dann war Niger auch noch die letzte Bastion des Westens im Sahel.

Russland 2, Westen 0

Seit 2012 operieren westliche Staaten in der Region, um die Staaten gegen islamistische Milizen zu unterstützen und Flüchtlingskrisen zu verhindern. Angeführt von Ex-Kolonialmacht Frankreich waren die Erfolge zwar real, doch nie sonderlich durchschlagend. Erst war Mali das Dreh- und Angelkreuz, mit Tausenden ausländischen Soldaten vor Ort und hohen Investitionen. Nachdem die Junta sich Russland annäherte und den Westen kaum verhohlen rausekelte (zeitweise erteilte sie der stationierten Bundeswehr einfach keine Fluggenehmigungen mehr) wurde es stattdessen Niger, wo die USA gar eine moderne Drohnenbasis errichteten. Nun ist auch dieses Engagement in Gefahr. 

Der Nutznießer ist Russland, dessen Flaggen sich sogar auf den Feiern der Putschunterstützer in Niamey sichten ließen. Moskau versucht – und schafft es teilweise – sich in Afrika als Bastion eines anti-westlichen “Anti-Kolonialismus” zu etablieren, obwohl es historisch nicht nur so viel Land wie kaum ein anderes Reich kolonialisiert, sondern selbiges kurzzeitig auch in Afrika versucht hatte. Noch wichtiger ist, dass Russland im Gegensatz zum Westen weder über Demokratie noch Menschenrechte spricht, sondern die Generäle gerne unterstützt. Die Söldnergruppe Wagner ist längst eine feste Größe auf dem Kontinent. Kein Wunder, dass Söldnerchef Jewgeni Prigoschin den Putsch lobte und anbot, dass seine Söldner “helfen”. Wenn die Erfahrung in Mali als Beispiel herhält, bedeutet das für Niger mehr tote Zivilisten und keine Verbesserung in der Sicherheitslage.

Deutschland: AfD im Rampenlicht_

(4 Minuten Lesezeit)

Turbovariante: Das Umfragehoch der Rechtspopulisten ist bemerkenswert und sorgt für hektische Aktivität bei den übrigen Parteien – auch wenn unklar bleibt, wie nachhaltig es ist.

Die AfD dominierte im Juli die Schlagzeilen in Deutschland, was mindestens einem Fünftel der Bevölkerung gefallen haben dürfte. Sie hatte schon Ende Juni den ersten Landratsposten ihrer Geschichte erobert und Anfang Juli dann den ersten Bürgermeisterposten. Es handelt sich um die ersten zwei greifbaren Wahlerfolge der Rechtspopulisten seit ihrer Gründung 2013. Das macht die Vorgänge beachtlich, auch wenn weder Sonneberg (Thüringen; ca. 23.000 Einwohner) noch Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt; ca. 3.500 Einwohner) in irgendeiner Funktion wirklich bedeutsam wären.

Plötzlich blickte ganz Deutschland auf die kleinen Orte im Osten. Wer wollte, konnte sich Einwohnerporträts aus Raguhn-Jeßnitz durchlesen oder eine Minibiografie zum neuen Bürgermeister. Explainer zu den Kompetenzen von Kommunalpolitikern hatten Hochkonjunktur. Eine (bestandene) Prüfung der Verfassungstreue des Sonneberg-Siegers wurde zum medialen Volksfest. Und als selbiger in einer Grundschule für seine Partei zu werben schien, schaffte es Sonneberg wieder in die nationalen Schlagzeilen. Mancherorts gab es Galgenhumor: Landkreis Sonneberg habe eine Invasion des benachbarten Hildburghausens gestartet, so das Satiremagazin Postillon.

22 Prozent

Hinter dem plötzlichen Fokus auf die Kommunalpolitik steht der bundesweite Aufwind der AfD. Die Partei kommt in jüngsten Umfragen auf 18 bis 22 Prozent Zustimmung und ist bei allen Demoskopen, mit Ausnahme von Allensbach, die zweitstärkste Kraft hinter der Union – also noch vor allen drei Regierungsparteien. Für einen großen Teil der übrigen 80 Prozent war das ein Schock, denn sie halten überhaupt nichts von der Partei, welche getrost als populistisch bezeichnet werden kann und in Teilen rechtsextrem ist, insofern der Verfassungsschutz und die allermeisten Politikwissenschaftler zum Urteil herhalten dürfen. Dazu, wie die AfD einzuschätzen ist und was sie programmatisch bietet oder nicht bietet, bräuchte es einen ganz eigenen, großen Explainer. Dieser hier muss kurz bleiben, also reißen wir uns zusammen.

Das Umfragehoch der Rechten verunsichert ihre Kritiker und den Politbetrieb. CDU-Chef Friedrich Merz gestattete im Juli kurz eine kommunale Zusammenarbeit seiner Partei mit der AfD, bevor er nach scharfer Kritik aus den eigenen Reihen zurückruderte. Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer sprang in die nun offene Lücke und plädierte für eine pragmatische Zusammenarbeit. Die linken Parteien nutzen die Gelegenheit für eine doch eher spekulative Generalkritik, wonach die Union nur einige rhetorische Volten von einer vollen Kooperation mit der AfD entfernt sei (es half dem Eindruck, dass Merz nach der CSU-Klausurtagung im Juli seine Partei als “Alternative für Deutschland – mit Substanz” bezeichnete). Die Grünen werfen der “orientierungslosen” CDU vor, Grund für die AfD-Stärke zu sein. Die Konservativen verorten die Schuld wiederum bei den Grünen und erklären sie zum Hauptgegner.

Die AfD blickt auf den Vorgang mit viel Schadenfreude. “Sogar Friedrich Merz will inzwischen lieber Parteichef der AfD sein”, witzelte AfD-Chef Tino Chrupalla bei der Eröffnung des Bundesparteitags in Magdeburg, bei welchem die Partei übrigens versehentlich die Auflösung der EU fordern könnte. Dennoch: Die AfD weiß noch nicht so recht, was sie mit ihrem Umfragehoch und der medialen Dominanz anstellen soll. So sehr einige Beobachter, darunter der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), warnen, dass die AfD keine Protestpartei mehr sei (was im Grunde seit Jahren zu hören ist), so zweifeln doch selbst ihre eigenen Granden daran: Ehrenvorsitzender Alexander Gauland sieht die Stärke der AfD nicht in ihren eigenen Verdiensten, sondern in den “Fehlern der anderen”. Eine Kanzlerkandidatur, wie sie AfD-Chefin Alice Weidel öffentlichkeitswirksam ins Spiel gebracht hatte, sei “nicht realistisch”.

Die Anderen

“Fehler der anderen” gab es je nach Perspektive reichlich. Die Ampelkoalition läuft, findet die whathappened-Redaktion, im internationalen Vergleich zwar ziemlich ordentlich für eine ideologisch diverse Dreiparteienkonstellation. Das ändert allerdings nichts an den vielen Gründen für einen gegenläufigen Eindruck: Streit ums Heizungsgesetz, Streit um den Bundeshaushalt 2024, Streit um das Kindergeld, Streit um die Industriestrompreisbremse, Streit um… du verstehst schon. Dass das Verfassungsgericht das Heizungsgesetz im Parlament abschießen musste, weil die Ampelkoalition die Prozeduren nicht einhielt, war eine bittere Blamage und verlängerte ein Kapitel, mit welchem alle Koalitionäre nur noch abschließen wollten. Im Juli-Rückblick darf dieser Moment nicht fehlen. 

Der Absatz soeben erwähnt lediglich einige ausdrückliche legislative Misserfolge der Regierung. Doch zur Stärke der AfD tragen auch legislative Erfolge bei, welche nicht jeder Bürger als Erfolg empfindet (z.B. ein neues Einbürgerungsgesetz, der Atomausstieg); Themen, welche als unzureichend behandelt wahrgenommen werden (z.B. die steigende Zuwanderung, Lebenshaltungskosten); und nicht genehme ideologische Positionen, welche bei den Regierungsparteien verortet werden (z.B. identitätspolitische Positionen bei den Grünen). Rein zeitlich korreliert der Aufstieg der AfD fantastisch mit den steigenden Lebenshaltungskosten, doch das dürfte längst nicht die gesamte Story sein.

Was auch immer die Gründe sein mögen, die AfD freut sich, einfach mal Erfolg zu haben. Dass sie kaum von der Covid-Krise profitieren konnte, verzeiht sich die Partei bis heute nicht. Sie schien stets mehr mit sich selbst beschäftigt, versank in heftigem innerparteilichem Streit. Die Rechtsaußen gingen letztlich siegreich daraus hervor und halten seitdem die Gemäßigten klein. Sie werten den aktuellen Aufwind als Beweis dafür, dass sie richtig lagen. Maximilian Krah, ein Unterstützer von Thüringens rechtsextremen Landeschef Björn Höcke, wurde soeben zum Spitzenkandidaten für die Europawahl gewählt. “In Riesa haben die Richtigen gewonnen”, so Krah mit Bezug auf den Parteitag vor einem Jahr, bei welchem das gemäßigte Lager in der AfD zusammenbrach. Der Beweis, dass das aktuelle Umfragehoch nachhaltig ist, steht allerdings noch aus. Zumindest bis zum Herbst dürfte es sich noch halten: Dann steht noch einmal das Heizungsgesetz auf der Parlamentsagenda.

Israels Zwist im Inneren_

(3 Minuten Lesezeit)

Quelle: Hanay

Turbo-Zusammenfassung: Israel zerrt an sich selbst: Eine kontroverse Justizreform wird teilweise Realität.

Israel ist umgeben von Staaten, mit welchen es sich offiziell im Kriegszustand befindet, welche mit seinem Erzfeind paktieren und welche von gewaltbereiten Milizen kontrolliert werden. Und dennoch schafft das kleine Land es, seine größte Gefahr ganz eigens im Inneren zu kreieren: Die neue Justizreform zerrt weiter an der Substanz der Gesellschaft. Nun hat die ultrarechte Netanjahu-Regierung einen ersten Teil im Parlament durchgesetzt.

Das in Kraft getretene Gesetz verbietet es dem Obersten Gericht, Regierungsbeschlüsse aufgrund von “Unangemessenheit” zu stoppen. Damit hatten die Richter seit 1980 mal den Bau neuer Fußballstadien gegen den Widerstand der Ultraorthodoxen durchgewunken, mal die Armee dazu gezwungen, Ermittlungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen aufzunehmen. Mal verlangte es vom Justizministerium ein Verfahren wegen mutmaßlicher Aktienmanipulation, mal stoppte es einen Premier davon, einen Politiker mit Vorstrafe zum Minister zu ernennen – letzteres in der aktuellen Netanjahu-Regierung.

Für Gegner war die “Unangemessenheit” der deutlichste Beweis für die grenzenlose Macht eines ohnehin zu politischen Gerichts, welches sich ständig in die Tagespolitik einmischte. Auch unter Rechtsexperten gibt es reichlich Kritiker, welche “Angemessenheit” als allzu schwammiges, rechtlich ungeeignetes Konstrukt empfinden. Bemerkenswert ist, dass selbst unter ihnen die meisten nichts von der Justizreform halten, da sie ihnen zu weit geht. Der Economist zitiert Yoav Dotan, Jura-Professor an der Hebrew University: “Ich will niemandes nützlicher Idiot sein”. Dotan, viele andere Experten und zuletzt die Opposition hatten sich für ein abgeschwächtes Prinzip eingesetzt: Das Gericht dürfe nicht mehr gesamte Regierungsentscheidungen als unverhältnismäßig kippen, doch einzelne Ministerentscheidungen. Die Netanjahu-Regierung verhandelte kurz mit der Opposition, doch verlor schnell den Appetit und brachte den Teil des Gesetzes in seiner ursprünglichen Form durchs Parlament. Dotan nimmt nun selbst an den Protesten teil.

Ein ganzes Land auf den Straßen

Die Massenproteste gegen die Justizreform laufen seit Anfang 2023, sind wahrlich riesig und haben seitdem kaum an Antrieb verloren. Laut Organisatoren nahmen zuletzt über 550.000 Menschen landesweit teil, was fast 6 Prozent der Bevölkerung entspricht (das deutsche Pendant wären knapp 5 Millionen Menschen). Kein Wunder, unterstützt doch nur circa ein Viertel der Israelis die Reform, vor allem Ultrarechte und Ultraorthodoxe. Der Rest befürchtet eine Schwächung der Gewaltenteilung, welche umso brisanter wäre, da Israel keine Verfassung besitzt, sondern lediglich ein vom Obersten Gericht interpretiertes Grundgesetz. Selbst im konservativen Likud, Netanjahus eigener Partei, wird die Reform mehrheitlich abgelehnt. Es sind seine ultrarechten Partner, welche sie vorantreiben.

Die umstrittene Justizreform bewegt die gesamte Gesellschaft, darunter auch Milieus, welche sonst nicht auf Demonstrationen zu sehen sind. Der Techsektor, welcher 10 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht, befürchtet einen irreparablen Schaden für den Investitionsstandort Israel: Im Juli erfuhren wir, dass 68 Prozent der israelischen Startups einen Teil- oder Komplettabzug ins Ausland vornehmen und das Wagniskapital um 70 Prozent zusammengeschrumpft ist. Kurz nach der Verabschiedung im Parlament verpasste US-Großbank Morgan Stanley auch noch den Staatsanleihen des Landes einen negativeren Ausblick. Und selbst im Militär rumort es: 10.000 Reservisten unterschrieben im Juli einen offenen Brief, in welchem sie androhten, vom Dienst zurückzutreten (einige Hundert haben das seit der Verabschiedung im Parlament bereits umgesetzt). Iran und Hisbollah, Israels größte Feinde, würden eine “historische Gelegenheit” wittern, so der Militärgeheimdienst laut Medienberichten in Richtung Netanjahu.

Es könnte noch mehr kommen

Erwarte nicht, dass das Spektakel um die Justizreform allzu schnell endet. Die Ultrarechten werden nicht zurückweichen und Netanjahu scheint sein an Überleben im Amt des Premiers höher zu gewichten als die historischen Dimensionen des Widerstands. Dieser zwang die Regierung zwar zu einer Pausierung des Gesetzes, doch nun brachte es einen Teil der Reform eben doch durch. Der Rest könnte in den kommenden Wochen folgen und ist tatsächlich noch pikanter als der nachvollziehbar umstrittene Paragraf der Angemessenheit: Die Regierung will die Kontrolle über die Besetzung des Gerichts erlangen (und blockiert allem Anschein nach bis dahin neue Besetzungen), die Gerichtsbeschlüsse per Parlamentsmehrheit kippen können, und den unabhängigen Generalstaatsanwalt schwächen. Und dann wäre da ja auch noch die skurrile Situation, dass das Oberste Gericht über seine eigene Entmachtung entscheiden müssen wird: Im September hört es Petitionen an, welche die Abschaffung der Angemessenheitsprüfung rückgängig machen wollen. Wenn Israel den Weg Ungarns geht, so zumindest nicht leise.

Mehr zur Justizreform: Proteste in Frankreich, Israel und… Iran? (Explainer, März 2023)

Rezession, keine Rezession, Rezession,…

(4 Minuten Lesezeit)

Im Juli ging es viel um die Frage nach der Rezession oder ihrem Ausbleiben. Hierzulande, weil Deutschland in eine Winterrezession gerutscht war und nun abwartete, ob auch das Frühjahresquartal eine Schrumpfung brachte. Die Antwort ist nein, allerdings kein sonderlich enthusiastisches Nein: Die deutsche Wirtschaft stagnierte in den Monaten von April bis Juni, wie das Statistische Bundesamt am Freitag bekanntgab. Zumindest bezogen aufs Vorquartal; gegenüber dem Vorjahresquartal fiel das BIP 0,6 Prozent kleiner aus. Dank des Nicht-Minus-Quartals verlässt die deutsche Wirtschaft ihre “technische Rezession”, zumindest rein technisch, doch bleibt spürbar schleppend. Die Prognosen, welche fast allesamt für das Gesamtjahr ein Minus vorhersagen, dürften sich kaum aufhellen (siehe Grafik oben). Unser Explainer “Die Lage der Wirtschaft in Deutschland (im Hier und Jetzt)” bietet einen aktuellen Deep Dive in die Wirtschaftslage.

Anders die USA. Ihnen gelang im zweiten Quartal ein überraschend starkes Wachstum von annualisierten, also aufs Jahr hochgerechneten 2,4 Prozent. Das lässt sich nicht direkt mit der deutschen Zahl vergleichen, da sie nicht aufs Jahr hochgerechnet ist. Ein besserer Vergleich: Deutschland ist von 2000 bis 2020 im Schnitt nur um 1,0 Prozent pro Jahr gewachsen. Würde die Bundesrepublik ein Jahr erleben, wie die USA es im Sinne ihres zweiten Quartals hätten, wäre es das drittbeste seit einem Jahrzehnt (2017 und der Covid-Rebound 2021 wären drüber).

Und auch die EU hatte erfreulichere Botschaften: Die Winterrezession, in welche sie gerutscht war, gab es doch nicht; die Statistikbehörde schraubte ihre Schätzung etwas hoch. Letzten Endes macht der Unterschied zwischen 0,0 Prozent und minus 0,1 Prozent nicht die Welt aus, doch nun gut, keine Rezession ist keine Rezession. Die Zahlen für das zweite Quartal sind noch nicht raus.

Sucht Deutschland, welches laut IWF-Schätzung hinter Großbritannien das schwächste Industrieland 2023 werden dürfte, nach Freunden im Geiste, könnte es in China fündig werden. Spätestens seit Anfang des Jahres sind die Probleme des Landes offenkundig; sie äußern sich in allem von Jugendarbeitslosigkeitsraten über Einkaufsmanagerindizes bis hin zur Industrieproduktion. Im Juli ging es genauso weiter: Die Erzeugerpreise fielen so stark wie seit 7 Jahren nicht mehr (was, anders als im Westen, derzeit kein gutes Zeichen ist), das verarbeitende Gewerbe schrumpfte und das BIP-Wachstum war mit 0,8 Prozent (6,3 Prozent zum mageren Vorjahresquartal) enttäuschend schwach. Dem Politbüro der Kommunistischen Partei blieb wenig anderes, als einzuräumen, dass die Wirtschaft nicht wie erwünscht läuft. 

Der Nachfolger der Inflationsdebatte

Die Diskussion um Rezessionen ist letztlich nur die logische Konsequenz und Fortsetzung jener Konversationen zu Energiekrise und Inflation, welche seit bald zwei Jahren geführt werden. Die hohe Teuerung (insbesondere bei Energie) drückte das Angebot und die Nachfrage zugleich; Notenbanken steuerten mit höheren Leitzinsen entgegen (im Juli erhöhten EZB und die Fed in den USA gleich nochmal ihre Zinssätze). Damit war immer die Frage, wie sich die Volkswirtschaften mittelfristig verhalten würden. Erkauften sie sich die Preisstabilität mit einer abgewürgten Wirtschaft und hoher Arbeitslosigkeit?

Während es den USA zu gelingen scheint, die Inflation zu senken (zuletzt bei 3,0 Prozent), ohne sich in eine Rezession zu stoßen – oder zumindest nur in eine sehr seichte -, tut sich Europa mit dem Balanceakt schwerer (Inflation: 5,5 Prozent). Das hängt zum Teil damit zusammen, dass der Kontinent stärker unter der Energiekrise litt und der Euroraum eine schwierig zu handhabende Währungsunion ist, schließlich braucht jeder Mitgliedsstaat eigentlich eine etwas andere Intervention, doch die EZB kann nur “one size fits all” bieten. Dazu kommen allerdings auch strukturelle Gründe: Die USA wachsen seit Jahren kräftiger als die EU-Staaten, trotz höherer Basis. Immerhin: Die Arbeitslosigkeit nimmt bislang weder in Europa noch in den USA sonderlich zu.

Auch in China spielt Inflation eine Rolle, allerdings andersherum. Die Preise fallen, weil die Nachfrage schwach ist. Fallende Preise sind allerdings ein Problem für Unternehmen, welche nun Personal abbauen oder Investitionen verschieben müssen (oder einfach ihre Gehälter nicht bezahlen und sich so Streiks einladen). Weniger Produktion schlägt sich im BIP nieder – voilà, enttäuschende Quartalsresultate.

Das Rezessionsorakeln

In den kommenden Monaten wird das Weissagen und Zahleninterpretieren munter weitergehen. Kein Wunder, denn die Wachstumsraten und ihre zugrundeliegenden Faktoren (von Industrieproduktion bis Konsumstimmung) sind letztlich alles andere als trivial: Die trockenen Zahlen deuten an, wie viele Firmen schließen oder eröffnen, wie viele Menschen ihren Job verlieren oder einen besseren finden, wie eng der Staat seinen Gürtel schnallen muss oder per Schuldenaufnahme aufbläht, wie viele Firmen in grüne Technologien investieren oder Investitionen ins Ausland schieben – und vieles weitere, das sich direkt auf die Lebensrealität der Bevölkerung oder die Zukunftsfähigkeit des Landes niederschlägt. In den USA werden die Zahlen die Präsidentschaftswahl 2024 beeinflussen. In China mögen die Effekte niedrigschwelliger sein, doch es ist wohl nicht zu viel zu sagen, dass sich an den richtigen oder falschen Zahlen die Legitimation der Kommunistischen Partei entscheidet – sie sieht es schließlich selbst so. Hinter so einem bisschen “Q2 2023” kann sich also einiges an Sprengkraft verstecken.

Chinas Wirtschaft tut nicht, was sie soll (Explainer, Juni 2023)

Die Aktienmärkte_

Turbo-Zusammenfassung: Bei aller Nervosität zu Jahresbeginn: Wer sein Geld einfach liegen ließ oder anlegte, erlebte bislang ein mehr als solides 2023.

Index: 30-Tage-Entwicklung (Entwicklung seit Jahresbeginn)
Dax 40: +1,99% (+17,06%)
S&P 500: +2,96% (+19,82%)
Dow Jones: +3,06% (+7,01%)
Nasdaq 100: +3,77% (+45,00%)
Nikkei 225: -2,95% (+27,38%)
MSCI World ETF (iShares): +2,15% (+17,83%)
Bitcoin: -4,78% (+71,35%)

Quelle: Google Finance, onvista

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