Das Monatsreview mit zwei Mini-Explainern:
Europa und die Migration | Arzach ist nicht mehr
(insgesamt 12 Minuten Lesezeit)
Europa redet wieder über Migration_
(7 Minuten Lesezeit)
Turbovariante: Die Asylanträge springen deutlich in die Höhe; das dominiert den europäischen und deutschen Diskurs. Wir bieten dir die Zahlen.
Ein Hauch von 2015 geht durch Europa. Die Migration, also in irregulärer Form, beherrscht wieder die Schlagzeilen, den Diskurs und die Politik. Die Staaten diskutieren Asylrechtsreformen und kritisieren Verteilungsmechanismen. Schlagbäume gehen an den Grenzen hoch. Die AfD hat ihre Zustimmung verdoppelt und feiert Wahlerfolge auf Kommunalebene, was das mediale Deutschland auf Hochtouren bringt. Die ARD bietet Analysen und Experteninterviews zum deutschen Zahnarztsystem, weil ein Spitzenpolitiker in einer Talkshow mindestens ungelenke Verbindungen zwischen Zahnpflegeverfügbarkeit und Migration bot. Ein besseres Signal kann es kaum geben: Europa redet wieder über Migration.
Wie sieht die Lage in Europa überhaupt aus? Eine nützliche Metrik ist die Zahl der Asylanträge. Diese liegt derzeit tatsächlich deutlich höher als jemals seit 2015/16 und damit auf dem zweithöchsten Niveau seit zumindest 1990, der längsten konsistenten Zeitreihe, welche die whathappened-Redaktion finden konnte. Vorsicht: Die Zahlen in der Grafik umfassen auch Asylfolgeanträge. Die Zahl der Asylerstanträge ist relativ konsistent um 100.000, manchmal um 50.000 geringer, die Vergleichbarkeit der Jahre bleibt jedenfalls gewahrt.
Die Zeitreihe zeigt sowohl den langfristigen Trend hin zu mehr Asylanträgen als auch den akuten Sprung. Im Jahr 2022 gab es knapp 962.000 Asylanträge, was 51 Prozent mehr als im Vorjahr bedeutete. Blicken wir nur auf die 881.000 Erstanträge, wären es 64 Prozent mehr. Nun herrschten im Covid-Jahr 2021 noch außerordentliche Einschränkungen für die Migration, auch irregulärer Natur. Doch selbst gegenüber 2019 sind die Erstanträge aktuell 40 Prozent höher.
Die Millionen-Marke und die Asylreform
Im laufenden Jahr hat sich der Trend noch weiter verstärkt. Die Zahl der Asylanträge lag im ersten Halbjahr 28 Prozent über dem Vorjahreszeitraum, nämlich bei 519.000. Extrapolieren wir diesen Trend auf das Gesamtjahr, wie oben in der Grafik, würden im Gesamtjahr 2023 über 1,2 Millionen Menschen Asylanträge stellen; es gäbe über eine Million Erstanträge. Selbstverständlich steht nicht fest, dass der Trend anhält: Im Juli scheint das Plus mit 20 Prozent (insgesamt 87.000 Anträgen) etwas niedriger gelegen zu sein. Der bisherige Höhepunkt der Migration lag tatsächlich am Ende des vergangenen Jahres, doch seitdem waren die Monatswerte nichtsdestotrotz im historischen Vergleich sehr hoch.
In diesem Sinne überrascht es kaum, dass das Thema wieder so präsent geworden ist. Die EU treibt eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) voran. Bei ihr geht es in erster Linie um Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen, bei welchen Flüchtlinge aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote in Auffanglagern ihr Asylverfahren abwarten müssen. Sie wären also niemals in die EU eingereist, sollten sie abgelehnt werden.
Die Krisenverordnung, über welche die EU-Staaten Ende September sprachen, ist Teil der Asylreform. Sie würde es den Mitgliedsländern erlauben, die Schnellverfahren in Ausnahmesituationen auf alle Migranten auszuweiten sowie Menschen länger darin festzuhalten.
Woher kommen die Migranten?
Syrien und Afghanistan sind die zwei größten Herkunftsländer, wie auch schon im Großteil der vergangenen zehn Jahre. Die Gründe für Afghanistan erklären sich fast von selbst: Die Machtübernahme der Taliban und der wirtschaftliche Verfall des Landes haben Hunderttausende von Menschen vertrieben. In Syrien läuft der zwölfjährige Bürgerkrieg zwar nur noch verhältnismäßig unterschwellig, doch die humanitäre Lage im Land hat sich in Anbetracht einer globalen Lebenshaltungskrise bedeutend verschlechtert. Zuletzt flammten gar kleinere Massenproteste auf (das Oxymoron gestatten wir uns). Auch der Anstieg in vielen anderen Ländern lässt sich auf eine verschlechterte Wirtschaftslage zurückführen, wobei dazu individuelle politische Umstände hinzukommen mögen, beispielsweise der anhaltende Kampf gegen militante Islamisten in Nigeria.
Gut zu wissen: Etwas besonders ist die Lage für Venezolaner und Kolumbianer. Sie können nicht nur völlig visafrei in die EU einreisen und fallen damit nicht unter die irreguläre Migration, sondern konzentrieren sich auch fast vollständig auf Spanien als Zielland. Während die Asylanträge von Kolumbianern meist abgelehnt werden, erhalten Venezolaner in der Regel Schutz zugesichert. Da das über ein gesondertes nationales System erfolgt, sieht ihre Anerkennungsquote in den EU-Statistiken fälschlicherweise sehr niedrig aus.
Die Zahl der Asylanträge entspricht übrigens nicht zwingend jener der illegalen Grenzübertritte, da letztere nicht immer verzeichnet werden und nicht jeder Asylbewerber irregulär in die EU gekommen sein muss. Die Grenzschutzbehörde Frontex verzeichnet von Januar bis August 2023 knapp 232.000 Übertritte, 18 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Balkanroute bleibt mit 30 Prozent Anteil wichtig, doch der Hauptweg für Flüchtlinge ist das zentrale Mittelmeer, welches fast die Hälfte aller illegalen Grenzübertritte ausmacht. Fast doppelt so viele Flüchtlinge kamen über das Mittelmeer wie im Vorjahreszeitraum. Die hohe Gefährlichkeit dieser Route und die steigende absolute Zahl an Flüchtlingen bedeutet, dass dieses Jahr bereits mindestens 2.365 oder 60 Menschen pro Woche im Mittelmeer gestorben sind, gegenüber 50 pro Woche im langjährigen Mittel (Gesamtjahr 2022: 2.411 Tote).
Wohin gehen die Migranten?
In erster Linie nach Deutschland. Die Bundesrepublik erhielt 2022 fast 245.000 Asylanträge, ein Viertel aller Anträge in Europa. Selbst auf pro-Kopf-Basis ist der bevölkerungsstärkste Staat der EU damit in den Top 4. Im laufenden Jahr setzt sich dieser Trend weitestgehend fort. Im ersten Halbjahr 2023 gingen 30 Prozent der 519.000 Anträge in Deutschland ein, welches also knapp 156.000 Asylsuchende vorläufig aufnahm. Das ist ein fast doppelt so hoher Anteil wie in den zwei nachfolgenden Staaten, Spanien (17 Prozent) und Frankreich (16 Prozent).
Deutschland ist ein intuitives Zielland. Das Sozialsystem ist verhältnismäßig großzügig und liberal, die Wirtschaft wird als stark und arbeitskrafthungrig wahrgenommen, die Reputation als aufnahmewilliges Land ist vielerorts noch immer intakt und die Existenz großer migrantischer Communitys aus den Herkunftsländern verspricht schnelle Netzwerke und einen einfacheren Start ins neue Leben.
Der Deutschland-Diskurs
In der Bundesrepublik selbst sorgt der kräftige Anstieg in der Migration für reichlich Diskussion – ganz im Stile von 2015/16 – und auch für Überforderung. Kommunen und Länder tun sich mit der Registrierung, Versorgung und vor allem Unterbringung der Migranten schwer. Nicht zuletzt, da sie 2022 bereits die bis zu 1 Million kriegsflüchtigen Ukrainer (einige dürften Deutschland inzwischen verlassen haben) handhaben mussten. Beispiel Berlin: Der Senat musste jüngst die Zahl der täglichen Flüchtlingsankünfte auf 250 hochjustieren, von 120, welche noch im August kommuniziert worden waren. Würde man die Zahl nur zur Veranschaulichung und äußerst plump aufs Jahr hochrechnen, so hätte Berlin seine Einwohnerzahl um 2 Prozent erhöht. Schon jetzt hat die Hauptstadt 40 Prozent mehr Flüchtlinge aufgenommen als im Gesamtjahr 2022. Die Ansprüche an Integration, Unterbringung und Versorgung sind signifikant. Aktuell wird nur die Hälfte der ankommenden Flüchtlinge in Berlin überhaupt registriert. Eine zentrale Aufnahmestelle fehlt. Die Altersfeststellung der Menschen lässt sich oft nicht vornehmen. Der Senat rechnet laut Medienberichten damit, die Bundeswehr anfragen zu müssen.
In der Bevölkerung entsteht der Eindruck, dass die Koalition aus SPD, Grünen und FDP nicht imstande ist, die Migration vernünftig zu managen und nicht willens, sie einzuschränken. Das dürfte maßgeblich zum rasanten Höhenflug der AfD geführt haben, welche sich schließlich in ihrer Existenz bislang in keinem einzigen anderen Thema wirksam platzieren konnte (mit Ausnahme einer kurzen Phase in der Eurokrise um 2013). Tatsächlich herrscht gerade bei den Grünen, doch auch bei Teilen der SPD, eine tiefe Skepsis gegenüber jeglichen Maßnahmen, welche das Asylrecht oder die Möglichkeiten zur Migration einzuschränken scheinen. Die Unterstützung der Ampelkoalition zum oben erwähnten EU-Asylkompromiss im Juni geriet zur Zerreißprobe für die Grünen; Außenministerin und Partei-Realo Annalena Baerbock musste sich öffentlich vor ihrer Basis für die Entscheidung verteidigen.
Entsprechend waren es die Grünen – und darin der linke Flügel als treibende Kraft – welche das lange Veto der Bundesregierung gegen die Krisenverordnung der Asylreform durchsetzten. Das hatte selbst innerhalb der Ampelkoalition zu Ärger geführt; SPD und FDP empfanden ihren Partner als unzuverlässig und sprachen lieber verstärkt miteinander. Ende September forcierte Bundeskanzler Olaf Scholz die Aufgabe der Blockade, um ein Scheitern der Asylreform zu verhindern – eine schwere Schlappe für die Grünen. Sie riskieren in einer zunehmend migrationskritischen Debatte in Deutschland an gesamtgesellschaftlicher Zustimmung einzubüßen. Für Unterstützer mögen sie wie die Verteidiger des Guten und grundlegender Menschenrechte wirken; doch für ihre Kritiker wirken sie wie verblendete Ideologen, deren moralischer Purismus die Handhabe einer Krisenlage unmöglich macht.
Wenig Lust auf Migration
Dass das zweite Lager, jenes der “Migrationskritiker”, größer ist, wird nicht nur anekdotisch unterstrichen, sondern auch in Umfragen: Zuwanderung bringt Deutschland eher Nachteile, so 64 Prozent der Befragten im ARD-Deutschlandtrend im September, 10 Prozentpunkte mehr als im Mai 2023. Ähnlich viele möchten, dass das Land weniger Flüchtlinge aufnimmt. Nur 27 Prozent erkannten mehr Vorteile (-6 PP). Geht es um den Zuspruch für migrationsbeschränkende Maßnahmen, liegt dieser bei 70 bis 80 Prozent.
Im Umkehrschluss blickt ein Großteil der Deutschen mit Ernüchterung auf die Ergebnisse der “aktuellen” Flüchtlingspolitik. Während “Unterbringung und Verteilung” sowie “Abschiebung” tatsächlich auf die momentanen Entwicklungen bezogen sein dürften, wird sich hinter den zwei Punkten zu “Integration” ein Urteil über die Ergebnisse der Migrationsbewegung 2015/16 verstecken. Eine große Mehrheit der Deutschen scheint mit Ernüchterung auf sie zu blicken:
Solche Umfragewerte sind ein gutes Zeichen für die “Migrationskritiker” in der deutschen Parteienlandschaft: Die AfD, die Union und womöglich die FDP, welche die Rolle innerhalb der Koalition auszuüben versucht und regelmäßig gegen die Grünen keilt. In den Umfragen profitieren bislang nur die Rechtspopulisten, doch für die Union und die FDP tun sich Wege auf, sich in dem Thema zu profilieren und, zumindest für erstere, aus einem empfundenen Versagen der Ampelkoalition Nutzen zu schlagen. Eine der besten Strategien für die Union wäre es, die Ampel einfach gewähren zu lassen – entsprechend wenig Freude herrschte parteiintern darüber, dass Parteichef Friedrich Merz mit einer Zahnarztanekdote den medialen Fokus auf sich zog. Purismus und Populismus – Deutschland ist wahrlich zurück in der Migrationsdebatte.
Bergkarabach: Arzach ist nicht mehr_
(5 Minuten Lesezeit)
Turbovariante: Aserbaidschan erobert endgültig Bergkarabach, das wird Armenien auf Jahrzehnte beschäftigen. Wie ist Russlands Rolle zu verstehen?
Ein Abschluss-Explainer, mehr oder weniger. Das armenische Projekt eines armenischen Bergkarabachs ist offiziell beendet. Aserbaidschan eroberte die Region Ende September endgültig.
Die Vorgeschichte in drei Absätzen
Als die Sowjetunion ihre frühe Expansion in den 1920ern antrat, verleibte sie sich auch den Kaukasus ein. Armenien und Aserbaidschan wurden Sowjetrepubliken, und Moskau (genauer der damals aufstrebende Josef Stalin) gab das umstrittene Gebiet Bergkarabach an Aserbaidschan, zum Ärger der Armenier, welche das absolute Gros der Bevölkerung dort ausmachten. Siebzig Jahre später befand sich die Sowjetunion in ihrer Abwicklung. Da Moskau nicht mehr imstande war, seine Republiken im Zaum zu halten, brachen 1988 ethnische Konflikte in Bergkarabach aus, welche sich in einen vollwertigen Krieg hochschaukelten. Bis 1994 hatte Armenien gesiegt – es kontrollierte die Region und einige umliegende aserbaidschanische Gebiete als “Pufferzone”.
Armenien schuf eine pseudounabhängige “Republik Arzach” in Bergkarabach, welches stets lediglich eine kosmetisch-bürokratische Struktur blieb, was allerdings weder die Armenier noch die Bergkarabach-Armenier störte. Obwohl Aserbaidschan in Sachen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in den Folgejahren davoneilte, schien Armeniens Kontrolle über Bergkarabach relativ sicher: Das Gebiet war unwegsam und schwer befestigt; Regionalmacht Russland schien über den Status Quo zu wachen. Gelegentliche Scharmützel und gegenseitige Provokationen gab es zwar, doch es der Konflikt fand mehrheitlich auf der Ebene von Diplomatie und internationaler Meinungsbildung statt: Aserbaidschan konnte seinen juristischen Anspruch auf Bergkarabach geltend machen, schließlich hatte es dieses offiziell als Sowjetrepublik kontrolliert, was auch die UN anerkannte. Armenien hielt mit Verweis auf seine Interpretationen des Sowjetrechts dagegen, doch letzten Endes war Jerewans wichtigstes Argument, dass in Bergkarabach fast ausschließlich Armenier lebten – und das sogar in den Jahrzehnten unter Aserbaidschan.
Die große Wende geschah 2020. Aserbaidschan gelang es, die armenischen Verteidigungsstellungen zu überwältigen, offenbar in hohem Maße dank moderner Kampfdrohnen (tatsächlich handelte es sich damals um die erste große Demonstration der Wirksamkeit von Drohnen im Krieg). Für Armenien geriet dieser Zweite Bergkarabachkrieg, 26 Jahre nach dem ersten, zur Katastrophe. Es musste eine Waffenruhe eingehen und verlor in ihr sämtliche “Puffergebiete” sowie Teile Bergkarabachs. Dieses geriet zur Enklave, welche nur noch über eine einzige Straße – den Latschin-Korridor – mit dem armenischen Kernland verbunden war. Die Existenz der “Republik Arzach” schien damit am seidenen Faden zu hängen, völlig ungeachtet der Tatsache, dass russische Friedenstruppen den Waffenstillstand stabilisieren sollten. Dass Aserbaidschan den Korridor monatelang durch vermeintliche “Umweltaktivisten” blockieren ließ und so die Arzach-Truppen von Armenien abschnitt und aushungerte (eine durchaus kreativere Form der verdeckten Kriegsführung) deutete bereits darauf hin, dass Baku seine Eroberung noch nicht vollendet sah.
Was es mit dem Konflikt in Bergkarabach auf sich hat (Ursprungsexplainer zu Bergkarabach, u.a. mit historischer Einordnung)
Neue Freunde und alte Feinde im Kaukasus (Letzter Explainer zur Lage in Bergkarabach, Januar 2023)
Der Ein-Tag-Krieg
Nun im September beendete Aserbaidschan also, was es 2020 begonnen hatte. Dauerte der Erste Bergkarabachkrieg noch sechs Jahre und der Zweite Bergkarabachkrieg sechs Wochen, so war diese Offensive innerhalb von einem Tag beendet. Arzach kapitulierte, wurde demilitarisiert und aserbaidschanische Truppen rückten ein. Einige Tage später gab der Regierungschef der Region bekannt, dass sämtliche staatliche Institutionen von Arzach ab Jahresende aufgelöst seien. Das staatliche Projekt der Armenier (oder zumindest die armenische Präsenz) in Bergkarabach ist somit auf absehbare Zeit beendet.
Für das Land ist es ein Schock, wenn auch einer, welcher sich nach 2020 abgezeichnet hatte. Während Aserbaidschan feiert, steht Armenien vor einer schwierigen Selbstfindungsphase. Doch zuallererst muss es mit den Flüchtlingen aus Bergkarabach umgehen: Stand 1. Oktober sind über 100.000 Flüchtlinge in Armenien angekommen, aus einer Gesamtbevölkerung von 120.000 in Bergkarabach – der Rest könnte noch folgen. Armenien selbst hat nur 2,8 Millionen Einwohner, erlebt also einen signifikanten Zustrom, auch wenn die hohe Solidarität in der Bevölkerung die Aufnahme erleichtern dürfte.
Die Rhetorik in Armenien ist derweil schrill. Es gibt Klagen über aserbaidschanische Kriegsverbrechen oder eine ethnische Säuberung, welche möglich sind, doch bislang nicht mit Beweisen untermauert worden sind. Die Sorge, dass Aserbaidschan in Kürze auch Armenien attackieren und Jerewan bombardieren würde, ist dagegen äußerst unwahrscheinlich und in erster Linie Ausdruck der Stimmung eines Landes, welches sich seit Jahren belagert und von der Welt im Stich gelassen fühlt.
Missing in Moscow
Interessant ist die russische Rolle in dieser Situation. Moskau hielt lange eine Machtbalance zwischen Armenien und Aserbaidschan aufrecht und entsandte nach 2020 Friedenstruppen – dennoch kam es erst zum Krieg und dann drei Jahre später zur Einverleibung. Zwei Interpretationen bieten sich an: Der Kreml könnte sich unter seinen Kaukasuspartnern für Aserbaidschan entschieden haben, weil Armenien nach 2018 in einer von Moskau verhassten “Farbrevolution” zur Demokratie wurde und sich zuletzt dem Westen zuwandte: Premier Nikol Paschinjan kritisierte etwa, dass Armenien sich nicht mehr auf Moskaus Sicherheitszusagen verlassen könne, führte Armenien in den Internationalen Strafgerichtshof (welcher gegen Putin ermittelt) und ließ wenige Tage vor Aserbaidschans Offensive eine Militärübung mit den USA durchführen. “Selbst schuld”, so die Rhetorik, welche sich in russischen Staatsmedien, doch eben auch seitens der russischen Führung vernehmen lässt. Für den Kreml ist das die genehmere Interpretation. Kein Wunder, dass er seine hörigen Parlamentarier und Medien instruierte, Armenien die Schuld an der Eskalation zuzuschieben. Russische Diplomaten in Jerewan vergleichen Armeniens Westannäherung mit Verträgen mit Nazi-Deutschland in den 1930ern und nennen es einen “Pfad in die Hölle”.
Die zweite Interpretation ist, dass der Kreml nicht imstande ist, seinen Einfluss im Kaukasus geltend zu machen. Der Ukrainekrieg entzieht Russland Ressourcen und Aufmerksamkeit; der Regionalkonflikt im Kaukasus wird zum unwichtigen Nebenschauplatz. Das Erstarken der Türkei, einer wichtigen Verbündeten und Waffenlieferantin Aserbaidschans, kippte die Machtbalance endgültig. Der Zeitverlauf passt hier besser: Russland hatte zwar nie viel Liebe für Paschinjan übrig, doch schien im Kaukasus dennoch den Status Quo zu präferieren. Als Aserbaidschan im Herbst 2020 den Zweiten Bergkarabachkrieg begann, schien es Russland vor vollendete Tatsachen zu stellen: Moskau wirkte erst übertölpelt und wirkungslos; versuchte, eine Waffenruhe herzustellen – deren Zeitpunkt sich Baku unbeeindruckt selbst auszusuchen schien – und entsandte die erwähnten Friedenstruppen. Diese zeigten sich allerdings hilflos gegenüber Aserbaidschans Störaktionen, etwa der Latschin-Blockade und den zahlreichen Grenzscharmützeln, welche nach 2020 ausbrachen. In Armenien wuchs die Wut; der Westruck fand statt. In den letzten Wochen mehrten sich Aussagen wie etwa eben, dass sich Armenien nicht mehr auf russische Sicherheitsgarantien verlassen könnte. Erst danach schien Moskau gegen Jerewan zu wettern.
Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen. Russland war nicht imstande, das sich ändernde Kräfteverhältnis im Kaukasus zu steuern. Armenien distanzierte sich. Also schwenkt Moskau nun um und vertieft sein Verhältnis mit dem Autokraten Ilham Alijew in Aserbaidschan sowie mit der Türkei; dürfte die jüngste Territorialverschiebung stillschweigend oder ausdrücklich akzeptiert haben, Friedenstruppen vor Ort hin oder her.
Alleine in der Welt
Für die Armenier werden die nächsten Wochen nicht nur aufgrund der Flüchtlingswelle und der sehr wahrscheinlich unbegründeten Sorgen vor einer großen Invasion hektisch. Nach dem Bergkarabachkrieg 2020 kam es zu Massenprotesten, welche die Paschinjan-Regierung nahezu hinwegfegten. Noch ist es vor Ort relativ ruhig, doch das könnte sich schnell ändern, sobald der erste Flüchtlingsschock verwunden ist. Für die Nationalisten ist Paschinjan jedenfalls ein “Verräter”. Ohnehin ist Verrat das Wort der Stunde, denn der kleine Binnenstaat Armenien fühlt sich nun umso mehr alleine in der Welt: Der Westen interessiert sich für den Konflikt nur marginal; mit der Türkei und Aserbaidschan ist es von Feinden umringt (auch wenn die Paschinjan-Regierung leichte Fühler zu ersterer ausstreckt); und die einstige Schutzmacht Russland hat den Dolchstoß gesetzt. Von diesem Trauma wird sich Armenien nicht mehr erholen. Und Arzach, so viel steht fest, ist nicht mehr.
Die Aktienmärkte_
Turbo-Zusammenfassung: Die Märkte fielen relativ kräftig: Makroökonomische Risiken in China und Deutschland, dazu ein paar dissonante Töne in den nach wie vor robusten USA, unangenehme Signale von den Anleihemärkten sowie eine Abwartehaltung rund um Inflation und Leitzinsen verunsichern Anleger etwas.
Für einen aktuellen Business-Explainer empfehlen wir unseren Explainer zu Arm, einer der wichtigsten Chipfirmen der Welt, welche noch nie einen Chip hergestellt hat.
Index: 30-Tage-Entwicklung (Entwicklung seit Jahresbeginn)
Dax 40: -2,86% (+9,36%)
S&P 500: -5,04% (+12,13%)
Dow Jones: -3,82% (+1,12%)
Nasdaq 100: -5,01% (+35,47%)
Nikkei 225: -3,28% (+23,88%)
MSCI World ETF (iShares): -4,33% (+11,27%)
Bitcoin: +6,87% (+64,72%)
Quelle: Google Finance, onvista