Deutschlands Strukturkrise: Kein Entkommen vor der Bürokratie

Manche Probleme vergehen nicht über Nacht.
(12 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Bürger und Firmen empfinden Deutschland als Hochbürokratieland. Gerade die Wirtschaft beklagt ernsthafte nachteilige Effekte aufgrund von “Papierkram” und langwierigen Genehmigungsprozessen.
  • Bürokratie hat eine wichtige, positive Rolle für eine moderne Gesellschaft…
  • … doch auch bedeutsame Nachteile in Form hoher Kosten, verlangsamter Projekte und einem Verlust an Standortqualität.
  • Die Datenlage ist durchwachsen, doch bietet Hinweise darauf, dass Deutschland tatsächlich (1) hohe bürokratische Kosten trägt, (2) diese nicht sinken und (3) sie höher als in vielen anderen Ländern ausfallen. Überraschen mag, dass der Verwaltungsapparat im internationalen Vergleich gar nicht sonderlich groß ist.
  • Der Politik ist das Problem bekannt, genauer seit mindestens zwei Jahrzehnten. Aktivität herrscht viel, doch die Erfolge bleiben bislang mehrheitlich aus.
  • Erfreuliche Ausnahmen waren die Bildung eines Normenkontrollrats und die Einführung einer “one in, one out”-Regel.

Unsere Mini-Reihe zu Deutschlands Strukturproblemen. Vergangene Woche: Die Strom-Frage. Dabei ging es darum, warum die Bundesrepublik einen bemerkenswert hohen Strompreis erlebt, was die Folgen davon sind und was sich tun ließe. Heute werfen wir einen Blick auf die Bürokratie. Was ist überhaupt das Problem an ihr (und warum braucht es sie trotzdem)? Was berichten Firmen über ihre Belastung? Was können wir abseits der Anekdoten an Daten finden? Und was wird vonseiten der Politik gegen das hohe Ausmaß an Bürokratie – den Spoiler gestatten wir uns – unternommen?

Kein Entkommen vor der Bürokratie_

Deutschland gilt als Hochbürokratieland, allermindestens, wenn man die Deutschen fragt. 80 Prozent finden, dass sich die Bundesrepublik durch überbordende Bürokratie selbst schade, so eine Allensbach-Umfrage 2023. Wenn es um das ganz eigene Empfinden geht, ist die Lage nur ein Stück besser: 71 Prozent der Bürger erklären, dass sie sich in den letzten fünf Jahren über zu viel Bürokratie in einem Amt oder einer Behörde geärgert hätten. 2007 waren das noch 48 Prozent. Leicht anders (und fast etwas niedlich) formuliert, kam Allensbach 2001 bei der Frage “Haben Sie sich schon einmal über die hiesige Bürokratie geärgert?” auf 90 Prozent Zustimmung.

An Bürokratie ist nicht alles schlecht, ganz im Gegenteil: Sie schafft im Idealfall zuverlässige, konsistente Prozesse, stellt Rechtssicherheit her, wägt unterschiedliche Interessen ab, garantiert Fairness und Überprüfbarkeit, vermeidet illegale Aktivitäten und bietet (allermindestens den öffentlichen Stellen) Transparenz über das, was getrieben wird – ob es nun um dein besteuerbares Einkommen oder den Bau eines Windparks geht. Jedes ausreichend komplexe System benötigt eine Bürokratie. Problematisch wird es, wenn die Bürokratie selbst zum komplexen System wird und ungewollt stark in Prozesse einwirkt. 


Warum Bürokratie ein Problem ist

Die größten Nachteile der Bürokratie sind intuitiv. Sie raubt Haushalten Lebenszeit und kreiert direkte Kosten für Unternehmen. Die Firmen müssen Anträge stellen, Meldungen leisten, Nachweise erbringen, Daten übermitteln oder verfügbar halten und Korrespondenz betreiben – Papierkram, halt. Der Aufwand, der in Firmen dafür entsteht, kostet Geld und bedeutet im Umkehrschluss weniger Investitionen und Arbeitsplätze, auch wenn die Verbindung nicht immer nahtlos nachverfolgbar ist. Selbst Bürokratie, welche als Begleiterscheinung positiver Begebenheiten wie einer Investitionsförderung daherkommt, muss sich dieselbe Kritik gefallen lassen: Würde man den Papierkram minimieren, wäre die Förderung effektiver.

Beispiel Energiepreisbremse, mit welcher die Bundesregierung Ende 2022 die Wirtschaft vor der Energiekrise schützen wollte. Wie bei der Bewerbung für ein kompetitives Stipendium, galt es erst einmal, eine ganze Reihe an Anforderungen zu erfüllen: Wer die Bremse zu beantragen plante, musste einen Mindestverbrauch von 1,5 Millionen Kilowattstunden und einen hinreichend hohen Gewinnrückgang nachweisen, als energieintenisver Betrieb gelten oder zu einer energieintensiven Branche gehören, und noch einige weitere Bedingungen erfüllen. Konkret zwang die Hilfe Firmen dazu, irgendwie frühzeitig nachzuweisen, dass ihr Gewinn vor Steuern und Abschreibungen (EBITDA) im Jahr 2023 um 40 Prozent unter dem Jahr 2021 liegen werde. Das ist ein Jahr vorher denkbar schwierig. Und Firmen mit hohen Abschreibungen blieben ohnehin außen vor, da ihr EBITDA über eine schwierige Lage hinwegtäuschte.

Auf die Anforderungshürde folgte das Beantragungslabyrinth: “Die Antragsstellung ist äußerst komplex und verursacht uns einen gewaltigen administrativen Aufwand”, zitierte das Handelsblatt im April eine Betreibergesellschaft. Das schlägt sich auf die Zahl der Antragssteller nieder, welche zu dem Zeitpunkt lediglich ein Fünftel all jener betrug, welche die Bundesregierung im Sinn hatte. Letzten Endes dürften viele Firmen einfach ausgehalten haben, bis sich die Lage am Energiemarkt organisch entspannt hatte.

Vielleicht den Wohnungsbau als zweites Beispiel, da er ja durchaus zu einer politischen Priorität geworden ist? Im Interview mit der FAZ beschwert sich ein Fertighaushersteller über “sechszehn verschiedene Landesbauordnungen, die sich in vielen Punkten unterscheiden” und zudem von jedem Landkreis ein wenig anders ausgelegt würden. Die Bearbeitungszeit sei uneinheitlich; Änderungen am Prozedere würden von den Behörden zu uneindeutig und mit geringen Übergangszeiten mitgeteilt. Nachforderungen von Dokumenten kämen stückweise und würden die Prozesse immer weiter verlängern. Mit Bauamt, Umweltamt, Verkehrsbehörde, Prüfstatistiker, Brandschutzprüfer und vielen weiteren sei das halbe Behördendorf involviert.

Weiterhin verlangsamt Bürokratie, vor allem die berüchtigten Genehmigungsverfahren, die Durchführung von großen Projekten. Sei es eine E-Auto-Fabrik in Brandenburg, der Bau von Stromübertragungsnetzen aus dem windreichen Norden in den windarmen Süden des Landes oder der Ausbau von Wohnungen – sie starten später oder gar nicht, ziehen sich länger und werden teurer. Das schreckt wiederum gleich im Vorhinein Investitionen ab, denn teurere und langsamere Projekte sind weniger attraktiv und ein Standort erlangt eine zweifelhafte Reputation. Dass Deutschland seine Wohnungsbauziele von 400.000 Neubauten im Jahr um 100.000 Wohnungen verfehlt, liegt maßgeblich an der Bürokratie, welche private sowie öffentliche Investitionen teils verlangsamt, teils vertreibt. Zur Erinnerung: Schon vor der jetzigen Phase hoher Zinsen und teurer Rohstoffe lief der Wohnungsbau weit unter Ziel. 

Bei der “dunklen Seite” von Bürokratie geht es also nicht nur um unzufriedene Firmen, sondern auch um verfehlte gesellschaftliche Ziele. Die Energiewende ist mit Sicherheit das beste Beispiel. Sie benötigt spektakuläre Investitionen in wasserstofffähige Pipelines, Stromnetze, grüne Kraftwerke und vieles mehr. Doch Pipelines, Windräder und Trassen benötigen viel Platz, auf welchem sie Menschen, Tierarten und geschützte Gebiete berühren. Das zieht langwierige Prüf- und Genehmigungsprozesse sowie Klagen nach sich. Oftmals läuft die Infrastruktur auch noch durch unterschiedliche Bundesländer sowie Landkreise, was wechselnde Regeln bedeutet. Kurz gesagt: Überbordende Bürokratie bremst die Klimapolitik aus.

Keinen Nerv für Papierkram

Kein Wunder, dass Bürokratie bei Unternehmen nicht sonderlich beliebt ist. 71 Prozent der Mittelständler hätten “große Sorgen” wegen komplexer Bürokratie, so die DZ Bank. 55 Prozent der Firmen aus dieser Kategorie nennen “staatliche Überregulierung” als größtes Investitionshemmnis (noch vor dem Fachkräftemangel mit 43 Prozent). Unter allen Unternehmen beklagen 65 Prozent, dass die Bürokratie für sie seit 2015 zugelegt habe, so der Verband Deutsche Gewerbliche Wirtschaft. Apotheken benennen Bürokratie als größten Stressfaktor im Arbeitsalltag (und ganze 100 Prozent der Apotheker erkennen eine Bürokratiezunahme in den letzten fünf Jahren). Ärzte klagen über mehr als eine Stunde Papierkram täglich. Laut Handwerksverband ZDH würden sich vier von fünf Handwerksmeister nicht selbstständig machen wollen, weil sie “keinen Nerv auf die ganze Bürokratie” hätten. Kein Wunder: Der Banking-Dienst Kontist schätzt, dass für Selbstständige 24,6 Tage (unbezahlter) Verwaltungsaufwand pro Jahr anfallen und im Schnitt somit 11.735 EUR verloren gingen, Kosten für Steuerberater und Co. nicht eingerechnet. Ein “typischer” Betrieb aus dem Gastgewerbe muss derweil laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) 14 Stunden pro Woche in Bürokratiepflichten investieren, was 1,2 bis 6 Prozent des Umsatzes entspräche.

Bürokratie wirkt dabei nicht für jede Firma gleichermaßen, sondern im Gegenteil marktverzerrend. Größere Firmen können den “zweckfremden” bürokratischen Aufwand weitaus besser stemmen als kleine Firmen und erhalten damit einen mal kleinen, mal gar nicht so kleinen Wettbewerbsvorteil. Und da unterschiedliche Länder unterschiedlichen Bürokratieaufwand haben, wirkt sich dieser auch auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit aus und beeinflusst Investitionsentscheidungen.

Zusammengefasst: Bürokratie hat wichtige Vorteile und um in den Genuss dieser zu kommen, werden die Nachteile toleriertDiese Nachteile sind jedoch nicht trivial, sondern beträchtlich: Haushalte verlieren Zeit, Firmen müssen “zweckfremd” Geld ausgeben, Investitionen finden nicht statt oder verzögern sich, Großprojekte (im Stile der Energiewende) werden massiv ausgebremst, kleine Firmen und Selbstständige werden in ihrer Marktposition geschwächt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Standorts leidet, insofern die heimische Bürokratie abschreckender, teurer oder lähmender wirkt als jene im Ausland.

Je mehr Bürokratie existiert, umso stärker äußern sich diese Nachteile. Theoretisch existiert irgendwo ein perfektes Maß an Bürokratie, so viel wie nötig (um die positiven Effekte mitzunehmen) und so gering wie möglich (um negative Effekte zu vermeiden). Jede Abweichung davon wäre für ein Land nachteilhaft. Doch wie viel Übermaß herrscht in Deutschland eigentlich? Die Anekdoten dazu haben wir bereits erwähnt. Schauen wir jetzt mal, wie viel die Empirie für diese Frage hergibt.

Der Erfüllungsaufwand und die Kosten

Drei Arten von Daten interessieren uns. Wie viel Bürokratie existiert überhaupt aktuell? Wohin geht die Entwicklung? Und wie ist der Vergleich zum Ausland? Gleich vorab: So ganz befriedigend ist die Datenlage nicht. Allein schon, weil Bürokratie nicht so einfach zu quantifizieren ist. Doch es gibt einige Ansätze.

Der Bürokratiekostenindex (BKI) des Statistischen Bundesamts ist eine intuitive erste Anlaufstelle. Er schätzt die Kosten, welche für Unternehmen aufgrund der bürokratischen Belastung entstehen – allerdings nur durch die Informationspflichten aus bundesrechtlichen Regelungen. Erlässt die Bundesregierung ein Gesetz, welches mehr Datenerhebungs-, übertragungs-, oder aufbewahrungsaufwand schafft, steigt der BKI; andersherum sinkt er. Er beantwortet also nicht, wie viel Bürokratieaufwand derzeit existiert, sondern nur, wie die Entwicklung seit Indexstartpunkt 2012 ausgesehen hat.

Der Zeitverlauf zeigt, dass seit 2012 tatsächlich ein Rückgang der Informationspflichten zu erkennen ist – allerdings kein allzu stetiger. Seit 2022 ist die Belastung zudem wieder spürbar gestiegen und hat sämtliche Verbesserungen des Vorjahres neutralisiert.

Im BKI fehlt jedoch vieles, da es nur um Informationspflichten geht. Eine breitere und somit spannendere Metrik ist der Erfüllungsaufwand, welcher alles berücksichtigt, was in Sachen “Befolgung gesetzlicher Vorgaben” anfällt. Die Bundesregierung hat sich dazu verpflichtet, bei ihren Gesetzen den Erfüllungsaufwand einzuschätzen und jährlich über den Stand zu berichten. Im Berichtszeitraum 2021/22 stieg der Erfüllungsaufwand für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung um 6,7 Milliarden EUR auf 17,4 Milliarden EUR. Die Grafik unten zeigt die Veränderung im Erfüllungsaufwand nur für Unternehmen zwischen 2012 und 2021.

Gut zu wissen: Den Zeitaufwand für Bürger schätzt das Statistische Bundesamt auf kollektiv 1,1 Millionen Stunden im Jahr.

Nach einem ordentlichen Rückgang an Aufwand ab 2015 brachen 2020 und 2021 eine große Zahl an neuen Regeln und Richtlinien über Firmen herein. Die Bürokratie in Deutschland scheint zu wachsen, statt zu sinken.

Der Erfüllungsaufwand ist die beste Metrik, welche wir haben, um die Belastung durch Bürokratie einzuschätzen. Gleichzeitig fehlen selbst darin wichtige Dinge, denn es geht ja nur um die Erfüllung von angefallenem Papierkram. Doch gerade mit langen, komplexen Genehmigungsverfahren gehen “versteckte” Kosten einher: Da wären die Unsicherheit über den Verlauf und Ausgang des Prozesses (was, falls die Fabrik doch nicht gebaut werden darf, obwohl sie doch das neue Fundament der Geschäftsstrategie bilden sollte?) und die Opportunitätskosten, welche im Grunde nur ausdrücken: Hätte man sich das langwierige Verfahren gespart, hätte man in der Zeit die eigene Aufmerksamkeit in andere Projekte (die “Opportunitäten”) investieren können. Je langwieriger das Verfahren, umso höher die Opportunitätskosten. Solche “versteckten” Kosten erfasst der Erfüllungsaufwand nicht.

Apropos Genehmigungsverfahren. Auch hier scheint einiges in die falsche Richtung zu laufen: Laut dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) brauchen die Verfahren in der Industrie derzeit im Schnitt 5 bis 10 Gutachten, gegenüber zwei vor 15 Jahren.

Gut zu wissen: Die Kosten für einzelne Firmen sind in Anbetracht der Vielzahl an Regeln verschiedenster Ebene (von Kommunen über den Bund bis nach Europa) nicht ganz einfach festzustellen. Vorhin hatten wir bereit eine Schätzung des deutschen Gastgewerbes erwähnt, wonach Bürokratiekosten 1,2 bis 6 Prozent des Umsatzes ausmachten – eine weite Spanne, welche auf die Heterogenität der Anforderungen für einzelne Firmen und die schwierige Berechnung hindeutet.

Eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) hat sich 2023 drei Firmen aus dem Maschinen- und Anlagebau genau angeschaut. Für das kleinste Unternehmen der Dreien – 125 Beschäftigte – entstanden Erfüllungskosten in Höhe von 3,2 Prozent des Umsatzes oder 705.000 EUR; davon 43 Prozent für den Bereich Steuern, Zoll und Normen (das deckt sich mit Analysen des Wirtschaftsinstituts IW, wonach Steuern 45 Prozent der gesamten Bürokratiekosten verursachen würden). Weitere 25 Prozent fielen für Arbeits- und Umweltschutzregeln an; 18,5 Prozent für Personalbürokratie. Beim mittleren Unternehmen mit 1.250 Mitarbeitern gingen 0,91 Prozent oder 1,36 Millionen EUR in die Bürokratie; beim großen Unternehmen mit 3.500 Mitarbeitern gingen 1 Prozent oder 2,5 Millionen EUR für “Papierkram” ab.

Ein Blick über die Grenze

Und im internationalen Vergleich? Hier sind Daten noch schwieriger zu bekommen. Einen Vergleich des Erfüllungsaufwands, sprich, einen holistischen Gesamtvergleich, gibt es nicht. Doch wenn wir etwas stärker in einzelne “Symptome” der Bürokratie hereinzoomen, können wir (imperfekte) Vergleiche ziehen. Die OECD ermittelte beispielsweise 2017, dass Deutsche nur 17 Prozent ihrer Behördenformulare online einreichen konnten, gegenüber 35,6 Prozent im OECD-Schnitt. Eine Analyse der UN sieht Deutschland in Sachen elektronische Verwaltung (E-Government) nur auf Platz 22. Und der “Ease of Doing Business“-Index, welcher zeigt, wie einfach es ist, in den Ländern der Welt Geschäfte zu treiben, verortete Deutschland 2019 insgesamt ebenfalls auf Platz 22. Doch die Bundesrepublik wurde vor allem von ihrem Rechtsstaat und juristischer Verlässlichkeit gerettet; beispielsweise seien Verträge gut durchsetzbar und Insolvenzen einfach abwickelbar. Anders die bürokratielastigsten Kategorien: In “Eine Firma starten” ist Deutschland Platz 125, in “Umgang mit Baugenehmigungen” auf Platz 30, in “Eigentum registrieren” auf Platz 76 und in “Steuern zahlen” auf Platz 42. Das sind keine guten Ergebnisse. Ob Deutschland nun das schlimmste Bürokratiemonster der (industrialisierten) Welt ist, lässt sich daraus nicht herauslesen. Dass es gegenüber vielen seiner Wettbewerber schwächelt, hingegen schon.

Es ist nicht alles schlecht

Zwei Eindrücke zur Bürokratie lassen sich allerdings nicht so einfach bestätigen. Der Bürokratieapparat in Deutschland ist endlos aufgebläht? Die absolute Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst steigt zwar, doch anteilig entfielen auf ihn 2020 nur 10,85 Prozent aller Beschäftigten, was weitaus niedriger als die 18,36 Prozent EU-Durchschnitt war. Darin ist der ganze öffentliche Sektor einbegriffen, mitsamt Polizisten, Lehrern und Co. Die Verwaltung selbst platzt ebenfalls nicht aus allen Nähten, zumindest gemessen an ihrem Aufgabenpensum: Sie klagt über 360.000 unbesetzte oder fehlende Stellen.

Und auch die persönliche Erfahrung der Bürger mit Behörden ist meist gar nicht so übel, selbst wenn sie in Befragungen über zu viel Bürokratie klagen. Auf einer Skala von -2 bis +2 in einer Umfrage des Statistischen Bundesamts bewerteten Deutsche ihre Erfahrung mit 21 verschiedenen Dienstleistungen im Schnitt mit +1,2, waren also eher zufrieden. Sehr ähnliche Werte hatte es schon 2017 und 2015 gegeben. Geht es um die Einschätzung unterschiedlicher “Qualitäten” der Behörden, ist die Meinung mit einem Schnitt von 1,07 ebenfalls relativ gut. “Unbestechlichkeit” begeisterte die Deutschen (+1,8) regelrecht, Digitalisierung und Verständlichkeit (beide +0,5) etwas weniger, doch wurden noch immer eher als zufriedenstellend empfunden.

Was macht die Politik?

Die deutsche Politik ist sich des Problems bewusst. “Menschen und Betriebe werden jeden Tag durch überbordende Bürokratie ausgebremst. Das gefährdet Wachstum und Arbeitsplätze und muss deshalb aktiv zurückgeschnitten werden”, so Finanzminister Christian Lindner (FDP) erst vor einigen Tagen. Bürokratieabbau ist aber längst kein exklusives Thema der wirtschaftsfreundlichen Liberalen, sondern wurde von fast jeder Partei im Wahlprogramm 2021 erwähnt. Auf der Website der Bundesregierung wird offen davon gesprochen, dass Energiewende, Wohnungsbau, Infrastruktur und Industrie “mehr Tempo” benötigen würden.

Schon seit 2006 existiert der Normenkontrollrat, ein unabhängiges Gremium, welches die Bundesregierung beim Thema Bürokratie berät. Auf sein Anregen hin führte die Große Koalition 2015 das “One in, one out“-Prinzip ein: Jedes Gesetz, welches Belastung bringt (Erfüllungsaufwand), muss durch eine Entlastung anderswo begleitet werden. Die Regel hat Experten zufolge durchaus geholfen, das Wachstum der Bürokratie zu stoppen – und senkte sie zwischen 2015 und 2019 netto sogar -, doch gerade ab 2020 ist der Erfüllungsaufwand wieder enorm in die Höhe gesprungen (s. Grafik weiter oben). Das liegt in erster Linie an Ausnahmen: Hochrichterliche Entscheidungen oder EU-Regeln sind zum Beispiel nicht betroffen. Und die angekündigte “One in, one out”-Regel auf EU-Ebene lässt mit unklarem Ausgang auf sich warten.

Auch andere Initiativen gegen die Ineffizienz der Bürokratie kommen nur schleppend voran. Das 2017 erlassene Onlinezugangsgesetz (OZG) ist ein Beispiel: 575 Verwaltungsleistungen sollten bis Ende 2022 vollständig digitalisiert werden, verpflichtend wohlgemerkt. Die Digitalisierung hätte auf Nutzer- und auf Verwaltungsseite Aufwand abgebaut. Als Mitte 2022 klar wurde, dass das Ziel nicht ansatzweise gelingen würde (keine drei Dutzend Dienstleistungen waren digitalisiert), wurden 35 priorisierte Projekte definiert. Stand Anfang 2023 waren selbst davon 33 nicht umgesetzt. “Strukturelle Herausforderungen im Zusammenwirken der Ebenen [zwischen Bund, Ländern und Kommunen; Anmerkung der Redaktion]”, erklärte der Normenkontrollrat in einer Analyse des Scheiterns. Er beschrieb sogleich genauer, woran es lag: “Etwa komplizierte Koordinierungsstrukturen, fehlende Standardisierung und mangelnde Verbindlichkeit.”

Vielleicht hilft ja der Koalitionsvertrag der Ampel, welcher ein neues Bürokratieentlastungsgesetz vorsieht. Die Ampel ließ dafür 57 (Wirtschafts-)Verbände Vorschläge erarbeiten, wovon 442 zustandekamen. Nur 35 Prozent davon seien aber tatsächlich umsetzbar, schätzt das Statistische Bundesamt, vor allem, da EU-Recht oftmals im Weg ist. Parallel möchte die Ampel Genehmigungs- und Planungsverfahren per Gesetz erleichtern, doch Details stehen noch aus. Es ist Beobachtern verziehen, wenn sie inzwischen zynisch auf die Versuche zur Entlastung blicken.

Weiterlesen: 

Deutschlands Strukturkrise: Die Strom-Frage (August 2023)

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