Deutschlands Strukturkrise: Wo sind die Arbeiter?

Unsere Mini-Reihe zu Deutschlands Strukturproblemen. Vergangene Wochen: Die Strom-Frage und die niemals endende Bürokratie. Heute werfen wir einen Blick auf den Fachkräftemangel. 


(15 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Deutschland steckt im Fachkräftemangel. Hunderttausende Stellen bleiben unbesetzt, fast die Hälfte der Firmen klagt.
  • Der Siegeszug des Teilzeitmodells (30% aller Arbeitnehmer!), eine allgemein geringe Arbeitszeit und der demografische Wandel tragen dazu bei.
  • Die Folgen sind nicht trivial: Ein schwächerer Wirtschaftsstandort, ein ärmerer Staat und wankende gesellschaftliche Prioritäten.
  • Was also tun? Lohnerhöhungen können helfen, doch sind vermutlich weniger effektiv, als es den Anschein macht.
  • Zuwanderung ist wichtig, doch wird die Lücke alleine nicht stopfen können.
  • Arbeiter lassen sich wohl am besten in die Vollzeit zurücklocken, indem das Arbeitsumfeld attraktiver gemacht wird, z.B. durch Homeoffice-Möglichkeiten.
  • Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters könnte früher oder später notwendig werden. Qualifikationsprogramme und Anpassungen in der Arbeitslosenhilfe könnten neue Arbeitskräfte hervorbringen.
  • Produktivitätswachstum würde weniger Arbeitskraftbedarf bedeuten – und könnte interessanterweise eine Folge des Fachkräftemangels sein.

Wo sind die Arbeiter?_

Wenn du nächstes Mal vor dem Büro der Personalabteilung stehst, um dein einjähriges Sabbatical zu beantragen, nimm lieber etwas Zeit mit. Susanne aus Accounting ist dort, um ihre Gehaltserhöhung gegen mehr Urlaubstage einzutauschen. Stefan hämmert gerade die betriebsinterne Petition an die Wand, in welcher die Vier-Tage-Woche gefordert wird. Hubert und Henriette teilen sich ihre Position künftig fünfzig-fünfzig. Und Lukas, fast schon langweilig, wechselt in die Teilzeit.

Deutschland arbeitet anders als früher. Daran ist nichts verkehrt, zumindest aus individueller Sicht: Letzten Endes muss jeder selbst wählen, was ihm oder ihr passt – und wenn Situation und System es hergeben, warum nicht? Doch die Größenordnung, in welcher Deutschland heute kürzer arbeitet, wird viele überraschen. Und es hat inzwischen echte, messbare Folgen für das Land.


Wozu ganz, wenn teils geht

30 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten in Teilzeit, deutlich mehr als 1991, als es noch 14 Prozent waren. Sie arbeiten anstelle von durchschnittlich 40,5 Stunden Vollarbeitszeit nur rund 20,8 Stunden die Woche. Unter den Frauen ist sogar fast die Hälfte in Teilzeit. Die durchschnittliche Gesamtarbeitszeit im Land liegt damit deutlich niedriger, nämlich bei circa 34,8 Stunden die Woche im Jahr 2021, so das Statistische Bundesamt – der drittniedrigste Wert in Europa und deutlich unter den 38,4 Stunden aus 1991. Könnten die Deutschen wählen, wäre das aber nicht genug: Ihre Wunscharbeitszeit beträgt laut Sozioökonomischem Panel (SOEP) nur noch 32,8 Stunden, so niedrig wie noch nie seit 1985. Vor 23 Jahren betrug der Wunschwert noch 34,4 Stunden.

Gut zu wissen: In der OECD arbeitet niemand so wenig wie die Deutschen mit 1.341 Stunden im Jahr pro Arbeiter. Zum Vergleich: In Frankreich sind es 1.511 Stunden, in den USA 1.811 und im OECD-Schnitt 1.752. Our World in Data kommt zum selben Schluss für 66 Staaten: Deutschland liegt mit einigem Abstand hinten.

Der Wunsch nach Teilzeit scheint dabei unabhängig der noch immer meist von Frauen geleisteten Kinderbetreuung und Angehörigenpflege zu existieren, denn die favorisierte Arbeitszeit sinkt bei beiden Geschlechtern. Zudem hat nur jede zweite Frau in Teilzeit Kinder unter 18 Jahren zuhause und nur ein Viertel der Teilzeitler begründet das Modell mit Kindern oder Pflege, so das Statistische Bundesamt. Stattdessen sei die häufigste Begründung, dass die Arbeit zu stressig sei oder man nun einmal Lust auf Freizeit habe – “freiwillig im engeren Sinne”, so die Statistikbehörde.

Die sinkenden Arbeitszeiten kosten die deutsche Volkswirtschaft. Ein solcher Satz provoziert bei manchen Beobachtern den Fehler, in ein Denkmuster von “würdevoller Freizeit gegen menschenverachtenden Ökonomismus” zu verfallen. Doch allein durch Teilzeit gehen nach Schätzungen des Wirtschaftsinstituts RWI 15,7 Milliarden EUR an Einkommenssteuer, 20 Milliarden EUR an Einzahlungen in die Krankenversicherung und 4,2 Milliarden EUR für die Pflegeversicherung verloren (der Vollständigkeit halber: Der Staat spart sich auch 1,85 Milliarden, weil geringere Sozialleistungen notwendig sind). Macht knapp 38 Milliarden EUR Minus für den Fiskus.

Das ist Geld, welches staatlichen Ausgabenwünschen und gesellschaftlichen Sicherungssystemen, also letztlich zur Umverteilung, fehlt. Während Teilzeitler ihre geringeren Einzahlungen in die Rentenkasse direkt spüren, erhalten sie aus den Kranken- und Pflegekassen dasselbe wie die Vollzeitler und profitieren im selben Maße von staatlichen Ausgabeprojekten. Eine Fairnessfrage drängt sich also auf. Dazu kommt, dass das progressive Steuersystem weniger Arbeiten begünstigt: Wer auf 60 Prozent Arbeitszeit wechselt, behält mehr als 60 Prozent Nettolohn – schließlich greifen niedrigere Steuer- und Abgabensätze. Oder andersherum gesagt: Wer mehr arbeitet, verdient unterproportional mehr. Wer mehr Freizeit hat, kriegt diese völlig netto.

Die 38 Milliarden EUR, welche der Gesellschaft verloren gehen, machen immerhin fast 7 Prozent des geplanten Haushalts 2024 aus. Die FAZ rechnet in einem Artikel vor: Mit der Summe ließe sich umgehend das 2-Prozent-Ziel der NATO erreichen, das Budget der Ministerien Bildung und Familie verdoppeln (also beide gleichzeitig), die Investitionen in die Schiene vervierfachen oder die legale Steuervermeidung durch Großkonzerne schätzungsweise doppelt ausgleichen. 

Gut zu wissen: Die Teilzeit mag unschlagbar beliebt sein, doch auch die sogenannte überlange Arbeitszeit findet Abnehmer. 8,8 Prozent aller Beschäftigten arbeiteten 2021 über 48 Stunden pro Woche, Männer dabei doppelt so oft (10,5 Prozent) wie Frauen (5,4 Prozent).

Fachkräftemangel

Der Opener zur Teilzeit gehört selbstverständlich zum größeren Thema Fachkräftemangel. Dass Teilzeitarbeit das progressive Steuern- und Abgabensystem smart ausnutzt und die Staatskasse ein wenig leert, ist nur ein Nachteil. Der andere ist, dass Unternehmen, Behörden und Organisationen weniger Arbeitszeit zur Verfügung haben. Könnten sie diese einfach durch mehr Arbeitskräfte füllen, wären die Nachteile trivial. Doch das können sie immer öfter nicht – der Fachkräftemangel greift um sich.

Insgesamt konnten im Juli 2023 ganze 43,1 Prozent der deutschen Firmen ihre offenen Stellen so schlecht füllen, dass sie sich dadurch geschäftlich beeinträchtigt fühlten. Im April desselben Jahres waren es noch 42,2 Prozent, Ende 2019 ca. 30 Prozent, im Jahr 2015 ca. 20 Prozent und im Jahr 2009 nur 10 Prozent. Das zeigt eine Zeitreihe des ifo-Instituts, welches quartalsweise rund 9.000 Firmen befragt. Vor allem der Dienstleistungssektor leidet derzeit. In der Rechts- und Steuerberatung würden 75 Prozent der Firmen nicht die gewünschten Bewerber finden können, in den Bereichen Verkehr, Architektur und Ingenieurswesen seien es zwei Drittel. Doch auch das verarbeitende Gewerbe kommt nicht gut weg, mit 40,9 Prozent betroffenen Firmen im Maschinenbau. Die Momentaufnahmen mögen auch in Anbetracht der Post-Pandemie-Zeit trügen, doch der langfristige Trend ist ziemlich eindeutig.

Insgesamt fehlten im April 2023 laut dem arbeitgebernahen Wirtschaftsinstitut IW rund 540.000 Fachkräfte. Laut Bundeswirtschaftsministerium betrifft die Lücke 352 von 801 Berufsgruppen, also 44 Prozent. Zwischen den Branchen kann es dabei sehr unterschiedlich aussehen. Das IW bot im August 2022 eine Liste (PDF): Die Sozialarbeit und Sozialpädagogik hatte mit 20.578 am meisten offene Stellen im Durchschnitt des Jahres 2022, gefolgt von der Kinderbetreuung und -erziehung, der Altenpflege und der Bauelektrik. Es sind also vornehmlich soziale Berufe und technische Berufe (“MINT”), welchen die Arbeitskräfte fehlen. Genauso sieht es in der Prognose für 2026 (PDF) aus – außer, dass “Verkauf” auf einmal ganz vorne sei. Übrigens: Die Beschäftigung in vielen der Mangelberufen steigt zwar, doch der Bedarf umso schneller.

Gut zu wissen: Erst im August 2023 berichtete der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), dass 47 Prozent der befragten 14.000 Betriebe nicht mehr sämtliche Ausbildungsplätze besetzt bekommen. Das seien doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. 37 Prozent hätten keine einzige Bewerbung erhalten. 

Warum stört uns der Fachkräftemangel eigentlich? Wo Arbeitskräfte fehlen, kann keine Wertschöpfung entstehen. Sei sie strikt unternehmerischer Natur oder eben “sozialer Wert”. Ein wenig plakativer ausgedrückt: Ohne Handwerker gibt es keine Energiewende, ohne IT-ler keine Digitalisierung und ohne Bauarbeiter keine Wohnungen. Je weniger gearbeitet wird, umso weniger Steuereinnahmen macht der Staat, um seine Projekte zu finanzieren oder den Sozialstaat aufrechtzuerhalten. Zeitgleich steigt die Arbeitsbelastung für jene Fachkräfte, welche es noch gibt (was für sie im Umkehrschluss einen Wechsel in die Teilzeit attraktiver macht). Durch einen Mangel an Fachkräften wird Deutschland wiederum als Investitionsstandort unattraktiver, da Arbeiter entweder nicht verfügbar oder sehr teuer sind. Firmen ziehen ab oder kommen nie her. Wertschöpfungsketten, Umsätze, Steuereinnahmen und technologische Durchbrüche verlagern sich ins Ausland. Immerhin: Viele Industriestaaten kämpfen mit Fachkräftemangel.

Demografischer Wandel

Der Fachkräftemangel wird dadurch angetrieben und verschärft, dass Deutschland schnell altert. Die “Babyboomer”, Hüter der letzten wahrlich geburtenstarken Jahrgänge, dürften in spätestens zehn Jahren praktisch nicht mehr am Arbeitsmarkt vertreten sein. Sie werden durch weitaus kleinere Kohorten ersetzt. Eine konstante Arbeitskraftnachfrage kann also rein rechnerisch überhaupt nicht inländisch gedeckt werden. Im Jahr 2000 hatte Deutschland noch (je nach Datensatz) 42 oder 43 Millionen Erwerbstätige. Bis 2050 könnte das auf 30 Millionen sinken, wie etwa die Förderbank KfW schätzt. Solche Prognosen sind allerdings mit sehr viel Unsicherheit behaftet: Dass Deutschlands Bevölkerung in den letzten zehn Jahren ansteigen würde und auch die Zahl der Erwerbstätigen bei jetzt über 45 Millionen liegt – also höher als im Jahr 2000 -, war vor 20 Jahren noch von kaum einem Analysten erwartet worden. Das liegt allerdings nicht an einer Umkehr des demografischen Trends, sondern an (in erster Linie an ungeplanten) Migrationsereignissen.

Die Verschärfung des Fachkräftemangels durch den demografischen Wandel ist weder für die Wirtschaft, noch die Gesellschaft im weiteren Sinne gut – schließlich sind es auch Feuerwehren, Schulen und Krankenhäuser, welchen die Arbeitskräfte ausgehen. Nicht einmal für die Arbeiter ist es unbedingt erfreulich: Einige werden zwar dank hoher Nachfrage bei wenig Angebot eine starke Marktposition genießen und hohe Löhne abgreifen. Doch wenn der gesamte Wirtschaftsstandort leidet, könnte ironischerweise eine Situation entstehen, in welcher die Arbeitslosigkeit doch hochschnellt. Zu viele Firmen wären insolvent, abgewandert oder verkleinert; der Staat würde bei den hohen Arbeitskosten sparen. Es wäre eine Polarisierung des Arbeitsmarkts: Einige Fachkräfte hoch begehrt und teuer bezahlt, andere ohne Job. 

Dazu kommt, dass Deutschland sich fragen müsste, was für eine Art von Sozialstaat es bieten möchte. Sollen Rentenzahlungen und Gesundheitsleistungen auf bestehendem Niveau weiter geleistet werden, doch für viel mehr Bezieher und erbracht von viel weniger Einzahlern, so müssten die Steuern und Abgaben womöglich weiter steigen. Das macht Arbeit weniger attraktiv und schreckt ausländische Fachkräfte ab.

Lösungen_

Quelle: Jean Beaufort, publicdomainpictures

Was also tun? Es gibt einige ziemlich klare Hebel. Deutschland muss es schaffen, die Zahl der Arbeitskräfte oder die gearbeiteten Stunden pro Arbeitskraft zu erhöhen, den demografischen Wandel zu verlangsamen, die Produktivität zu steigern oder die Nachfrage am Arbeitsmarkt zu senken. Schauen wir uns die Wege an, wie sich das erreichen ließe.

Das Scheckbuch zücken

Wie wäre es, wenn Unternehmen einfach höhere Löhne bieten? Dem ließe sich instinktiv entgegenhalten, dass nicht jede Firma und Organisation dazu imstande ist – doch das muss nicht mal unbedingt ein Problem sein. Denn der wohl einzige Silberstreifen von Fachkräftemangel und demografischem Wandel ist, dass sie positive Impulse für eine produktivere Wirtschaft setzen könnten. Einmal, weil Firmen plötzlich mehr in hochmoderne Technologien und Weiterbildungen investieren müssen. Zweitens, weil mehr Wettbewerb um Arbeitskräfte bedeuten dürfte, dass sich produktivere Firmen durchsetzen und weniger produktive aus dem Markt verschwinden.

Die produktiveren Firmen sind besser in dem, was sie tun, als der Rest der Branche. Dadurch können sie in der Regel höhere Löhne zahlen. Weniger produktive Firmen können es nicht und verlieren nach und nach an Marktposition. Die begehrten Arbeiter erzielen in den produktiveren Firmen mehr Wertschöpfung, als es beim vorherigen Arbeitgeber der Fall gewesen war. Dadurch kann der erhöhte Konkurrenzdruck um Arbeiter zu einer insgesamt besser funktionierenden Wirtschaft mit mehr Wohlfahrt führen, zumindest mehr Wohlfahrt pro Arbeiter.

Der Fachkräftemangel würde sich also selbst “lösen”, indem er die Produktivität steigert und die Nachfrage senkt (da ein bestimmtes Wohlstandsniveau durch weniger, aber produktivere Arbeiter erreicht werden kann). Nun könnte die absolute Zahl der Arbeiter durchaus stärker sinken als die Produktivität steigt, womit der Fachkräftemangel zwar nicht gelöst, doch zumindest abgefangen wäre. Das sehen etwa auch das ifo-Institut und das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) als Chance.

Der Arbeitsmarkt ist allerdings kein perfekter Markt. Der obige Marktmechanismus wird durch allerlei sogenannte Transaktionskosten gestört, beispielsweise, dass Arbeiter nicht wissen, wo sie mehr Gehalt erhalten oder nicht einfach überall hin umziehen können. Das wird den “selbstausgleichenden” Effekt des Fachkräftemangels dämpfen. Entsprechend fordert etwa das IZA zuerst ein verbessertes Transparenzgesetz, damit Arbeiter wissen, wo ihnen wie viel Gehalt blüht.

Und dann wäre da noch der paradoxe Effekt, dass höhere Löhne in einigen Milieus zu mehr Teilzeit und damit weniger Fachkraft führen könnten: Ausgerechnet in besser dotierten Berufen ist der Wunsch, noch mehr zu verdienen, oft nicht sonderlich hoch, wie etwa das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) betont. Stattdessen werden Freizeit und damit zusammenhängende immaterielle Werte stärker gewichtet. Höhere Löhne könnten ironischerweise zu mehr Teilzeit führen, da jetzt bereits mit weniger Prozent Arbeitszeit ein angenehmes Gehaltsniveau erreicht wird. Bei niedrigeren Einkommensklassen dürfte der Link zwischen höheren Gehältern und mehr Arbeitszeit aber meist gut halten.

Vollzeitpeitsche und Vollzeitzuckerbrot

Die Teilzeitarbeit ließe sich weniger attraktiv gestalten, zum Beispiel, indem ihr impliziter Steuervorfall irgendwie abgebaut wird. Das dürfte allerdings gerade für Parteien mit linken und besserverdienenden Wählern beinahe unverhandelbar sein. Anderswo gibt es durchaus Unterstützung für diese Idee, etwa seitens der Union und einiger FDP-ler. Der Präsident des Arbeitgeberverbands forderte kaum überraschend “Bock auf Arbeit”. Etwas überraschender mag ein ähnlicher Einwurf der früheren SPD-Spitze und jetzigen Arbeitsagentur-Chefin Andrea Nahles gewesen sein: “Arbeit ist kein Ponyhof”, erklärte sie.

Allerdings bliebe selbst bei politischem Willen die Frage der Umsetzbarkeit: Gäbe es künftig gute Teilzeit (Kinder, Pflege, Krankheit, Ehrenamt) und schlechte Teilzeit (weil man halt will)? Wer würde sie überprüfen? Wie viel Krankheit oder Ehrenamt ist genug? Wie genau würde Teilzeit überhaupt steuerlich sanktioniert werden? Mangels klarer Ideen und hoher Komplexität bliebe wohl einfach nur eine Senkung der Steuern- und Abgabenlast insgesamt. Das würde die relative “Immer-netto”-Attraktivität von Teilzeit gegenüber dem unterproportionalen Mehrverdienst längerer Arbeitszeiten senken.

Einfach mehr Gehalt zu zahlen würde, wie schon gesagt, vermutlich weniger Menschen ins Büro locken, als gehofft. Doch immaterielle Verbesserungen könnten helfen: Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie würde allem Anschein nach 37 Prozent der Teilzeitlern entgegenkommen (siehe unsere Grafik oben zu Teilzeit-Gründen). Flexibilisierungen wie Remote-Arbeit und Homeoffice könnten die Notwendigkeit oder den Wunsch nach Teilzeit oder Sabbaticals reduzieren. Und ganz allgemein: Ein Arbeitsumfeld, welches als angenehmer empfunden wird, lädt stärker dazu ein, dort mehr Zeit zu verbringen.

Das könnte viel bewirken. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) rechnet vor, dass eine Erhöhung der Frauenerwerbsbeteiligung um 10 Prozent zu 700.000 mehr qualifizierten Fachkräften führen würde. Die genaue Zahl hin oder her: Eine Steigerung der Arbeitszeit wäre ein kräftiger Hebel.

Gut zu wissen: Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie dürfte auch helfen, den demografischen Wandel zu verlangsamen, da sie das Kinderkriegen attraktiver macht. Der rasante Ausbau von Kitaplätzen und großzügigere Regeln zur Elternzeit trugen dazu bei, dass die Geburtenziffer von 1,24 Kindern pro Frau 1994 auf 1,6 Kinder im Jahr 2016 gestiegen ist. Seitdem ist die Zahl allerdings wieder auf 1,46 gesunken, den niedrigsten Wert seit 2013.

Potenziale entfesseln

Ein Weg, die gesamte Arbeitszeit zu erhöhen, ist es, Arbeitslose in die Erwerbstätigkeit zu holen. Arbeitslosenhilfen oder bedingungslose Grundeinkommen können das nicht leisten. Ein Radikalmodell ohne Transfers zwingt Menschen zwar zum Arbeiten, doch ist moralisch fragwürdig und in Deutschland aussichtslos. Ein Zwischenweg wären beispielsweise Lohnsubventionen durch den Staat: Eine Aufstockung des Lohns (oder andersherum eine Kompensation der Lohnkosten für Unternehmen) würde mehr Menschen in den Arbeitsmarkt holen.

Hinter der Arbeitslosigkeit versteckt sich zwar ein Pool aus knapp 2,6 Millionen Menschen, doch sie könnten nicht ohne Weiteres in allen betroffenen Berufsgruppen zum Einsatz kommen. Damit handelt es sich um keine Wunderwaffe gegen den Fachkräftemangel. Qualifikations-, Umbildungs- und Weiterbildungsprogramme könnten jedoch noch mehr Potenzial freischalten. Und ein Ansetzen bei jungen Menschen hätte ebenfalls Wirkung: Laut OECD gingen im Herbst 2022 immerhin 9,7 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 24 Jahren weder einem Job noch einer Ausbildung nach – also 590.000 Menschen. 

Gut zu wissen: Die Ampelkoalition versucht, mittels ihres Bürgergelds Qualifikationsprogramme attraktiver zu machen. Bezieher erhalten 75 bis 150 EUR, wenn sie ein entsprechendes Programm belegen. Im Jahresverlauf soll außerdem ein dediziertes Aus- und Weiterbildungsgesetz folgen.

Das Rentenalter anfass- na gut, das nehmen wir zurück

Wenn schon die Teilzeit nur vorsichtig anfassbar ist, so ist das Renteneintrittsalter regelrecht giftig. Eine Erhöhung des Rentenalters würde Menschen länger im Arbeitsmarkt behalten und damit Steuern, Sozialabgaben sowie Wertschöpfung erhöhen und Sozialleistungen senken. Unter Ökonomen ist eine Abschaffung der Rente mit 63 (bzw. eine Verengung auf besonders bedürftige Personen) oder eine Erhöhung des Renteneintrittsalters praktisch unumstritten. Selbst das linksgerichtete Wirtschaftsinstitut DIW spricht sich etwas verklausuliert dafür aus, auch wenn es nominell eher eine “Flexibilisierung” des Eintrittsalters wünscht und vor mehr Altersarmut warnt, sollte das Alter einfach mit dem Vorschlaghammer erhöht werden.

Die Politik weiß, dass die Renten anzufassen politischem Harakiri gleichkäme und lässt es drum sein. Der heutige Kanzler Olaf Scholz ließ im Wahlkampf 2021 erklären, dass ein Expertengremium des Wirtschaftsministeriums bei seiner entsprechenden Forderung “falsch gerechnet” habe. Die Rentenpolitik konzentriert sich heutzutage vor allem auf Wege, das Rentenniveau langfristig zu halten, zum Beispiel per Kapitaldeckung. Das hat allerdings wenig mit dem Fachkräftewandel zu tun.

Die Zuwanderung als Rettung?

Die Zuwanderung ist eine elegante Lösung für den Fachkräftemangel und demografischen Wandel, doch sie ist nicht einfach umzusetzen. In Anbetracht seines Geburtensaldos würde Deutschland netto mindestens 400.000 ausländische Fachkräfte pro Jahr benötigen; laut Schätzungen des ifo-Instituts gar 490.000. Zwischen 2017 und 2021 betrug die tatsächliche Nettozuwanderung knapp 340.000 Personen im Jahr. Extrapolieren wir das bis 2040, hätte Deutschland dann rund 3,4 Millionen weniger potenzielle Arbeitskräfte.

Die Zahl anzukurbeln, ist gleich in mehrfacher Form knifflig. Deutschland ist nicht der einzige Industriestaat, welcher um Fachkräfte buhlt. Die starke Unternehmenslandschaft, der hohe Lebensstandard und die insgesamt gute Reputation im Ausland stehen den Nachteilen gegenüber: Die Bundesrepublik ist ein nicht-anglophones, bürokratieintensives Hochsteuerland mit wechselhaftem Wetter und uneindeutigen Wirtschaftsaussichten – und all das spricht sich allmählich rum. Wichtige Herkunftsländer, wie jene in Osteuropa, leiden zudem unter ihrem eigenen demografischen Wandel, werden also immer weniger Zuwandernde bieten.

Nachdem die Politik relativ lange ziellos agiert hatte, versucht sie sich inzwischen, der Zuwanderung aktiver anzunehmen. Mit einem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz vereinfacht der Bund die Bürokratie für interessierte ausländische Arbeiter, senkt Mindestverdienstgrenzen und flexibilisiert per “Chancenkarte”-cum-Punktesystem die Wege, ins Land zu gelangen. Asylanten, welche Stand Ende März 2023 bereits im Land waren, erhalten einen einfacheren Pfad zum Arbeitsmarkt. Ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz soll die Einwanderung attraktiver machen, indem der Weg zur Einbürgerung deutlich vereinfacht wird.

Die Zuwanderung ist nicht nur aufgrund der unklaren Machbarkeit eine imperfekte LösungIn den Details, wie sie gehandhabt werden sollte, herrscht gesellschaftlich keine Einigkeit. Die schnelle Einbürgerung und der “Spurwechsel” für Asylbewerber stören die Konservativen, welche zudem striktere Kriterien dafür anlegen, was für Zuwanderung überhaupt erwünscht ist. Linke Parteien blicken mit Unbehagen auf die Trennung zwischen “qualifizierten” Migranten und jenen, die es weniger sind. Sie reagieren auch sensibler auf das Argument, dass Zuwanderung die Herkunftsländer schwächt, da diesen ja nun im Umkehrschluss die Fachkräfte fehlen. Zu guter Letzt wäre die benötigte Größenordnung – rund 1,5 Millionen Zuwanderer jährlich, um auf die netto 400.000 zu kommen – eine Belastungsprobe für die Integrationskapazitäten im Land.

Ein Fazit

Was bleibt also? Wenn Deutschland seinen Fachkräftemangel lösen möchte, muss es an mehreren Stellschrauben gleichzeitig drehen. Zuwanderung ist zwar unumgänglich, doch kann das, was benötigt wäre, alleine kaum leisten – und kommt mit eigenen Kosten daher. Der demografische Wandel wird sich nicht umkehren lassen, aber kann ein wenig verlangsamt werden. Mehr inländische Arbeitskräfte können unter den Arbeitslosen, Rentnern und Frauen gefunden werden: 20 Prozent der Männer und 30 Prozent der Frauen im erwerbstätigen Alter sind nicht erwerbstätig. Das setzt allerdings politische Reformen voraus, welche nicht allesamt beliebt sind. Auch die Erhöhung der Arbeitszeit wäre wertvoll, doch nicht einfach herzustellen.

Dass das Problem einfach durch höhere Löhne geregelt wäre, ist illusorisch, doch sie könnten tatsächlich einen wichtigen Beitrag leisten; gerade in unteren Einkommensklassen. Flankiert mit einer Verbesserung der immateriellen Arbeitsumstände – sprich, wie sehr es Arbeitnehmern gefällt, arbeiten zu gehen – könnte die Arbeitszeit ihren Rückgang der letzten Jahrzehnte womöglich umkehren. Und zu guter Letzt kann der Druck des Fachkräftemangels zu Marktdynamiken führen, welche mehr Produktivität herbeiführen. Die Arbeitslücke könnte sich also teilweise von selbst lösen, allerdings nicht, wenn der Staat etwa mit Subventionen dazwischen gehen würde. Ziemlich viele Aufgaben für die Bundesrepublik. Doch keine Sorge: Wir haben 34,8 Stunden pro Woche, um sie zu lösen. 

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