… so ein bisschen, zumindest. An ihre Stelle treten neue Fragezeichen.
06.10.2024
Inflation in vier Akten | Das große Leitzinsratenanöver | Das Linksbündnis | Die Rechtsaußen
(16 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Die Inflationsraten in den Industriestaaten haben sich zuletzt normalisiert und wieder ihren Zielwerten angenähert.
- Damit endet eine dreijährige Inflationskrise.
- Sie hatte Lehren über die Mängel gängiger ökonomischer Modelle, die Schwierigkeiten von Zentralbank-Kommunikation sowie die Fragen nach “Gierflation” und Lohn-Preis-Spiralen parat.
- Der symbolische Abschluss der Inflationsphase ist die jüngste kräftige Leitzinssenkung der amerikanischen Zentralbank Fed.
- Damit richtet sich der Fokus auf den weiteren Leitzinspfad in den USA, der Eurozone und anderswo.
- Er wird entscheidend für Firmen, Haushalte und Politik weltweit – sowie für die Vermächtnisse der zwei großen Zentralbankchefs Jerome Powell (Fed) und Christine Lagarde (EZB).
Inflation in vier Akten_
(9 Minuten Lesezeit)
Krisen beginnen meist mit einem Knall, doch ihr Ende kann eher still und schleichend vonstatten gehen. Die Inflationskrise hat das Nächste erlebt, was sie zu einer Siegeserklärung bekommen wird: Die amerikanische Notenbank Federal Reserve (Fed) hat den Leitzins gesenkt. Zum ersten Mal seit 2020 und auch noch recht kräftig.
Mit dem niedrigeren Leitzins sagt die Fed, dass sie die Inflation für weitestgehend stabilisiert und bezwungen hält. Ihr Fokus verschiebt sich stattdessen auf ein anderes Thema: das Wirtschaftswachstum und, damit einhergehend, der Arbeitsmarkt. Für Europa könnte man einwenden, dass die Europäische Zentralbank (EZB) bereits im Juni zum ersten Mal seit 2020 ihre Leitzinsen gesenkt hatte, im September folgte dann die zweite Runde. Und doch hat der Schritt der Fed nicht nur mehr symbolischen Wert – sie eröffnete die Phase der steigenden Leitzinsen im März 2022, vor der EZB im Juli 2022 – sondern auch mehr globale Bedeutung. Die Inflation ist vorbei – so ein bisschen, zumindest.
Die Grundlagen
Erst einmal an den Anfang: Was ist Inflation? Ein Ansteigen des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus in der Breite. Wenn sie weniger schnell steigen als zuvor, heißt das Disinflation; wenn sie fallen, Deflation. Mit der “Breite” ist meist ein repräsentativer Warenkorb gemeint, was den Verbraucherpreisindex (VPI, englisch: CPI) bezeichnet. Für Unternehmen gibt es den Produzentenpreisindex (PPI).
Gut zu wissen: Der VPI besteht aus 700 Güterkategorien mit Tausenden Einzelgütern. Sie werden vom Statistischen Bundesamt so gewichtet, dass sie einen repräsentativen Warenkorb bilden. Rein statistisch gesehen konsumierst du somit zu 13,72 Promille Gemüse (es könnte ruhig etwas mehr sein), zu 3,48 Promille Damenschuhe und zu 0,08 Promille Bügeleisen. Die gesamte Auflistung findest du hier (PDF).
Darüber hinaus wird es etwas komplizierter, denn Inflation ist ein schwierigeres Konzept, als ihre “popkulturelle” Bekanntheit andeutet. Der VPI wird alle fünf Jahre auf ein neues Basisjahr, welches künftig den Warenkorb bestimmt, abgeändert, weswegen sich die Inflationsrate plötzlich rückwirkend ändern kann (so ausgerechnet inmitten der Inflationskrise Anfang 2023 geschehen). Überhaupt gibt es neben dem VPI noch andere Berechnungsmethoden, etwa den BIP-Deflator, welcher nominales und reales BIP ins Verhältnis setzt. Neben der “großen” Inflationsrate existiert die Kerninflation, welche schwankungsanfällige Kategorien wie Energie und Lebensmittel ausklammert und einen Blick auf einen längerfristigen Inflationstrend bieten soll. Und in den USA setzt die Fed vornehmlich auf den PCE-Index, welcher noch ein wenig anders berechnet wird.
Gut zu wissen: Unser erster Explainer zu Inflation, passenderweise “Die Rückkehr der Inflation” betitelt, erklärte im November 2021 die Theorie hinter der Inflation: Was sie ist, woher sie kommt, warum sie problematisch ist und warum sie gar nicht immer problematisch ist. Wenn du das Phänomen besser verstehen möchtest, schau auf jeden Fall rein. Du findest den Link auch am Ende dieses Explainers.
Covid, Lieferketten, Energie, Löhne
Egal, wie man Inflation berechnen mag, ihr Pfad war die letzten vier Jahre in sämtlichen Industriestaaten ähnlich (bei Entwicklungsländern herrschte mehr Varianz). Mehrere Akte lassen sich recht sauber erkennen:
- Mit der Covid-Krise 2020 brach anfangs die globale Nachfrage und Wirtschaftsaktivität ein, was die ohnehin eher niedrige Inflation noch weiter drückte.
- Ab 2021 hatte sich die Nachfrage erholt (wenn auch pandemiegemäß umstrukturiert), doch Firmen – das Angebot – litten unter Produktionsbeschränkungen, Krankheitsfällen, verstopften Lieferketten und der Tatsache, dass sie in den frühen Pandemietagen ihre Kapazitäten zu sehr gesenkt hatten. Es war die Zeit von Lieferketten- und Chipkrise. Die Nachfrage überstieg das Angebot bei Weitem. Die Preise stiegen als Korrektiv.
- Parallel machten sich die teilweise historisch großen staatlichen Hilfspakete und eine extrem lockere Geldpolitik der Zentralbanken bemerkbar: Geld schwemmte durch die Volkswirtschaften und schob die Nachfrage weiter an.
- Ab Sommer 2021 kam eine Energiekrise hinzu, ausgelöst durch ungünstiges Wetter im ersten Halbjahr und mehrere Unfälle weltweit. Sie intensivierte sich im Verlaufe der Monate und machte sich global bemerkbar. Teurere Energie verteuerte nach und nach fast sämtliche Produktkategorien.
- Die Energiekrise erhielt ab Februar 2022 durch die russische Invasion der Ukraine Adrenalin verpasst, vor allem in Europa, wo die Gaszufuhr unsicher wurde. Die Invasion machte sich weltweit auch in Nahrungsmittelpreisen bemerkbar.
- Bis Sommer 2022 (USA) oder Herbst (Europa) erreichten die Inflationswerte ihren Höhepunkt und dominierten den politischen Diskurs.
- Die progressive Entspannung bei Lieferketten, Angebotsmangel, Energiekrise und kriegsbedingter Unsicherheit sorgte ab 2023 für einen stetigen Fall bei den Inflationszahlen.
- Etwa ab dem 2. Quartal 2023 begann die Arbeitnehmerseite, ihre Verluste aus den Vorjahren aufzuholen und steigende Reallöhne zu verhandeln. Die Inflationsrate wird seitdem vor allem von steigenden Löhnen – und nicht etwa mehr Energie oder Nahrungsmitteln – getrieben, ist bis Q3 2023 aber insgesamt auf ein harmloses Niveau zurückgekehrt.
Mit ihrer Normalisierung ist die Inflation ein wenig aus dem öffentlichen Diskurs gewichen, mit Ausnahme dort, wo polarisierende Wahlen anstehen oder anstanden. Doch was können wir rückblickend über sie lernen?
Lehre #1: Die Inflation wurde nicht vorhergesehen
Viele Ökonomen und Analysten sahen die Inflationskrise nicht voraus. Ökonomische Standardmodelle kollidierten damals mit “gesundem Menschenverstand”: Vielen Beobachtern, auch Ökonomen, war bewusst, dass eine aggressive Fiskal- und Geldpolitik als Reaktion auf Covid-19 inflationsfördernd wirken müsste. Dass ein Nachfrageüberhang und eine Energiekrise dasselbe tun, ist auch klar. Allerdings versagten beliebte Modelle – etwa eine sogenannte lineare Philips-Kurve mit gut verankerten Inflationserwartungen – darin, die hohe Inflation zu erkennen. Setzte man sie ein, um den Inflationseffekt der Konjunkturmaßnahmen vorherzusagen, kamen moderate Resultate heraus. Diese Modelle schienen besser geeignet zu sein, die geringen Inflationsbewegungen vorherzusagen, welche in den 10 Jahren davor relevant gewesen waren. Den kräftigen Anstieg ab 2021 unterschätzten sie gnadenlos.
Beim “gesunden Menschenverstand” gilt es allerdings, eine kleine Lanze für die Ökonomen zu brechen. 2020/21 war es gar nicht so unrealistisch, dass selbst große Konjunkturpakete und Zentralbankmanöver nur kleine Auswirkungen auf die Preise hätten. So war es immerhin die 10 Jahre davor gelaufen, als die Inflation stets zu niedrig war und partout nicht steigen wollte. Nachfrageüberhang und Lieferkettenkrise 2021/22 mussten praktisch in Realzeit berücksichtigt werden, womit die Datenverfügbarkeit schwierig gewesen sein dürfte. Und als die Energiekrise vollständig eingetroffen war, war die hohe Inflation längst da.
Ökonomen brachte die Inflationskrise damit die Gewissheit, dass einige ihrer Modelle die Inflation vor allem bei starken Sprüngen nicht korrekt abbilden und antizipieren konnten. Unter ihnen finden nun Diskussionen statt, wo genau die Fehler lagen und wo Anpassungen vonnöten sind.
Lehre #2: Vorübergehend, nicht vorübergehend, vorübergehend…
Noch bis Ende 2021 verlautbarten die großen Zentralbanken, darunter Fed und EZB, dass die Inflation lediglich vorübergehend (temporary) sei. Das sorgte damals für aufgeregte Diskussionen. Wie hat sich das Mantra geschlagen?
Unter der Annahme, dass die Inflationskrise nun gebändigt ist, ließe sie sich durchaus als vorübergehend bezeichnen. In den USA und Deutschland war sie ziemlich genau zwei Jahre lang oberhalb 4 Prozent. Zum Vergleich: In der Ära der “Stagflation” kletterte die Inflation in den USA im März 1973 auf 4,1 Prozent und sank erst im Januar 1983 wieder unter das Niveau. Also 10 Jahre später.
Nun lässt sich durchaus annehmen, dass die Zentralbanker 2021 mit “vorübergehend” etwas Kürzeres als zwei Jahre gemeint hatten. In diesem Sinne könnten sie sich mit ihrem Urteil doch geirrt haben. Das “Nicht vorübergehend”-Lager verweist auf ebendies sowie die Tatsache, dass die Kerninflation noch immer etwas erhöht ist. Das “Vorübergehend”-Lager betont hingegen, dass die Inflation lediglich so lange so hoch war, weil sich mehrere vorübergehende Inflationsfaktoren aufeinandergestapelt hatten: erst die Covid-Krise, dann die Lieferkettenkrise, dann die Energiekrise und so weiter. Als sie endlich allesamt abgeklungen waren, fiel die Inflation tatsächlich ziemlich schnell; in einigen Branchen setzte gar Deflation mit fallenden Preisen ein. Keine strukturelle Teuerung, nur viel Vorübergehendes.
Für die Notenbanken wäre es wenig Trost, wenn sie richtig gelegen hätten. Denn mindestens so wichtig wie Recht haben ist es, die Menschen davon zu überzeugen. Im Ökonomensprech: Die Inflationserwartungen von Haushalten und Firmen verankert zu bekommen. Diese Erwartungen sind signifikant, da sie über Konsumentscheidungen und Gehaltsverhandlungen die tatsächliche Inflation maßgeblich beeinflussen. Glaubt die Bevölkerung, dass die Inflation temporär ist, steht die Chance gut, dass sie es tatsächlich bleibt. Die Zentralbanken mussten allerdings früh einsehen, dass sie gegen den Inflationsdruck, die Nervosität in der Wirtschaft und den intensiven Medienzyklus, welcher das Thema dankbar bearbeitete, nicht ankamen. Um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren, gaben sie das “Vorübergehend”-Narrativ ab 2022 auf.
Lehre #3: Existiert “Gierflation”?
Die Inflationskrise traf die Menschen und verunsicherte die Politik, womit die Suche nach Gründen begann. Der obige Zeitverlauf benennt jene Gründe, welche die whathappened-Redaktion für zentral erachtet. Ein weiterer häufiger Vorwurf war jener der “Gierflation” oder Greedflation: Wahlweise, dass Firmen die Inflation für höhere Profite nutzen oder dass die Firmen genau damit die Inflation überhaupt erst angefacht hätten.
Hier gilt es eine Sache zu berücksichtigen: Die Tatsache, dass Profite oder die Profitmarge steigen, wenn die Preise steigen, kann ein völlig mechanischer Zusammenhang sein, welcher erst einmal wenig mit “Gier” zu tun hat. Beispiel: Wenn alle Preise gleichermaßen steigen, steigen Umsatz und Kosten einer Firma gleich stark. Am Ende stünde trotzdem eine höhere Zahl als Profit, ohne, dass die Firma ihre Marge ausgebaut hätte. Ungefähr das lässt sich etwa in der deutschen Lebensmittelbranche beobachten: Dort stieg der Umsatz 2022 zwar rasant, die Kosten stiegen allerdings noch schneller. Im Folgejahr bewegten sich beide fast im Gleichschritt. Die Gewinne stiegen zwar, die Margen allerdings kaum. Eine “Gierflation” lässt sich hier nicht erkennen.
Auch ein Anstieg der Profitmarge kann erst einmal unbedenklich sein. Er könnte damit zusammenhängen, dass Firmen sich auf antizipierte steigende Kosten vorbereiten oder damit, dass die Nachfrage das Angebot übertrifft – so wie es 2021 inmitten der Pandemie-Erholung, der Lieferkettenkrise, der Chipkrise und der Energiekrise der Fall war. Wenn Firmen eine kräftige Nachfrage nicht bedienen können, erhöhen sie in der Regel die Preise. Das wäre nur insofern “Gier”, wie jede Marktwirtschaft mit freier Preissetzung dann eben auf Gier operieren würde.
Gut zu wissen: Steigende Preise haben die nützliche Funktion, dass sie die Angebotsseite zum Ausbau der Kapazitäten anregen (woraufhin die Preise wieder sinken könnten). Das ließ sich in den letzten Jahren in vielen Produktkategorien beobachten, von sehr einfachen wie Masken bis zu sehr komplexen und kapitalintensiven wie Halbleitern.
Das bedeutet nicht, dass es nicht auch einen fragwürdigen Aspekt gegeben haben könnte. Einige Forscher vermuten, dass manche Firmen ausgenutzt haben könnten, dass Verbraucher das Preiswachstum nicht richtig einschätzen konnten und ihre Preise ohne klare “Marktbegründung” erhöhten. Wenn sich das mit einer kartellähnlichen Dynamik paart, in welchen sich alle oder viele Anbieter unausgesprochen auf das höhere Preisniveau einpendeln, ließe sich eine höhere Profitmarge nachhaltig durchsetzen. Das könnte durchaus stellenweise passiert sein, es gibt aber keine Hinweise, dass es massenhaft der Fall war.
In diesem Kontext lässt sich die Debatte um “Gierflation” lesen. Wenn der Internationale Währungsfonds (IWF) im Sommer 2023 schrieb, dass Unternehmensprofite den größten Beitrag zur Inflation in Europa geleistet hatten, so ist das vor dem Hintergrund eines starken Nachfrageüberhangs nicht überraschend. Und für Deutschland erkannte das ifo-Institut, dass über zwei Drittel der Inflationsrate 2022 auf steigende Kosten zurückzuführen gewesen seien, nur 17 Prozent auf steigende Gewinne.
Gut zu wissen: Unser Update zur Inflation aus November 2023 diskutiert und beleuchtet das Thema “Gierflation” genauer.
Lehre #4: Gab es eine Lohn-Preis-Spirale?
Inmitten der Inflationskrise war des Öfteren von der Lohn-Preis-Spirale die Rede. Sie beschreibt ein Phänomen, bei welchem steigende Löhne die Firmen dazu verlocken, ihre Marge durch höhere Preise zu verteidigen. Da Arbeiter nun aber keinen Reallohnanstieg verbuchen – ihr Lohnplus wurde durch ein Preisplus neutralisiert – verhandeln sie noch einmal höhere Löhne. Eine Spirale folgt, bei welcher die Preise immer wieder steigen. Einige Beobachter warnten vor einer solchen Spirale; andere wollten davon nichts hören. Auch im öffentlichen Diskurs war die Vorstellung, dass das Streben nach Inflationsausgleich ein Brandbeschleuniger sein könnte, verpönt. Als ein Topökonom der Bank of England die Briten dazu aufrief, auf Gehaltserhöhungen zu verzichten, sorgte das für einen Aufschrei und zwang ihn zu einer öffentlichen Entschuldigung.
Das Problem an Lohn-Preis-Spiralen ist, dass sie nicht sonderlich gut definiert sind. Ab wann genau beginnt die gefährliche Spirale? Versuche, das Konzept empirisch zu untersuchen, finden eher wenig Spektakuläres. Eine Analyse in der renommierten Plattform CEPR findet nur wenige ernsthafte Lohn-Preis-Spiralen in der Geschichte, und diese waren zudem meist kurzlebig.
Nichtsdestotrotz: An dem Schluss, dass steigende Löhne erst einmal zu höherer Inflation beitragen, ist nichts verkehrt. Firmen geben, insofern sie es können, ihre höheren Lohnkosten an die Kunden weiter. Können sie es nicht, produzieren sie womöglich weniger oder müssen schließen. Weniger Angebot bei gleicher (oder dank höherer Löhne, steigender) Nachfrage bedeutet in der Regel steigende Preise. Wie bei vielem in der Ökonomie gibt es keine Garantie, dass es immer, sofort und vollumfänglich so kommt, doch grundsätzlich ist die Verbindung zwischen Lohnwachstum und Inflation robust.
In der jüngsten Inflationskrise gab es bislang definitiv keine katastrophale Lohn-Preis-Spirale, aber auf jeden Fall einen Rückkopplungseffekt von Löhnen auf Preise. Beispiel aktuelle deutsche Verbraucherinflation: Die Energiepreise vergünstigten sich im September um 7,6 Prozent, Nahrungsmittel verteuerten sich leicht um 1,6 Prozent, sämtliche Waren (mit diesen beiden Kategorien inklusive) wurden 0,3 Prozent günstiger – und Dienstleistungen verteuerten sich um kräftige 3,8 Prozent. Und anders als etwa in der Industrie machen Löhne einen sehr großen Teil der Kostenstruktur im Dienstleistungssektor aus. Dass dieser also die Inflation treibt, während zugleich Reallohnwachstum verbucht wird, ist kein Zufall.
Das große Leitzinsraten_
(7 Minuten Lesezeit)
Wie Leitzinsen funktionieren
Die Inflation ist also (wahrscheinlich) vorüber, zumindest wenn man damit die jüngste Phase hoher Inflationsraten meint. Du wirst über die Teuerungsrate in den kommenden Monaten und Jahren vermutlich wieder weniger hören – insofern ihre Stabilisierung Bestand hat, versteht sich, und sie nicht ganz im Gegenteil plötzlich zu niedrig ist, wie es nach 2013 jahrelang der Fall war. Vorerst rückt der Fokus aber zu etwas anderem: Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt. Auf geldpolitischer Seite bleibt das Hauptwerkzeug ein und dasselbe: Leitzinsen.
Was sind Leitzinsen? Erklären wir erst einmal herkömmliche Zinsen. Sie sind, was du als Privatperson oder Firma zahlst, wenn du einen Kredit aufnimmst, doch dahinter verbirgt sich ein Ausdruck für den Zeitwert von Geld sowie das Ausfallrisiko eines Schuldners. In anderen Worten: Wenn eine Bank 1.000 EUR verleiht, so hat sie ein Jahr lang 1.000 EUR weniger, mit welchen sie hätte arbeiten können (z.B. sie anlegen). Also verlangt die Bank für die Leihe eine Rendite in Form des Zinssatzes. Dazu kommt eine Risikoprämie, da es ein gewisses Risiko gibt, dass der Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlt. Der Zins stellt diesen Zeitwert sowie das Risiko dar.
Leitzinsen folgen einer anderen Logik, da die Zentralbank nicht in erster Linie an ihrer Rendite oder ihrem Gelderhalt interessiert ist. Stattdessen möchte sie wirtschaftliche Akteure beeinflussen, um ihr eines bzw. ihre zwei großen Ziele zu erreichen: die Preisstabilität sicherstellen (sprich, Inflation im Griff behalten) und den Arbeitsmarkt robust halten. Ganz mechanisch sind Leitzinsen aber sehr ähnlich zu normalen Zinsen: Sie drücken aus, was es kostet, sich von der Zentralbank Geld zu leihen oder wie viel es gibt, bei ihr Geld anzulegen.
MRO, EFFR und Co.
Ein paar konkrete Beispiele. Die EZB besitzt drei Leitzinsen. Der Hauptrefinanzierungssatz (main refinancing operations rate, MRO) bezeichnet, wie viel es Geschäftsbanken kostet, bei der Zentralbank Geld zu leihen. Der Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending facility, MLF) bezeichnet den Zins, welchen Banken zahlen, wenn sie sich sehr kurzfristig – praktisch über Nacht – bei der EZB Geld leihen. Und der Einlagesatz (deposit facility) zeigt an, wie viel Zins die Geschäftsbanken erhalten, wenn sie Geld bei der EZB “parken”.
Das Federal Reserve System der USA, also das Zentralbanksystem, kennt mehrere Leitzinsen, welche wir auf drei herunterbrechen können: Das Discount Window, welches z.B. mit der Primary Credit Rate bestimmt, wie teuer oder günstig sich Banken Geld bei der Fed leihen können (das Pendant zu MRO und MLF). Der Interest on Reserve Balances, welcher ähnlich wie der Einlagesatz funktioniert. Und, am wichtigsten, die Federal Funds Rate. Sie beschreibt die Spanne an Zinsen, in welcher sich Geschäftsbanken untereinander Geld leihen sollen. Der Zins, welcher tatsächlich am Markt realisiert wird, ist die Effective Federal Funds Rate.
Ist in den USA von einer Leitzinsänderung die Rede, geht es um die Federal Funds Rate und damit einhergehend die Effective Fed Funds Rate. Sie ist mit Abstand das wichtigste Werkzeug im Werkzeugkasten des Federal Open Market Committee (FOMC), also jenem Rat, welcher alle geldpolitischen Entscheidungen trifft. Für viele Beobachter dürfte es der einzige US-Leitzins sein, von welchem sie je gehört haben.
In der Eurozone fungiert der MRO manchmal kommunikativ als “der” Leitzins, doch seit der Finanz- und Eurokrisen ist eigentlich der Einlagezins am wichtigsten. Der Grund ist, dass der Interbankenmarkt (in welchem sich Banken untereinander Geld leihen) seit den Krisen etwas erlahmt ist und die Zentralbank so viel Geld ins Bankensystem geschwemmt hat, dass dieses sich gar nicht mehr so viel Geld leihen möchte. Der ehemals dominante MRO hat heute damit weniger Auswirkungen als der Einlagezins.
Warum Leitzinsen wichtig sind
Leitzinsen sind eine ziemlich wichtige Sache. Je günstiger es für Banken ist, sich Geld zu leihen (bzw. je unattraktiver, ihr Geld bei der Zentralbank zu parken), umso günstiger verleihen sie Geld weiter an andere Banken, an Firmen und an Haushalte. Günstigere Kredite bedeuten mehr Investitionen, Firmengründungen, größere Anschaffungen, mehr Konsum auf Raten, Studienaufnahmen, Häuserbau, weniger Schuldenlast und so weiter. Kurz gesagt: mehr Wirtschaftsaktivität. Genauso machen sinkende Leitzinsen die Währung günstiger (denn sie wird weniger attraktiv, da es weniger Zinsen auf Einlagen in ebendieser Währung gibt), was heimischen Exporteuren zugutekommt.
Andersherum kühlen höhere Leitzinsen die Wirtschaft und den Export herunter. Das senkt in der Regel die Inflation, denn Wachstum geht erst einmal mit Inflationsdruck einher. Wächst eine Wirtschaft schnell, haben Firmen und Haushalte mehr Geld, womit sie mehr Produkte nachfragen. Hinkt das Angebot hinterher, steigen die Preise. Sobald Firmen anfangen, ihre Kapazitäten auszubauen oder neu in den Markt einzutreten, um an der gestiegenen Nachfrage teilzunehmen, müssen sie neue Mitarbeiter einstellen. Die Arbeitskraftnachfrage steigt und damit die Verhandlungsmacht der Arbeiter. Sie verhandeln höhere Löhne, woraufhin die Firmen ihre Marge mit höheren Preisen verteidigen. Voilà, Inflation. Höhere Leitzinsen wirken dagegen. Und da sie die Währung stärker machen, vergünstigen sie auch noch Importe, was die Inflation ebenfalls senkt.
Wie bei allem in der Ökonomie funktionieren die beschriebenen Mechanismen nicht immer perfekt. Beispielsweise als europäische Banken noch Jahre nach den Euro- und Finanzkrisen zu nervös waren, um günstiges Geld tatsächlich zu verleihen. Also ließ die EZB den Einlagezins erst auf 0 Prozent und dann sogar in den Minusbereich sinken – die ersten Negativzinsen überhaupt. Ein anderes Beispiel: Eine Firma kann ihre gestiegenen Lohnkosten nicht immer auf Kunden umwälzen, sondern muss eine niedrigere Marge hinnehmen. Und ein drittes Beispiel: Manchmal verhandeln Arbeiter trotz kräftigem BIP-Wachstum partout keine höheren Löhne: In den “Goldenen 15 Jahren” der deutschen Wirtschaft seit 2005 stieg der Reallohnindex nur um 11,7 Prozent, das nominelle BIP dagegen um 52 Prozent und der Verbraucherpreisindex (welcher die Inflation anzeigt) um 23,6 Prozent. Im Großen und Ganzen hält der Zusammenhang jedoch: Sinkende Leitzinsen treiben die Wirtschaftsaktivität und die Inflation an; steigende Leitzinsen kühlen herab.
Damit spielen Leitzinsen für fast jeden eine Rolle: Unternehmer, Mitarbeiter, Kreditnehmer, Aktienmarktanleger und so weiter. Auch für Politiker: Eine stärkere Wirtschaft kommt in den Wahlen in den USA der Regierungspartei zugute, weswegen Ex-Präsident Donald Trump die Leitzinssenkung durch die Fed als politisch motiviert beschimpfte. Der Kandidat weiß, wie wichtig Leitzinsen sind und hat mehrfach erklärt, dass er sich mehr Einfluss der Politik auf den Zinspfad wünscht – also die Unabhängigkeit der Zentralbank reduzieren will.
Gut zu wissen: Die Leitzinsen in den USA und der Eurozone sind außerdem wichtig, weil sie weltweite Auswirkungen haben. Der Effekt auf US-Dollar und Euro beeinflusst den globalen Handel. Jede kleine Leitzinsveränderung in den beiden Blöcken beeinflusst globale Kapitalströme. Und da Entwicklungs- und Schwellenländer ihre Schulden meistens in US-Dollar oder Euro aufnehmen müssen, kann eine Zinsentscheidung in Washington oder Frankfurt den Unterschied zwischen Staatsbankrott oder Zahlungsfähigkeit machen. Entsprechend wuchs in den letzten drei Jahren der Schuldendruck in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern.
Jedem Wort lauschen
Es überrascht also kaum, dass das Leitzinsvorhersagen zu einer regelrechten Industrie geraten ist. Wer korrekt antizipiert, was FOMC und EZB-Rat in ihren allmonatlichen Sitzungen (mit Sommerpause, versteht sich) entscheiden, der weiß, wohin die Wirtschaft geht – und kann gewinnbringend an den Finanzmärkten wetten. Wenn die Notenbankchefs, Jerome Powell in den USA und Christine Lagarde in der Eurozone, vor die Mikrofone treten, kleben Analysten an ihren Lippen. Jede noch so kleine Indikation über die Zukunft oder Einschätzung über das Hier und Jetzt bewegt Märkte und beeinflusst Investitionsentscheidungen. Das geht so weit, dass selbst ein grimmiger Gesichtsausdruck bereits genügen kann.
Zwischen 2021 und 2023 ging es den Zentralbanken vor allem darum, die Leitzinsen zu erhöhen, um der Inflation beizukommen. Im laufenden Jahr schwächte sich die Inflation deutlich ab, während sich in der Eurozone – vor allem in Deutschland – Konjunktursorgen häuften und aus den USA mehrdeutige Arbeitsmarktdaten kamen. Die Zeit für Leitzinssenkungen schien gekommen. Im Juni bestätigte die EZB das; im September folgte die Fed mit einer “Jumbo”-Senkung der Fed Funds Rate von 0,5 Prozentpunkten (aka 50 Basispunkten).
Gut zu wissen: Zentralbanken erhöhen oder senken Leitzinsen meist im 0,25-Prozentpunkte-Rhythmus, doch es steht ihnen offen, davon abzuweichen. Ein 0,5-Prozentpunkte-Schritt (oder gar ein noch stärkerer) deutet an, dass die Notenbank drastisches Handeln für notwendig erachtet oder einfach ein deutliches Zeichen an Beobachter senden will: Seht her, jetzt wird kräftig gesenkt – investiert gefälligst. Allerdings kann ein großer Schritt auch Nervosität auslösen: Was weiß die Fed über die nahe Zukunft, das ich nicht weiß, dass sie jetzt so drastisch vorgeht?
Die Zukunft und das Vermächtnis
Die nähere Zukunft dürfte von weiteren Leitzinssenkungen geprägt sein. Die Leitzinsen kletterten in den letzten drei Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks auf ein sehr hohes Niveau (zumindest im Vergleich zu den Jahrzehnten seit 2000) und haben noch Raum zur Normalisierung. Das BIP-Wachstum ist vor allem in Europa noch schleppend. Und in den USA sagte Fed-Chef Powell Mitte September: “Der Arbeitsmarkt befindet sich in einer guten Verfassung, wir wollen, dass das so bleibt.” Der Schritt der US-Notenbank dürfte dabei auch den Zinspfad in anderen Ländern beeinflussen, welche sich an der Fed orientieren, um etwa Wechselkursstabilität zu bewahren. Damit stehen vermutlich weltweit Leitzinssenkungen bevor, auch seitens der EZB. Die große Frage ist natürlich, ob unvorhergesehene Ereignisse – insbesondere geopolitischer Natur – den Zinspfad stören, insofern sie die Inflation wieder antreiben.
Es geht dabei nicht nur um die Volkswirtschaften der Industriestaaten, die Geschicke Hunderttausender Firmen und die persönlichen Schicksale von Hunderten Millionen von Menschen. Sondern auch um die Vermächtnisse von Christine Lagarde und Jerome Powell: Lagarde ist in der EZB intern und unter Beobachtern außerhalb äußerst umstritten; die Urteile über ihren Umgang mit der Inflationskrise gehen auseinander. Die kommenden Monate werden für sie damit zentral. Jerome Powell hat derweil die Chance, sich in den USA als einer der größten Fed-Direktoren zu verewigen: Er bekam die schwerste Inflationskrise seit 1984 in den Griff und das bisher ganz ohne die Wirtschaft in eine Rezession herabkühlen zu müssen – ein sogenanntes “soft landing”. Dass er 2021 relativ spät auf die Inflation reagiert hatte, ist schon fast vergessen.
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