Die Türkei und ihre Schicksalswahl

Zum ersten Mal könnte Erdogan realistisch sein Amt verlieren. Ein Blick auf zwanzig Jahre Präsidentschaft und die bevorstehende Wahl.

Die Ära Erdogan | Die Wahl | Die Konsequenzen
(14 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Die Türkei wählt nächsten Sonntag sowie zwei Wochen darauf. Präsident Erdogan könnte realistisch verlieren, in Umfragen liegt er meist hauchdünn hinten.
  • Die Opposition konnte sich zu einem Sechserbündnis unter dem Bürokraten Kemal Kilicdaroglu zusammenraufen.
  • Das Bündnis will zwei Jahrzehnte an demokratischem Verfall rückgängig machen: Es geht um eine abhängige Justiz, neutralisierte Medien, eine geschwächte Zivilgesellschaft und übermächtige Präsidentschaft.
  • Gerade die fragile Wirtschaft, in hohem Maße durch die Erdogan-Regierung verschuldet, verleiht der Opposition Auftrieb – und wird im Falle eines Wahlsiegs ihre größte Aufgabe.
  • Ein Oppositionssieg wäre ein gutes Zeichen für die türkische Demokratie und für den Westen. Obsiegt Erdogan, wäre es eine kraftvolle Bestätigung für seinen bisherigen Kurs.

Die Ära Erdogan_

“Die wichtigste Wahl des Jahres” wäre ein schöner Titel für diesen Explainer gewesen, doch ihn haben bereits etwa BloombergPolitico und der Economist besetzt. Am 14. Mai, also in genau sieben Tagen, geht die Türkei an die Urnen und wählt ihr Parlament sowie ihren Präsidenten. Kommt wie erwartet kein Präsidentschaftskandidat auf über 50% der Stimmen, gibt es zwei Wochen später eine Stichwahl. Noch nie war die Chance so hoch, dass Amtsinhaber Erdogan verliert. Das ist weit jenseits der Türkei bedeutsam.

Der frühe Erdogan

Recep Tayyip Erdogan dominiert die türkische Politik seit fast genau 20 Jahren. Fünf Parlamentswahlen, zwei Präsidentschaftswahlen, drei Referenden, eine Verhaftung und ein Militärputsch – und er ist noch immer da. Schon in der Jugend fiel Erdogan, welcher aus einer armen, religiös-konservativen Familie stammte, durch religiöse Kenntnisse und rhetorische Begabung auf, bevor er 1976, mit 22 Jahren, in die Politik einstieg. Es sollte bis 1994 dauern, bis er nationale Relevanz erlangte: Er betrat als Außenseiterkandidat das Rennen um das Bürgermeisteramt von Istanbul und wurde von den Medien als chancenloser Hinterwäldler verschrien – doch gewann.

Mit seiner Religiosität eckte Erdogan an in einem Staat, in welchem kemalistisch geprägte Bürokratie und Militärapparat skeptisch auf jedes Anzeichen von Islamismus reagierten. Mehrere der Parteien, welchen er angehört hatte, waren verboten worden, und 1999 musste Erdogan für vier Monate ins Gefängnis, weil er ein Gedicht rezitiert hatte: “Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Kuppeln unsere Helme, die Minarette unsere Bajonette und die Gläubigen unsere Soldaten”. Nach seiner Freilassung gründete er 2001 die “Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung”, die AKP. Ihr Gründungsteam rund um Erdogan und seinen damaligen Mitstreiter Abdullah Gül bestand aus dem moderateren Flügel der zuvor verbotenen “Tugendpartei”. Die AKP ließ sich von europäischen konservativen Parteien inspirieren und stellte den Islamismus hinter einen breit ansprechenden Konservatismus – etwa als türkisches Pendant zur deutschen CDU. Das war ein durchschlagender Erfolg: Die AKP gewann 2002/3 aus dem Stand heraus die Wahlen und Erdogan wurde Premierminister.

Gut zu wissen: Bevor Erdogan 1999 ins Gefängnis geschickt wurde, gab er das Album “Dieses Lied endet hier nicht” heraus, bestehend aus sieben Gedichten und einem Song. Das Album wurde zum türkischen Bestseller des Jahres.

Erdogans Anfangszeit als Premier war ebenso wie die Bürgermeisterschaft in Istanbul von viel Pragmatismus geprägt. Die Liste seiner Erfolge und liberalen Beschlüsse ist lang: Erdogan richtete einige prodemokratische Institutionen ein, schaffte die Todesstrafe ab, lockerte die Anti-Terrorismus-Gesetze, gestattete Juden die öffentliche Feier von Hanukkah und schloss sich der UN-Charta gegen Folter an. Die Wirtschaft stärkte er durch Deregulierung und lockte erfolgreich Auslandsinvestitionen an; ein schärferes Arbeitsrecht kam Mitarbeitern zugute und verbot Diskriminierung. Infrastrukturprojekte nahmen an Fahrt auf: Die Zahl der Flughäfen im Land verdoppelte sich innerhalb von zehn Jahren auf 50 (heute sind es 58), die Gesamtlänge der Autobahnen verdreifachte sich bis 2011 auf über 18.000 Kilometer (heute: 31.000 Kilometer). Großprojekte wie die ersten Schnellzüge und ein Unterwassertunnel durch den Bosporus wurden angestoßen. Mit der EU pflegte Erdogan ein verhältnismäßig positives Verhältnis und trieb den Mitgliedschaftsantrag seines Landes voran. Die Zeitung European Voice, welche damals zur Economist Group gehörte und heute in Politico Europe aufgegangen ist, ernannte Erdogan 2004 zum “Europäer des Jahres“.

Wie viel Demokratie bleibt?

Zur Geschichte Erdogans gehört allerdings auch eine andere Seite. Der “späte” Erdogan ab zumindest 2016 steht für einen demokratischen Verfall in der Türkei, für theokratische Züge, für außenpolitische Abenteuerlust und für wirtschaftliche Inkompetenz. Er ist gewissermaßen einer der “elder strongmen“, also einer der frühesten Exemplare jener Kategorie von Staatschefs, welche ihre Demokratien so lange biegen, bis sie ihnen ausreichend hörig sind: Viktor Orbán in Ungarn, Wladimir Putin in Russland, Narendra Modi in Indien oder Nayib Bukele in El Salvador sind Beispiele. Manch strongman, sprich, “starker Mann”, steht einer verwundeten, doch funktionalen Demokratie vor. Manch anderer hat sich etwas geschaffen, was im modernen Politiksprech als “electoral autocracy”, Wahlautokratie, bezeichnet wird: Demokratische Institutionen existieren, doch sie sind in Teilen der Regierung unterworfen oder von ihr dermaßen beeinflusst, dass sie nur noch eingeschränkt funktionieren. Und wieder einige strongmen haben die Metamorphose zur reinen Scheindemokratie erfolgreich abgeschlossen und lassen ihre Institutionen – von Wahlen bis hin zu Oppositionsparteien – nur noch als belangloses Ritual existieren. Die erdogansche Türkei fällt in die zweite Kategorie, zu den Wahlautokratien.

Gut zu wissen: Der Economist zitiert einen türkischen Akademiker damit, dass Wahlen in der Türkei wie ein Fußballspiel seien, in welchem ein Team elf Spieler hat, das andere acht, und der Schiedsrichter in der Regel dem größeren Team recht gibt. Das kleinere Team kann noch immer gewinnen – es hat es nur weitaus schwerer.

Da wären die MedienDie Türkei verhaftet so viele Journalisten wie kaum ein anderes Land. Ende 2022 war sie mit inhaftierten 24 Journalisten auf Platz neun weltweit, unter anderem hinter China, Myanmar und Iran. 2016 war sie noch auf Platz eins, was ihr in einem Amnesty-International-Bericht den dramatischen Titel “Prison of Silence” einbrachte. Die Verringerung seitdem ist weniger ein Zeichen für Fortschritt als für die erfolgreiche Gleichschaltung weiter Teile des Medienbetriebs. Das eigens durch Erdogan eingerichtete “Direktorat der Kommunikation” verteilt Anweisungen an Redaktionen, wie etwa eine Reuters-Recherche zeigt. Strafen aufgrund von Verstößen gegen den Pressekodex, welche unter anderem den Entzug staatlicher Werbegelder umfassen, werden fast nur gegen unabhängige Medien verhängt: Die fünf größten oppositionsnahen oder unabhängigen Zeitungen wurden 2020 kollektiv mit 316 Tagen Strafe belegt, sämtliche anderen Medien mit 12 Tagen. Der Mix aus staatlicher Einmischung, institutioneller Bestrafung und Verhaftungen führt inzwischen zu effektiver Selbstzensur. Gleichzeitig werden viele der größten Medienmarken ohnehin von Erdogan- und AKP-nahen Persönlichkeiten kontrolliert, welche bei ihren Übernahmen auf staatliche Unterstützung setzen konnten.

Die Legislative reduzierte Erdogan 2017 zum Nebenakteur, als er ein Verfassungsreferendum mit knapper Zustimmung durchbrachte. Die Türkei wandelte sich von einem parlamentarischen System hin zum “Superpräsidentialismus”, in welchem der Präsident beispielsweise ohne parlamentarische Zustimmung seine Regierung ernennt und das Amt des Premierministers abgeschafft ist. 

Gerade seitdem versucht die Regierung kaum noch, Nepotismus oder die “Eroberung” unabhängiger Institutionen zu vertuschen. Sie kontrolliert faktisch die nominell unabhängige Zentralbank. Seit Jahren wird diese von wechselnden Erdogan-Loyalisten angeführt, welche die gewünschte Geldpolitik des Präsidenten einschlagen und einem nicht nachhaltigen Wachstumsboom Adrenalin verpassen. Kurze Intermezzos mit Technokraten hielten nicht lange, sobald diese wagten, vom Kurs abzuweichen. Und der türkische Finanzminister war zwei Jahre lang Erdogans Schwiegersohn (zuvor drei Jahre lang Energieminister), bevor er aufgrund allzu offensichtlicher Inkompetenz des Amtes enthoben wurde.

Die Justiz und der Istanbul-Vorfall

Schon früh in seiner Amtszeit, als noch sein Reformwillen und Pragmatismus im Vordergrund standen, begann Erdogan mit der Neutralisierung der Justiz. Er übernahm faktisch die Kontrolle über die Ernennung von hohen Richtern, was ihm heute eine hörige Justiz verschafft, welche er regelmäßig gegen politische Gegner einsetzt. Der verschärfte Paragraf der Präsidentenbeleidigung wurde in Erdogans Amtszeit fast 200.000 Mal eingesetzt. Und als seine AKP die Bürgermeisterwahl in Istanbul 2019 verlor, ließ Erdogan (“Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei”) den Obersten Wahlrat (YSK) die Wahl kurzerhand aufgrund von nie nachgewiesenen Unregelmäßigkeiten annullieren und erneut abhalten – ein beispielloser Vorgang in der Türkei, welchen selbst frühere AKP-Granden als undemokratisch kritisierten. Die Wahlwiederholung wurde vom Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu mit großer Mehrheit gewonnen.

Imamoglu erlangte nationales Profil und gelangte so ins Visier der Erdogan-Regierung. Ende 2022 verurteilte ein Gericht Imamoglu zu drei Jahren Haft, weil er mutmaßlich die YSK-Richter 2019 im Zuge des Wahlannulierungschaos als “Idioten” beleidigt habe. Beobachter vermuten auch hier ein politisches Motiv, darunter übrigens auch 29% der AKP-Wähler und 40% der Wähler des rechtsnationalen Koalitionspartners MHP. Imamoglu wäre nicht der einzige hochrangige Häftling: Selahattin Demirtas, früherer Co-Chef der prokurdischen Partei HDP, befindet sich seit 2016 in Haft. Im Januar fror das türkische Verfassungsgericht übrigens die Bankkonten der Partei ein, gab sie im März aber wieder frei.

Gut zu wissen: Im Freiheitsindex des Thinktanks Freedom House wird die Türkei als “nicht frei” bezeichnet und ist mit 32 von 100 Punkten in der Nachbarschaft des Iraks (31), Thailands (30) und Zimbabwes (28). Das Analysehaus Economist Intelligence Unit (EIU) bezeichnet die Türkei im Democracy Index 2022 als “Hybridregime” und platziert es in Sachen Demokratisierung neben Bolivien, Bosnien-Herzegowina und der Elfenbeinküste. Im Report des schwedischen Instituts V-Dem zu liberalen Demokratien (also einer strengeren Definition von Demokratie) ist die Türkei eine Wahlautokratie und kommt nur auf ein Level mit Burundi, Bangladesch und Libyen, ist kaum liberaldemokratischer als Venezuela oder Russland. Im World Press Freedom Index 2023 von Reporter Ohne Grenzen kommt die Türkei auf Platz 165, einen Platz hinter Russland und einen vor Ägypten.

Die Wahl_

Kemal Kilicdaroglu. Quelle: mynetiz, pixabay

Das Oppositionsbündnis

Was diese Wahl besonders macht, ist, dass es zum ersten Mal eine vereinte Opposition geben wird. Sechs Parteien haben sich zum “Bündnis der Nation” zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist es, Erdogan aus dem Amt zu kegeln, wofür sie auch bereit sind, weitreichende Meinungsunterschiede beiseite zu legen. Zum Bündnis gehören die sozialdemokratische CHP, die größte Oppositionspartei, und die nationalkonservative IYI; dazu vier kleinere Parteien, welche überwiegend liberal sind, doch zu welchen auch die politisch-islamistische Saadet gehört, die einst aus derselben Partei wie die AKP hervorgegangen war. Nennenswert ist auch die prokurdische Partei HDP, die drittgrößte Oppositionsgruppe des Landes: Sie ist zwar nicht offiziell Teil des Bündnisses, doch verzichtet auf einen eigenen Kandidaten und stellt sich damit klar ins Lage von CHP, IYI und Co..

Der Weg zum Bündnis war schwierig, denn die türkische Opposition ist seit jeher von Streitereien und Lagerkämpfen geprägt. Seit 2019 führten die Spitzen der sechs Parteien regelmäßig den “Sechsertisch” durch, in welchem sie eine gemeinsame Vision für eine Post-Erdogan-Türkei formulierten. Das Resultat: Sie möchten die Demokratie in der Türkei wiederherstellen, was etwa eine Rückkehr zum Parlamentarismus, eine Stärkung des Parteiensystems, den Abbau präsidialer Vetomächte, die Freilassung politischer Gefangener und die Abschaffung der strafbaren Präsidentenbeleidigung umfasst. Die Zentralbank soll wieder unabhängig werden. Selbst eine Prise Liberalismus ist dabei, zum Beispiel bei Themen wie Menschenrechten und Geschlechtergleichstellung.

Meet Kemal Kilicdaroglu

Ein großer Diskussionspunkt über die Monate war allerdings, wer das Bündnis als Kompromisskandidat anführen soll. In Anbetracht der machtbewussten Oppositionsgranden in den einzelnen Parteien galt die Frage als größtes Risiko für das Zusammenkommen des Bündnisses. Der charismatische Imamoglu, der Istanbuler Bürgermeister, galt als Favorit, bis er durch die Justiz neutralisiert wurde. Stattdessen fiel die Wahl auf CHP-Parteichef Kemal Kilicdaroglu.

Schon Kilicdaroglus Biografie liest sich wie das Gegenteil von Charisma. Der 75-Jährige ist ein gelernter Ökonom und pensionierter Beamter in der Sozialversicherungsanstalt. 1994, als Erdogan gerade die Türkei mit seinem Wahlsieg in Istanbul schockierte, gewann Kilicdaroglu den Titel “Beamter des Jahres“. Es war wohl auch die Sorge um Kilicdaroglus Befähigung, die Bevölkerung zu begeistern, welche IYI-Chefin Meral Aksener Anfang März dazu bewegte, das Bündnis der Nation zu verlassen – nur um drei Tage später nach massiver öffentlicher Kritik zurückzurudern. Kilicdaroglu verdient durchaus Respekt. Mangelndes Charisma kompensiert er mit einer demonstrierten Bodenständigkeit, welche ihm den Spitznamen “Gandhi” einbringt, zudem hat er sich über die Jahre als kompetenter Parteipolitiker und – in Anbetracht seiner Rolle bei der Geburt des Oppositionsbündnisses – als Brückenbauer bewiesen.

Bemerkenswert ist auch, dass Kilicdaroglu seine Zugehörigkeit zur oftmals diskriminierten religiösen Minderheit der Aleviten offensiv ausspielt und damit politische Tabus bricht. Beobachter nahmen an, dass Erdogan die “A-Frage” als Achillesferse des Gegners ausnutzen würde, doch stattdessen ging Kilicdaroglu in die Vorwärtsverteidigung. “Ich bin Alevit”, erklärte er in einer Videobotschaft offen, doch, “Wir werden nicht mehr über unsere Abgrenzungen und Unterschiede sprechen. Wir werden über unsere Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Träume sprechen” […] Wir können uns (unsere Identitäten) nicht aussuchen. Wir können uns (aber) entscheiden, gute Menschen zu sein.” Der Regierung blieb wenig übrig, als relativ kleinlaut zu erklären, dass Identitätsfragen für den Wahlkampf völlig uninteressant seien. Lob gab es derweil von der islamistischen Saadet – unerwartet und ein positives Zeichen für die Stabilität des Oppositionsbündnisses – und vom inhaftierten Ex-HDP-Chef Demirtas, was unentschiedene Kurden für Kilicdaroglu gewinnen könnte.

Auf Messers Schneide

Fakt ist, dass Erdogan und die AKP geschwächt in die Wahl gehen. In Umfragen liegt meist Kilicdaroglu vorne, gelegentlich Erdogan, in der Regel um wenige Prozentpunkte. Die Vorsprünge sind eng genug, um wenig Sicherheit zu bieten. Zwei kleinere Kandidaten mit zusammen 4% bis 7% Stimmenanteil bedeuten, dass eine Stichwahl vonnöten sein wird. Die Wahl könnte gleichermaßen ein Ende der Ära Erdogan bedeuten oder ihre Bestätigung.

Die Gründe für Erdogans Schwäche sind vielerlei. Die antidemokratischen Manöver, etwa in Istanbul, missfallen moderaten Wählern und mobilisieren Erdogan-Gegner. Das schwere Erdbeben in der östlichen Türkei fällt negativ auf den Präsidenten zurück, immerhin hatte seine Regierung durch Klagen strengere Bauvorschriften verhindert, was sich nun gerächt zu haben scheint. Starke Wachstumsraten in den vergangenen Jahren waren zum Teil durch eine hyperlockere Geldpolitik erkauft, welche sich jetzt in spektakulär hohen Inflationsraten von zuletzt 43%, zeitweise gar 85%, äußert. Die hohen Lebenshaltungskosten belasten Haushalte; die schwache Währung, welche allein in den letzten zwei Jahren 60% gegen den US-Dollar verloren hat, lässt Importeure leiden und treibt die Preise weiter. Die Auslandsinvestitionen vertrocknen und die Zahl der ausländischen Anteilseigner an türkischen Aktien sowie Staatsanleihen ist von jeweils 64% und 25% auf 29% und 1% gestürzt. Unternehmensprofite, lange trotz aller Schwierigkeiten stabil, enttäuschten im ersten Quartal. Die Türkei schafft es irgendwie, gleichzeitig eines der wirtschaftlich dynamischsten Länder der Welt zu sein und in einer Wirtschaftskrise zu stecken. Eine noch üblere Lage wird nur durch wenig nachhaltige Notmaßnahmen von Staat und Zentralbank verhindert. So verkauft die Zentralbank schätzungsweise 1 Milliarde USD pro Tag, um die Lira zu stützen, schmilzt also ihre ausländischen Devisen herunter.

Gut zu wissen: Entgegen jeglicher ökonomischer Theorie hält Erdogan daran fest, dass niedrige Zinsen zu niedriger Inflation führen würden – unser Explainer zu Inflation erklärt, warum das nicht so funktioniert – und nicht andersherum. Er diktiert diesen Kurs der Zentralbank auf, welche somit nicht adäquat auf die hohe Teuerung und die schwache Währung reagieren kann, sondern sie im Gegenteil noch anfeuert.

Die Verbraucherinflationsrate in der Türkei hat die 80% durchbrochen – laut offiziellen Zahlen wohlgemerkt. Inoffizielle Schätzungen reichten an die 150% heran. Quelle: Trading Economics

Anrennen gegen die Umfragen

Die Regierung reagiert auf die schwachen Umfragewerte mit staatlichen Wohltaten, welche zum Teil auch Notmaßnahmen zur Abfederung der eigens mitverursachten Wirtschaftskrise sind. Die staatliche Grundrente hat sich seit Ende 2021 verfünffacht, der Mindestlohn verdreifacht. Im Juli verspricht Erdogan eine weitere Mindestlohnerhöhung. Im laufenden Monat ist ein Teil des Erdgasverbrauchs völlig kostenlos. Infrastrukturprojekte sollen die Türken daran erinnern, was sie an Erdogan haben: Er präsentierte zuletzt das erste Atomkraftwerk, das erste Elektroauto und den ersten Flugzeugträger der Türkei, versprach eine “Super-Hochgeschwindigkeitszuglinie” und erinnerte an den Fund eines großen Gasfelds.

Auch vor Attacke scheut Erdogan nicht zurück: Kilicdaroglu – welchen er nur als “Mr. Kemal” (Bey Kemal) bezeichnet, um ihn als elitären, verwestlichten Schnösel darzustellen – sei eine “LGBT-Person“. Innenminister Suleyman Soylu warnte im Februar: “[Die Opposition] versucht, unsere gesamte Gesellschaft im Namen des LGBT zu entgendern” und dass LGBT die Heirat von Tieren und Menschen umfasse. Selbiger Solyu warnte vor einem “politischen Putschversuch” des Westens (welcher auch die LGBT-Ideologie verbreite) am Wahltag. Ganz ähnlich Erdogan: “Die feindselige Haltung des Westens gegen Erdogan ist eine feindselige Haltung gegen meine Nation. Meine Nation wird diese Verschwörung am 14. Mai verhindern”. Schrille Worte, welche auf Nervosität hindeuten.

Konsequenzen_

Recep Tayyip Erdogan. Quelle: F.Garrido-Ramirez, flickr

Kontinuität oder Wandel?

Ein Sieg Erdogans würde Mehr vom Alten bedeuten. Geht er gestärkt aus seiner bislang schärfsten Herausforderung hervor, könnte Erdogan den Staat noch intensiver nach seinem Gutdünken umstellen, insofern er dies wünscht. Völlige Freiheit besitzt er nicht – die Türkei ist institutionell und zivilgesellschaftlich noch weit vom Modell Russland entfernt -, doch der Demokratieabbau würde sicherlich voranschreiten.

Ein Sieg Kilicdaroglus hätte dagegen weitreichende Konsequenzen. In ihrer Gesamtheit sind sie schwierig abzuschätzen, doch für die türkische Demokratie wäre es ein positiver Schritt. Sie hätte eine echte Chance, wieder den Pfad zu einer unabhängigen Justiz, stärkeren Gewaltenteilung und gesünderen Zivilgesellschaft zu beschreiten. Die Professionalisierung der Wirtschafts- und Geldpolitik, mitsamt einer unabhängigen Zentralbank, dürfte die schnellste Lösung für die Inflationskrise sein und ausländisches Kapital zurückkehren lassen. 

Außenpolitisch nicht alles auf Neu

Außenpolitisch würde eine Kilicdaroglu-Regierung, in welcher die Partnerpartei IYI und der Istanbuler Bürgermeister Imamoglu eine wichtige Rolle einnehmen würden, mehr Annäherung an den Westen betreiben. Sie dürfte die eingefrorenen Beitrittsverhandlungen mit der EU auftauen – praktisch wird es nur um Visa-Regeln und Binnenmarktzugang gehen -, die Beziehungen mit den USA ausbessern und in der NATO nicht mehr als Störenfried agieren, welcher russische Raketensysteme einkauft, in Syrien einfällt und mit Griechenland militärische Drohgebärden austauscht. Stattdessen will die Opposition schnell das Veto gegen den schwedischen NATO-Beitritt aufheben.

Die Details sind schwierig einzuschätzen und könnten bei westlichen Beobachtern anfangs zu Enttäuschung führen. Streit mit Athen dürfte es auch unter neuen Regierungen geben, denn die Frage nach maritimen Besitzungen wird nicht plötzlich durch Erdogans Abschied gelöst. Kilicdaroglu äußerte in der Vergangenheit Sympathien für den Einkauf russischer S-400-Raketensysteme. Oppositionspolitiker äußern Unzufriedenheit über den Umgang der EU mit dem Migrationspakt 2016. Und im Ukrainekrieg dürfte die Türkei weiterhin eine “dritte Linie” fahren, in welcher sie die Ukraine unterstützt, aber nicht die Verbindungen zu Russland kappt. Auch bei heiklen Themen wie der Anerkennung des Genozids an den Armeniern, der geplanten Abschiebung syrischer Flüchtlinge und dem Umgang mit den Kurden in der Türkei sowie den kurdischen Milizen im Umland dürfte es nur inkrementelle Entwicklungen geben.

Nichtsdestotrotz: Aus Sicht der westlichen Staaten wäre ein Regierungswechsel eine wünschenswerte Entwicklung. Global hätte er das Potenzial, zu zeigen, wie eine Demokratie die modernen strongmen abschütteln und die Zersetzung ihrer Institutionen umkehren kann. Bislang fehlen die Beispiele dafür. Israels Achtparteienbündnis warf Netanjahu – die sanfteste Version eines strongman – aus dem Amt, nur um kurz darauf auseinanderzufallen und wieder von ihm ersetzt zu werden. In Ungarn scheiterte ein gefeiertes Oppositionsbündnis kolossal und ließ Premier Orbán stärker denn je aussehen. Womöglich zeigt ausgerechnet die Türkei, welche sich nach zwanzig Jahren manchmal wie Erdogans persönliche Domäne anfühlt, einen neuen Weg auf. 

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