In den USA stehen die Zwischenwahlen bevor. Wir erklären, was du wissen musst und werfen einen kurzen Blick auf die Themen, welche die USA beschäftigen.
Die Wahl | Die Themen
(insgesamt 14 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Die USA wählen am Dienstag die Zusammensetzung ihres Kongresses. Das hat große Implikationen für die Fähigkeit der USA, überhaupt noch Gesetzgebung zu betreiben – und in welche Richtung.
- Die Republikaner haben beste Chancen, das Unterhaus zu erobern. Der Senat könnte in beide Richtungen kippen oder geteilt bleiben.
- Wie immer richten sich die Augen vor allem auf einige wenige kompetitive battleground states, darunter Pennsylvania und Georgia.
- Das wichtigste Thema für die US-Amerikaner ist die Wirtschaft. Dahinter folgen beispielsweise Bildung, Kriminalität und Abtreibung.
- Und dann wäre da noch das Thema “Zukunft der Demokratie”: Das Verhalten des trumpistischen Flügels der republikanischen Partei weckt Sorgen über Attacken auf die Institutionen der USA.
Die Wahl_
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Am 8. November, am Dienstag, schreiten die US-Amerikaner zu den Wahlurnen, zumindest all jene, welche nicht bereits Wahlbriefe versendet hatten. Es sieht alles danach aus, als würde der (verlängerte) Wahlabend für die Republikaner erfreulicher geraten als für die Demokraten.
Grundsätzlich ist es kaum überraschend, wenn die Opposition in den Zwischenwahlen zulegt. Wähler nutzen die sogenannten Midterms traditionell dafür, die Partei des Präsidenten für jedwede wahrhaftigen und wahrgenommenen Fehler abzustrafen, welche sich in den zwei Jahren davor angehäuft hatten. 2006 profitierten beispielsweise die Demokraten, 2010 und 2014 die Republikaner, 2018 die Demokraten. Das gilt ganz besonders, wenn die Partei so wie aktuell die Demokraten den gesamten Kongress kontrolliert – also Senat (Oberhaus) und House of Representatives (Unterhaus).
Die Demokraten schienen lange wenige Hoffnungen zu haben, den historischen Trend zu brechen, bevor sie im Sommer im Zuge einiger legislativer Erfolge doch auffällig zulegten. Nun, in den letzten Wochen vor der Wahl, wandte sich das Geschick wieder zugunsten der Republikaner. Sie dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit im Unterhaus erlangen; im Senat stehen beide Parteien statistisch gesehen vor einem Patt, haben also ähnliche Chancen auf eine Mehrheit. Kontrolliert eine Partei eine oder noch besser beide Kammern, hat sie viel Einfluss auf die Gesetzgebung, kann allermindestens Vorschläge blockieren. Sie kann außerdem Untersuchungsausschüsse aufsetzen oder kassieren: Die Republikaner dürften im Falle eines Wahlerfolgs sämtliche Kongress-Ermittlungen gegen Ex-Präsident Trump einstellen und dafür neue gegen die Biden-Familie, Ex-Gesundheitsberater Anthony Fauci oder die Justizbehörden eröffnen. Zudem kann die den Senat kontrollierende Partei Personalien in der Justiz beeinflussen, bis hin zum wichtigen Supreme Court und den weniger prominenten, doch ebenfalls wichtigen untergeordneten Gerichten.
Pick your Midterm
Die Midterms sind in Wahrheit mehrere Hunderte unterschiedliche Wahlen, die meisten auf lokaler oder Staatenebene. So werden zum Beispiel 36 Gouverneure gewählt, welche die Exekutive in den Bundesstaaten darstellen und damit bei Themen wie Wahlrecht und Abtreibung (inzwischen ja eine Kompetenz der Bundesstaaten) viel Gewicht haben werden. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf jenen Wahlen der nationalen Ebene, welche das Repräsentantenhaus (im US-Politjargon nur “House”) mit seinen 435 Abgeordneten und den Senat mit seinen 100 Senatoren besetzen werden. Während das House vollständig gewählt wird, werden im Senat am Dienstag ganz turnusgemäß nur 34 Sitze neu besetzt, auf sechs Jahre Amtszeit.
Die Berichterstattung in den USA konzentrierte sich meist auf einige Bundesstaaten und dort auf die Wahlkämpfe um den Senat. Zweiteres hängt wohl damit zusammen, dass die Zahl der Senatsabstimmungen übersichtlicher und ein einzelner Senator mächtiger als ein einzelner Abgeordneter im House ist. Ersteres liegt daran, dass die allermeisten Ergebnisse mehr oder weniger feststehen, da Staaten oftmals entweder strikt republikanisch oder strikt demokratisch wählen. Das lässt einige wenige kompetitive battleground states zum Zünglein an der Waage geraten. Sowohl Republikaner als auch Demokraten haben hier Chancen.
Battleground states
Ein Beispiel ist Pennsylvania, wo die Demokraten mit John Fetterman einen bislang republikanisch gehaltenen Sitz übernehmen möchten. Fetterman, zwei Meter groß und breit gebaut, tritt als Mann des Volkes (€) auf: Der Harvard-Alumnus zeigt sich oft im Hoody statt im Anzug, versteckt seine Tattoos nicht und betont regelmäßig seine Arbeit als Bürgermeister des kleinen Orts Braddock. Seine Positionen sind ein Mix aus Linksprogressivismus und dem moderaten Mainstream der Demokraten. Der republikanische Gegenkandidat, der Fernseh-Arzt Mehmet Oz – ein Verfechter und Verbreiter von Pseudowissenschaften -, schien lange chancenlos. Es half nicht, dass Oz sich in einem Video darüber aufregte, dass die Inflation im Land den Preis von Crudités, also Vorspeiseplatten, erhöht hatte, denn das war nicht die erste Assoziation, welche die Amerikaner mit der Teuerung hatten. Doch über den Herbst rückte Oz immer näher an Fetterman heran, wohl auch, da nach einem Schlaganfall Zweifel über Fettermans Gesundheitszustand wuchsen. Jetzt scheint die Wahl in Pennsylvania in der Schwebe zu hängen. Wer dort gewinnt, hat beste Chancen auf die legislative Dominanz.
Auch in Georgia könnte alles passieren. Der demokratische Senator Raphael Warnock verteidigt seinen Sitz gegen den Republikaner Herschel Walker, welcher mit einer beeindruckenden Zahl an Skandalen, hauptsächlich persönlicher Natur, aufgefallen ist. Wie auch in Pennsylvania schienen die Demokraten lange Zeit gute Chancen zu haben, doch die Republikaner holten in den vergangenen Wochen auf. Der Bundesstaat hatte Joe Biden 2021 eine unerwartete Mehrheit im Senat verschafft, jetzt könnte er sie wieder wegnehmen. Das Resultat steht übrigens womöglich erst Anfang Dezember fest, denn wenn kein Kandidat am Dienstag eine absolute Mehrheit erzielt, entscheidet eine Stichwahl am 6. Dezember.
Die Sache mit den Prognosen
Wie zuverlässig sind überhaupt die Wahlprognosen? Es benötigt nicht viel Rechtfertigung, um diese Frage zu stellen. Sowohl 2016 als auch 2020 lagen die Prognosen gehörig daneben; die finalen Ergebnisse lagen beide Male an den Rändern der aufgestellten Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Pollsters und Pundits diskutierten darauf hin strukturelle Schwächen: Einige erklärten, dass Trump-Anhänger auffällig schüchtern bei Umfragen seien und deswegen unterrepräsentiert; andere beklagten wiederum, dass die Umfragen einfach auf falschen Annahmen über die demografische Verteilung in den USA aufgebaut seien. Unterschiedliche Analysten versuchten in den vergangenen Jahren unterschiedliche Justierungen (€), um auf akkuratere Vorhersagen zu kommen. Zugleich gibt es Hinweise, dass Prognosen auf Staatenebene besser abschneiden. Nichtsdestotrotz weiß niemand so recht, ob sich die Prognosen diesmal besser schlagen werden. Die Unsicherheit scheint grundsätzlich eher zugunsten der Republikaner auszufallen, welche in den letzten zwei großen Wahlen in den Umfragen unterrepräsentiert waren.
Die Themen_
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It’s the economy, stupid
Jede einzelne Wahl in den Midterms hat ihre eigene Dynamik und ihre eigenen Themen, doch einige Dinge beschäftigen das gesamte Land. Eine Umfrage des renommierten Pew Research Center vom 3. November liest sich wie ein wilder Ritt durch die Diskussionen, welche die USA in den vergangenen Monaten beschäftigt haben.
Da wäre die Wirtschaft, welche für Wähler mit Abstand das wichtigste Thema ist. 92 Prozent der Republikaner und 60 Prozent der Demokraten nennen sie “sehr wichtig”, zusammen mit den Unabhängigen macht das 79 Prozent aller Wähler. Kein Wunder, denn nur 18 Prozent der Befragten schätzen die Wirtschaft als “gut” oder “exzellent” ein, auch wenn sich das BIP ordentlich entwickelt und immerhin die Hälfte positiv auf ihre private finanzielle Situation blickt. Im Zentrum der Unzufriedenheit steht die hohe Inflation, welche Wirtschaftsunsicherheit kreiert und eine Zinswende hervorgerufen hat, welche beide wiederum Sorgen über eine Rezession wecken (und, daraus folgend, den Aktienmarkt abwärts befördern). Die Republikaner beschuldigen US-Präsident Biden und die Demokraten dafür und tatsächlich haben deren gigantische Konjunkturpakete zweifellos zur Teuerungsrate beigetragen. Es lassen sich kaum 3,1 Billionen USD (1,8 Billionen in einem frühen Covid-Hilfspaket; 1,2 Billionen in einem Infrastrukturpaket) mobilisieren, ohne dass sich das im Preiswachstum bemerkbar macht. Beste Beispiele waren Helikoptergeldzahlungen an Bürger und ein Schuldenerlass für Studenten, welcher nicht einmal in den Zahlen oben enthalten ist, sondern zusätzliche ca. 400 Milliarden USD kostet, wenn auch über 30 Jahre.
Die Demokraten halten dagegen: Die Inflation sei wahlweise die Schuld des russischen Präsidenten Wladimir Putin, da sein Ukrainekrieg zu astronomischen Energiepreisen geführt hat (was ebenso ohne Frage in Teilen wahr ist) oder, wenn man den progressiven Flügel befragt, Folge gieriger Unternehmen, deren Profite sich derzeit immerhin auf einem 70-Jahres-Rekordhoch befinden (Ökonomen sind sich nicht einig, wie sehr Preissteigerungen die Inflation ausgelöst haben oder lediglich Reaktionen auf sie darstellen). Das republikanische Narrativ verfängt sich mehr, nicht zuletzt da sie als wirtschaftlich kompetentere Partei wahrgenommen werden und die Demokraten nun einmal regieren, also für Rückschläge eher in die Pflicht genommen werden.
Gut zu wissen: Ein klein wenig Zeitkapsel und frühe Diskussion rund um die Frage, wie sehr die Bidenschen Konjunkturpakete zur Inflation beitragen könnten, liefern unser Explainer zu Bidenomics aus März 2021 – welcher sich um Konjunkturpakete dreht, welche heute nur in anderer Form und unter anderen Namen existieren, doch nach wie vor relevante Diskussion bietet – sowie unser Explainer zu Inflation aus November 2021.
Die vermaledeite Grenze
Zwei weitere wichtige Themen, bei welchen die Demokraten nicht sonderlich gut wegkommen, sind Gewaltkriminalität (finden 61 Prozent der Befragten “sehr wichtig”) sowie Immigration (54 Prozent). Die Kriminalität in den USA scheint zugenommen zu haben, so zumindest die Wahrnehmung von 88 Prozent der Bevölkerung: Mehr Einbrüche, mehr Morde, mehr Massenschießereien, mehr Gewalt. Problematisch nur, dass die Datenlage uneindeutig ist. Das FBI veröffentlicht Zahlen, doch diese sind dermaßen unvollständig und unpräzise, dass es fast sinnlos ist, sie zu erwähnen. In jedem Fall: Die USA sind keineswegs auf dem Weg zurück in die gewalttätigen 1990er, doch für die Wahl spielt in erster Linie die Wahrnehmung eine Rolle. Die Demokraten gelten im Feld der Kriminalitätsbekämpfung seit jeher nicht als erste Wahl, und schon längst nicht, nachdem 2020 die progressive Forderung nach “defund the police“, also sinngemäß “Nehmt der Polizei das Geld weg”, die Runde gemacht hatte. Sie hatte es zwar nie in den demokratischen Mainstream geschafft und stellte eigentlich auch nie eine kohärente, eindeutige politische Forderung dar – war in erster Linie ein Protestslogan, mit variierenden Vorstellungen drumrum -, doch warf dennoch kein gutes Licht auf die Partei bei vielen moderaten Wählern. Ähnlich beim Thema Immigration, wo die freundlichere Linie der Biden-Regierung tatsächlich zu einer rasant steigenden Zahl an illegalen Einreisen geführt zu haben scheint, allermindestens aber zeitlich mit ihnen korreliert. Die Republikaner verweisen durchaus erfolgreich auf eine “Krise an der südlichen Grenze”, während die Biden-Regierung ihre immer dünner gestreckten humanitären Ressourcen verwaltet und stillschweigend die Trumpsche Mauer weiterbaut.
Der Feind sitzt im Klassenzimmer
In einigen Themen zeigt sich der “Kulturkrieg” der USA, zwischen Progressiven und Konservativen, besonders deutlich. Wenn Bildung von 64 Prozent der Pew-Befragten als drittwichtigstes Thema genannt wird, dann liegt es daran, dass längst ein Diskurs um Schulbücher, Curricula und Umgangsformen ausgebrochen ist. Muss “Critical Race Theory” (eine Betrachtung von Rasse – race – im Kontext von Gesellschafts- und Rechtsstrukturen) in der Schule gelehrt werden oder muss es verboten werden? Wie sehr dürfen Homosexualität oder nicht-traditionelle Familienentwürfe im Curriculum auftauchen? Was ist die Rolle von Religion in den Schulen der nominell säkularen USA? Wie soll mit verschiedensten Genderidentitäten umgegangen werden, wenn überhaupt?
Dann natürlich der Sommer-Blockbuster: Abtreibung. Ein Thema, bei welchem eigentlich der Großteil des Landes einer relativ liberalen Linie zustimmt, doch welches von einer konservativen MInderheit erfolgreich bis zum Supreme Court eskaliert worden ist. Der Court kippte die nationale Rechtsgrundlage für Abtreibungen und verlagerte die Entscheidungsgewalt auf Staatenebene, wo Abtreibungen nun in mindestens 13 Staaten (fast) komplett verboten sind. Das Thema polarisiert und mobilisiert insbesondere die Demokraten (75 Prozent nennen es “sehr wichtig”); doch auch moderate Republikaner (39 Prozent nennen es “sehr wichtig”).
Explainer zur politischen Debatte rund um Abtreibung (Mai 2022)
Nicht alles ist schlecht für die Biden-Regierung
Bei allen Schwierigkeiten geht die Biden-Regierung auch mit einigen Erfolgen in die Midterms, welche das Ergebnis zumindest abfedern werden. Sie setzte in den vergangenen Monaten ein totgeglaubtes, 437 Milliarden USD schweres Klima- und Gesundheitspaket durch, den Inflation Reduction Act (dessen Name allein Beweis dafür ist, wie sehr das Thema Inflation die Demokraten verfolgt), mit welchem sie die USA auf Jahrzehnte prägen dürfte. Sie brachte ein Gesetz durch den Kongress, welches die heimische Chipindustrie hochziehen soll. Und sie forcierte den Studiengebührenerlass, mit welchem sie zumindest den progressiven Flügel der eigenen Partei erfreute. In Anbetracht des ewig blockierten Kongresses ist in den USA des Jahres 2022 alleine das Verabschieden von Gesetzen – ganz egal, wie man sie inhaltlich bewertet – bereits ein Erfolg. Die Bevölkerung stimmte zu und ließ die Demokraten sowie Präsident Biden in den Umfragen steigen. Der Effekt hielt allerdings nicht lange an und Biden bleibt äußerst unbeliebt: Mit 40 Prozent Zustimmung und 55 Prozent Ablehnung (Reuters) ist er im Grunde auf dem Tiefpunkt seiner Beliebtheit und ungefähr vergleichbar unbeliebt wie Donald Trump nach dessen ersten zwei Jahren im Amt. Im Wahlkampf wird Biden seitens seiner Kampagne fast demonstrativ versteckt, um die gelegentlichen Ausrutscher des 79-Jährigen zu vermeiden, aber eben auch, um beliebtere Kandidaten nicht allzu sehr mit ihm zu assoziieren.
Gut zu wissen: Die schwache Reputation der Biden-Regierung ist nach Meinung der whathappened-Redaktion nicht völlig fair. Die Präsidentschaft ähnelt bislang einer Achterbahnfahrt: Auf eine beeindruckend erfolgreiche Impfstoffkampagne folgte eine Quasi-Kapitulation vor dem Mix aus Delta-Variante und Anti-Covid-Kulturkrieg; eine kraftvolle Fiskalpolitik, welche nicht vor der Ambition zurückschreckt, die USA langfristig umzukrempeln (insbesondere klimapolitisch), ging mit hoher Inflation einher; eine aktive Industriepolitik, zum Beispiel durch den CHIPS Act, wird von einigen Beobachtern als intelligent und zukunftsträchtig bezeichnet, von anderen als ineffizient und gefährlich protektionistisch. Der Abzug aus Afghanistan, von Trump eingeleitet, doch von Biden zu Ende geführt, war chaotisch und ein Desaster – doch der Umgang mit dem heranziehenden Ukrainekrieg war brilliant. Die jetzige Rolle der USA im laufenden Krieg lässt sich nicht überschätzen. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass die Ukraine ohne die USA nicht mehr existieren würde; Europa ist höchstens Juniorpartner. All die Erfolge der Regierung gelangen trotz einer nur hauchdünnen Mehrheit im Kongress, welche auch noch regelmäßig im parteiinternen Flügelstreit erwürgt wurde. So umstritten Biden sein mag, seine Rolle als transformativer Präsident der USA hat er sich vermutlich bereits gesichert.
Die Zukunft der Demokratie
Das zweitwichtigste Thema für die US-Amerikaner ist die “Zukunft der Demokratie”. Was ungewöhnlich abstrakt oder nach instabilem Entwicklungsland klingt, ist in den USA zum bemerkenswert konkreten Streitpunkt geworden und wird von 70 Prozent aller Wähler als “sehr wichtig” empfunden. Vor allem die Demokraten befürchten eine Orbanisierung ihres Landes durch die Republikaner, also ein gesteuertes Abdriften in eine Art autoritäre Demokratie, in welcher demokratische Institutionen ausgehebelt und instrumentalisiert werden, um einen populistischen Sozialkonservatismus zu perpetuieren (es half nicht, dass der namensgebende ungarische Premier Viktor Orban im Mai unter Jubel auf einer republikanischen Parteikonferenz begrüßt wurde und dort eigene Medien forderte sowie gegen “LGBT-Propaganda” wütete).
Nichts facht diese Sorge so an wie, kaum überraschend, Ex-Präsident Donald Trump, welcher 2024 einen erneuten Anlauf auf das höchste Amt wagen könnte. Die Sorgen sind spätestens seit Ende 2020 vollends begründet: Der US-Präsident und sein Zirkel waren nicht willens, ihre Wahlniederlage anzuerkennen und damit den wohl grundlegendsten demokratischen Akt zu vollziehen. Äußerst erfolgreich platzierten sie im öffentlichen Diskurs die Behauptung, dass die Wahl von den Demokraten “gestohlen”, also manipuliert, worden sei. Die These, welche von Anfang an diffus, dubios und rein rechnerisch kaum möglich war (die whathappened-Redaktion rechnete in diesem Explainer vor, auch mittels Daten konservativer Thinktanks), ist nach zwei Jahren ohne weitere Beweise, ohne bessere Argumente und ohne juristische Erfolge nur noch ins Reich der Verschwörungstheorien zu verbannen. Das hält allerdings Trump, seine Getreuen und seine ungebrochen große Anhängerschaft nicht davon ab, an ihr unter dem Banner “Stop the Steal” festzuhalten.
Ihnen folgt ein Großteil der republikanischen Partei, welche strukturell nach wie vor dem Trumpismus unterworfen ist, auch wenn nicht alle Republikaner diesem Flügel zuzurechnen sind. Nur 25 Prozent der Republikaner glauben, dass Biden rechtmäßig zum Präsidenten gewählt worden war (Gesamt: ca. 60 Prozent). Republikanische Kandidaten, beispielsweise in den jetzigen Midterms, müssen sich den Trumpschen Segen abholen, um sich nicht ihre Chancen in den parteiinternen Vorwahlen (Primaries) zu ruinieren: Trumps erwählte Kandidaten gewannen 92 Prozent ihrer Primaries. Die meisten “seiner” Kandidaten stimmen zu, dass die Wahl 2020 illegitim gewesen sei, Biden also nicht wirklich Präsident, sondern ein Usurpator. Viele folgen ihrem Idol und weigern sich, zu versprechen, das Ergebnis in den Midterms anzuerkennen, sollten sie ihre Wahlen verlieren.
Stop the Steal vs The Big Lie
Die Folgen für die amerikanische Demokratie sind bereits jetzt namhaft und besorgniserregend. Am 6. Januar 2021 stürmten Aufständische das Kapitol, um die Zertifizierung der Präsidentschaftswahl zu kippen und, womöglich, den Vizepräsidenten zu lynchen. Bewaffnete rechtsextreme Milizen wie die “Proud Boys” agieren immer selbstbewusster und gewalttätiger. Paul Pelosi, der Ehemann der Unterhauschefin der Demokraten, Nancy Pelosi, einer Hassfigur für den rechten Rand, wurde jüngst körperlich attackiert – womöglich Anomalie, womöglich Vorbote für eine neue Kultur politischer Gewalt. Ein Signal für die neue Kultur des politischen Umgangs lieferten die Republikaner jedenfalls umgehend: Spitzenpolitiker reagierten auf den Paul-Pelosi-Fall teils mit Häme, teils mit Verschwörungstheorien, in welchen die Attacke beispielsweise als homosexuelle Affäre dargestellt wurde oder durch Verweis auf vermeintliche Ungereimtheiten aufgezeigt werden sollte, dass sie nicht durch einen Trump-Anhänger begangen worden sei, ungeachtet eines entsprechenden Blogs des mutmaßlichen Täters (Aufarbeitung durch die New York Times). Anteilnahme mit dem Opfer und Verurteilungen der Tat gab es ebenfalls seitens Spitzenrepublikaner, darunter den Senats- und Unterhausführern Mitch McConnell und Kevin McCarthy, doch sie drangen durch das schrille Verschwörungspotpourri kaum medial durch.
Die USA sind somit geteilt in ein Lager aus “Stop the Steal”, welches den institutionellen Kern des Landes ablehnt, und “The Big Lie”, welches die Lüge als solche benennt. Eine Äquivalenz zwischen beiden Seiten gibt es nicht. Fraglos, auch seitens der Demokraten findet eine Dämonisierung des politischen Gegners statt, welche auch gerne rhetorisch über die Stränge schlägt (“Für die Demokraten sind alle Republikaner MAGA-Anhänger”, beklagt der konservative Washington Examiner beispielsweise). Und auch seitens der Demokraten wird mitunter an den Institutionen gegraben, beispielsweise wenn der Supreme Court mit mehr Richtern gefüllt und der Filibuster – eine Art Kongress-Veto – abgeschafft werden soll, oder wenn die prominente Georgia-Demokratin Stacey Abrams sich weigert, ihre Niederlage in der Gouverneurswahl 2018 anzuerkennen (sie widerspricht dieser Darstellung). Solche Vorschläge und Vorfälle sind inhaltlich in ihrer Legitimation diskutierbar, doch sie stehen in keinem Verhältnis zu den Narrativen und Strategien der Trumpisten, welche bereitwillig an den Grundfesten der amerikanischen Demokratie schütteln.
In diesem Sinne werden die Midterms richtungsweisend. Sie sind das erste Mal, dass sich Stop the Steal und The Big Lie zur Wahl stellen. Der zu erwartende Erfolg der Republikaner bedeutet selbstverständlich nicht, dass die USA unvermeidlich in die Orbanisierung schlittern – die meisten US-Amerikaner wählen die Partei aufgrund ihrer Positionen zu Immigration, Wirtschaft und Co., nicht, weil immer mehr ihrer Funktionäre Wahlniederlagen zu Verschwörungen verklären und sich über politische Gewalt gegen die andere Seite freuen. Doch die Art des Sieges und ihr Nachspiel werden Lektionen für die Präsidentschaftswahl 2024 haben, wenn Donald Trump oder ein Loyalist zur Wahl stehen dürften. In der Kurzfrist solltest du dich derweil auf noch mehr legislative Blockade, Kulturkrieg und schrillen Diskurs einstellen.
Gut zu wissen: Weitere wichtige Wahlthemen für die US-Amerikaner sind Gesundheit (63 Prozent bezeichnen es als “sehr wichtig”) – natürlich im Kontext der Covid-Politik -, Energie (61 Prozent), Wahlrecht (58 Prozent), Waffenrecht (57 Prozent), die Struktur des Supreme Courts (55 Prozent), Außenpolitik (54 Prozent) und Klimawandel (38 Prozent). Beim Klimawandel zeigt sich eine markante Divergenz: 68 Prozent der Demokraten nennen ihn “sehr wichtig”, nur 9 Prozent der Republikaner (Pew Research).