Dieser Krieg wird noch lange dauern – und der Westen muss bereit sein

Meinung: Das erste Halbjahr des Ukrainekriegs

Ein zweiter Meinungsbeitrag zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, mitsamt eines Rückblicks auf die letzten sechs Monate.
(insgesamt 15 Minuten Lesezeit)

Dieser Krieg wird noch lange dauern – und der Westen muss bereit sein_

Seit einem halben Jahr befindet sich Europa im Krieg. Die whathappened-Redaktion veröffentlichte am 27. Februar, also drei Tage nach Kriegsausbruch, einen Meinungsbeitrag dazu – übrigens den ersten in ihrer Geschichte. Jetzt, nach sechs Monaten (und anderthalb Wochen), nutzen wir die Gelegenheit für einen zweiten Meinungsbeitrag, in welchem wir außerdem den Kriegsverlauf Revue passieren lassen.

Im ersten Meinungsbeitrag, direkt nach Kriegsbeginn, urteilten wir harsch über Russland. Das Land habe sich “aus der Zivilisation” verabschiedet und einen “Akt der Barbarei” begangen; die Kriegsbegründungen seien wenig mehr als kreative Lügen gewesen, von welchen einige die “Intelligenz der Zuhörer” beleidigt hätten. Das Land sei “kein moderner Staat des 21. Jahrhunderts”, sondern “neoimperial”; Wahrheit existiere nur als Machtinstrument und Gewalt sei das Mittel der Wahl.

Meinungsbeitrag zu Russlands Invasion (Februar 2022)

Russland und der Lügenpalast

Wenig ist seitdem geschehen, was ein Umdenken erforderlich machen würde. Die whathappened-Redaktion findet, dass ihr Beitrag gut gealtert ist. Russland setzt seinen Angriffskrieg unentwegt fort, lediglich durch das eigene militärische Versagen eingeschränkt. Der Krieg hatte mit russischen Lügen begonnen – bis zum Vorabend der Invasion dementierte Moskau seine Invasionsabsichten – und mit Lügen ging er weiter. Die russische Führung widerspricht sich mitunter direkt, so beispielsweise als Außenminister Lawrow im Juli die Köpfung der Kiewer Führung und ein “Zusammenleben” von Ukrainern und Russen als Kriegsziel nannte, nachdem er im April noch beides negiert hatte (die Ukrainer dürften selbst entscheiden, wie sie leben würden, so Lawrow damals). Wenn es nicht lügt, versucht Moskau, verwirrende Narrative zu platzieren, zum Beispiel in der stetig wechselnden Kriegsbegründung und den Kriegszielen: Jüngst räumte Russland ein, es doch auf mehr als den Donbass abgesehen zu haben; in der Vergangenheit war mitunter statt Territorialgewinnen nur von einer diffusen “Denazifizierung” die Rede. 

Auch die militärische Kommunikation ist kaum besser; auf die russische Generalität ist wenig Verlass. Soeben im August führte das zu einer skurrilen Situation: Russland bezeichnete eine ukrainische Gegenoffensive als umgehend und vollwertig gescheitert, nur um dann Tage später von großflächigen Kampfhandlungen zu berichten, die Russland zwar allesamt gewonnen hätte, doch welche es ja eigentlich gar nicht mehr gegeben haben dürfte. Fast schon erfrischend ist im Gegenzug die relative Ehrlichkeit der ukrainischen Generalität, welche bei militärischen Rückschlägen immerhin von “teilweisen Erfolgen” des Feindes schreibt oder an einer bestimmten Achse auffällig stumm bleibt, und die Propaganda (“wir erobern’s bald wieder zurück!”) lediglich als Garnitur drumherum streut.

Im politischen Russland gilt “Wahrheit” seit jeher als relatives Konzept, welches in erster Linie ein Instrument zur Ausübung von Macht sei. Entsprechend wenig sind langjährige Beobachter Russlands überrascht von der Geringschätzung von Wahrheit, den teils dreisten, teils absurden Lügen der Führung. Ein gutes Beispiel ist der Raketenangriff auf den Bahnhof Kramatorsk im Donbass, bei welchem im April 60 ukrainische Zivilisten starben. Russische Staatsmedien, Militärblogger und individuelle Soldaten hatten erst über erfolgreiche Angriffe auf den Ort berichtet; die Meldungen nach Bekanntwerden der Opfer dann schnell gelöscht. Die russische Regierung dementierte ihre Rolle und beschuldigte die Ukraine skurrilerweise, eigens ihren Bahnhof beschossen zu haben. Zudem besäße Russland gar keine der fraglichen Totschka-U-Raketen, mit welchen Kramatorsk beschossen worden war, so der Kreml – nur gab es dummerweise Fotos von Totschka-Raketen bei russischen Militärparaden in den Monaten zuvor.

Die Brutalität

Kramatorsk ist ein gutes Stichwort für einen anderen Aspekt, mit welchem sich Russland in den vergangenen sechs Monaten unweigerlich verbunden hat: Kriegsverbrechen, womöglich bereits Tausende an der Zahl. Kiew ermittelt zu über 21.000 Vorwürfen; internationale Beobachter halten sich mit den Zahlen zurück, doch berichten ebenfalls von schweren Verbrechen von russischer Seite (auch der Ukraine werden punktuell Verbrechen oder gefährliche Kriegspraktiken vorgeworfen, doch sie stehen bislang in keiner Relation). 

Die meisten mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen kratzen nur noch an der öffentlichen Aufmerksamkeit im Ausland, darunter der regelmäßige Beschuss ziviler Infrastruktur, beispielsweise eben von zahlreichen Bahnhöfen. Die Massaker rund um Kiew – Butscha, Irpin und Co. – stochen heraus. Die UN zählte dort knapp 1.200 ermordete Zivilisten. In Hunderten Fällen gab es Hinweise auf unrechtmäßige Tötungen und andere Verbrechen durch russische Truppen. Dazu kommen jene Kriegsverbrechen, welche sich noch nicht druckreif bestätigen oder zuordnen lassen: In Mariupol, wo nach mehreren Monaten russischem Städtekampf im Grunde keine Stadt mehr übrig ist und Russland zwischendurch Geburtskliniken und Theater beschoss (beides Waffenlager, so Moskau); oder in dem russischen Kriegsgefangenenlager, in welchem bei einem ungeklärten Vorfall Dutzende Ukrainer starben. Die Lage dieser Standorte hinter der Frontlinie, in russischer Hand, weit jenseits des Zugriffes unabhängiger Kontrolleure, hüllt die Verbrechen in einen aufklärungsfreien Schleier.

Der russische Umgang mit der Wahrheit und mit grundlegendsten Menschenrechten ist bedauerlich, aber kaum überraschend. Russland hatte sich bereits in Tschetschenien, Syrien oder dem Donbass als Heer etabliert, welches Brutalität als Kriegswaffe einsetzt. Grosny, die tschetschenische Hauptstadt, und Aleppo, das Juwel des nördlichen Syriens, gelten nicht umsonst als zwei der brutalsten und zerstörerischsten urbanen Schlachten der vergangenen Jahrzehnte. Überraschend war der aktuelle Krieg in anderer Hinsicht: Er verlief militärisch schlecht für Russland.

Kriegsphase 1: Die Schlacht um Kiew


Es schien vor sieben Monaten geradezu unmöglich, dass die Ukraine nach einem halben Jahr Krieg gegen Russland noch existieren würde, geschweige denn in einer Form, welche an ihre ursprünglichen Grenzen erinnert. Noch am 26. Februar, zwei Tage nach Kriegsbeginn, hatten hochrangige US-Offizielle inoffiziell erklärt, dass Kiew innerhalb von 96 Stunden fallen werde. Inzwischen hat es weit über 96 Tage hinter sich. In einer ersten Kriegsphase versuchte sich Russland erfolglos an einem Blitzkrieg: Fallschirmspringer eroberten den Antonov-Flughafen in Hostomel, nahe Kiew, doch konnten ihn nicht für die Landung weiterer Truppen und einen Sturm auf die Hauptstadt sichern. Die Regierung in Kiew ließ sich nicht schnell ausschalten; einige Anschläge auf Präsident Zelensky scheiterten. Die ukrainischen Antiluftkapazitäten und militärischen Kommunikationslinien (“Command and Control”) konnten nicht zerstört werden. Nur im nördichen Donbass, in der Oblast Luhansk, und im Süden, bei Cherson und Saporischschja, gelangen Russland nennenswerte Territorialgewinne. Im Norden rückte es tief ins Kiewer Umland sowie um Charkiw herum vor, doch die Gebiete blieben umkämpft. Auf den misslungenen Blitzangriff auf Kiew reagierte Moskau mit einer gigantischen, 60 Kilometer langen Militärkolonne, welche den Angriff auf Kiew betreiben sollte. Sie blieb allerdings aufgrund des mal waldigen, mal matschigen Geländes und gezielter ukrainischer Attacken stecken. Solche operativen Misserfolge, fehlende Moral und schwache Versorgung setzten der russischen Armee zu. Bis zum April kapitulierte Russland in der Schlacht um Kiew, zog sich aus dem gesamten Norden der Ukraine zurück und beendete die erste Kriegsphase mit einer beachtlichen, unerwarteten Niederlage. Oder, im wahrheitsentbundenen Moskauer Neusprech: Sie zog sich nach erledigter Mission und aus humanitären Gründen zurück, völlig freiwillig, siegreich.

In einer “anderthalbten” Kriegsphase siegte Russland in der Schlacht um Mariupol, welche von Anfang März bis Mitte Mai gedauert hatte und damit deutlich länger als von Beobachtern erwartet. Es eroberte einen einst bedeutsamen Schutthaufen, dessen Bevölkerung sich auf knapp 100.000 geviertelt hatte und mutmaßlich bereits mit Cholera-Ausbrüchen kämpft. Der Ukraine gelang derweil, Russland weitestgehend aus dem Umland der zweitgrößten Stadt Charkiw zu vertreiben. Zwischendurch schien es, als könne die ukrainische Armee entlang der gesamten Frontlinie die internationale Grenze erreichen, doch letztlich fror die Front vorgelagert ein.

Kriegsphase 2: Der Donbass und die Artillerie

Die zweite Kriegsphase konzentrierte sich ab Mai auf den Donbass, bestehend aus den Oblasten Donezk und Luhansk. Russland ließ einen Artilleriekrieg über das weite Flachland herabregnen und setzte damit seinen großen kompetitiven Vorteil ein: Ein deutliches Übergewicht an Munition und schwerem Gerät. Die Ukraine konnte dem wenig entgegensetzen. Ihre Verteidigungspositionen wurden durch Artilleriebeschuss zerstört, so dass sich die Verteidiger zurückziehen mussten; erst dann rückten die Angreifer am Boden vor. Verbrannte Erde, nur dass der Angreifer das Verbrennen übernahm. Einige Beobachter fühlten sich an den Ersten Weltkrieg erinnert. Lang vergessen geglaubte Artilleriegefechte waren wieder en vogue; die modernen Bayraktar-Drohnen verschwanden weitestgehend im Schrank.

Zusammen mit einigen Verbesserungen in der russischen Kommandostruktur und einfacheren Versorgungslinien gelangen Russland entlang der Oblasten Donezk und Luhansk langsame, doch stetige Fortschritte. Die Grenze verschob sich von Tag zu Tag ein Bisschen. Die Schwesterstädte Sjewjerodonezk und Lyschschansk gerieten zu den Standorten der entscheidenden Schlachten, welche Russland bis Anfang Juli siegreich abschließen konnte. Auf ersten Blick war das ein Erfolg, immerhin konnte Moskau die Grenze seiner pseudounabhängigen Proxyrepubliken Luhansk und Donezk – welche gehörig auf ihre Annexion warten – endlich bis an die Grenze der eigentlichen Oblast Luhansk verschieben. Doch es war gleichzeitig ein Eingeständnis von Schwäche: Die wahren Zentren des Donbass lauten Slowiansk und Kramatorsk, weiter im Westen. Ohne jeden Zweifel hatte Russland sie im Blick. Doch nach der Einnahme der zwei Schwesterstädte im Osten verlangsamte sich die russische Donbass-Offensive aufs Schneckentempo; machte nur noch entlang einer Achse zur Stadt Bakhmut und weiter südlich bei Donezk-Stadt überhaupt nennenswerte Fortschritte. Slowiansk und Kramatorsk bleiben in weiter Ferne und Russland scheint vorerst die Puste ausgegangen zu sein. Und so endete die zweite Kriegsphase. 

Kriegsphase 3: Cherson und Sankt HIMARS

Die dritte Kriegsphase begann vermutlich im August, also nahe der Veröffentlichung dieses Artikels. Die Ukraine versuchte, wieder an Momentum zu gewinnen. Sie nutzte vom Westen gelieferte Artilleriesysteme, die inzwischen berüchtigten HIMARS, um Russland insbesondere im Süden unter Druck zu setzen. Die HIMARS, High Mobiility Artillery Rocket Systems, erlaubten den hochpräzisen Beschuss von Zielen weit hinter der Frontlinie, und ihre Geschwindigkeit macht sie wiederum flexibel und schwierig zu treffen. Die HIMARS sind im Westen zum geflügelten Begriff geworden – womit sie quasi der offensive Nachfolger von Bayraktar-Drohnen, Stinger-Antiluftraketen und Javelin-Antipanzergeschützen sind -, doch haben auch viel Wirkung im Diskurs in Russland hinterlassen. Entsprechend kritisiert das Land die Lieferung der HIMARS scharf und berichtet regelmäßig von zerstörten Systemen – die Ukraine dementiert und verweist auf ein Programm aus Fake-HIMARS aus Holz, auf welche Russland seine Konterraketen verschwende. 

Ein derartiger Fokus auf ein Waffensystem lädt sarkastische Verweise auf eine “Wunderwaffe” ein, mit welcher die Erlösung unumgänglich sei. Tatsächlich lohnt sich wie immer Besonnenheit. Doch die HIMARS haben ihren ganz nüchternen, Wunder-freien strategischen Wert längst bewiesen: Sie erlaubten der Ukraine im August den Beschuss von russischen Versorgungslinien und Militärkapzitäten weit hinter der Frontlinie. Die Zerstörung von russischen Kampffliegern auf der Krim war genauso moralisch wie auch strategisch nützlich; die Beschädigung der Brücken nach Cherson stört die russischen Nachschuboperationen bedeutsam. Womöglich gelingt es Russland, sich an die HIMARS-Situation anzupassen – Munitionslager besser zu verstecken, Kommandozentren mobiler zu machen -, doch die Geschütze haben bereits jetzt viel bewirkt.

Nach rund einem Monat aus kontinuierlichem Beschuss begann die Ukraine jüngst, Ende August, eine Gegenoffensive im Süden. Über die Semantik mag man sich streiten – es handelt sich nicht um einen “all-or-nothing”-Großangriff mit Hunderttausenden Soldaten, im Stile der Offensiven des Zweiten Weltkriegs -, doch in jedem Fall beobachten wir eine Intensivierung der ukrainischen Bodenoperationen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels ist unklar, wie diese Gegenoffensive verlaufen und wohin sich die dritte Kriegsphase wohl bewegen wird.

Der trügerische Waffenstillstand

Wie geht es im Krieg weiter? Jede Prognose ist kaum das Smartphone wert, auf dem sie gelesen wird. Zu viele Variablen, zu viel Kriegsnebel, zu viel Unsicherheit, wie ja allein die fortwährende Existenz der Ukraine aufzeigt. Ein Zerfall der Ukraine ist unwahrscheinlich, so viel sei gesagt, und ein Zerfall Russlands ebenso. Ein denkbares Szenario ist, dass der Krieg noch Jahre weitergeht. Sich die Frontlinien irgendwann stabilisieren – so wie sie es im Norden bereits haben und in Charkiw andeuten – und es zu einem passiven Krieg kommt, mit vereinzelten Durchbruchsversuchen an wechselnden Fronten. Russland treibt seine Annexion der besetzten Gebiete voran; die Ukraine kann wenig dagegen unternehmen.

Die Vorstellung, dass Europa noch auf Jahre einen großen, zwischenstaatlichen Krieg erleben könnte, verunsichert nachvollziehbarerweise viele Menschen im Westen. Forderungen nach einer schnellstmöglichen diplomatischen Lösung, nach einem Waffenstillstand, wachsen. Sie kommen unter anderem vom linken Flügel der SPD, den Linken, der AfD und “Intellektuellen” verschiedenster Couleur. Die Forderung ist nachvollziehbar, doch nicht durchdacht.

Ein Waffenstillstand im aktuellen Status Quo würde weitreichende Gebietsgewinne für Russland de facto festschreiben. Es wäre ein politischer Sieg und eine Bestätigung für den russischen Revanchismus und die Politik der Gewalt, mit umgehenden Implikationen für die Nachbarschaft, vom Baltikum bis zum nicht von der NATO geschützten Moldau. Insbesondere mit seinen Besitzungen in Cherson hätte Russland außerdem eine exzellente Ausgangsbasis für zukünftige Überfälle auf die Ukraine, schließlich liegen sie bereits jenseits des gut verteidigbaren Flusses Dnjepr. Ein schwacher Waffenstillstand im Jahr 2022 provoziert lediglich Folgeaktionen. Gibt es nach dem Mikolajiw-Sturm 2024 ebenso Rufe nach schneller Waffenpause, damit der Westen sich Kopfschmerzen und astronomische Energiepreise ersparen kann? Vielleicht würde sich Russland von gut gemeintem Waffenstillstand zu gut gemeintem Waffenstillstand hangeln, bis kein Stück Ukraine mehr übrig ist. Anderslautende russische Beteuerungen sind wertlos, wie spätestens das vergangene Jahr gezeigt hat. Wird dem Land eine Gelegenheit gelassen, die Ukraine weiter zu destabilisieren oder zu zerstören, wird es sie nutzen. Und ein starker Waffenstillstand – mit kräftigen, belastbaren Sicherheitsgarantien für die Ukraine – muss erst einmal hergestellt werden. Wer garantiert die Sicherheit des Landes so glaubwürdig, dass es Russland vor einem weiteren Angriff abschrecken würde? Die Türkei? UN-Blauhelme? Nicht die NATO, doch ihre Mitglieder?

Ein imperialer Gedanke schleicht sich in solche Diskussionen mit ein. Ihm fallen mitunter selbst lupenreine Liberaldemokraten zum Opfer: Eine Art Diktatfrieden. Denn fragt man die Führung in Kiew oder die Ukrainer selbst (siehe “Gut zu wissen”-Box unten), halten diese nichts von einem Waffenstillstand. Kiew müsse also dazu gebracht werden, mit Moskau zu verhandeln, so mitunter der Tenor. Mancherorts wird das ausdrücklich ausgesprochen, anderswo, zum Beispiel im einem der offenen Briefe in Deutschland, impliziert. Doch wer, wenn nicht die Ukraine, darf entscheiden, wie lange und wie intensiv sie kämpft? Der Staat ist souverän und sogar demokratisch; er ist für sein eigenes Handeln verantwortlich und ist praktisch und ethisch imstande, seine Entscheidungen eigenständig zu treffen – er besitzt agency.

Aufrufe, die Führung in Kiew zu einem Waffenstillstand zu bewegen, entgegen ihres Wunsches und jenem der Bevölkerung, unterzeichnen ironischerweise jene Großmachtpolitik, welche Russland und auch China als Grundlage der Geopolitik sehen. Kleine Staaten existieren in dieser Vision der Welt nur, weil Supermächte sie existieren lassen, aus irgendeinem egoistisch-strategischen Motiv. Sie haben keine echte Souveränität, keine Bedeutung, keine agency. Sie sind Einfluss- und Pufferzonen oder Annexionsziele. Ein solches Weltbild ist imperial und nicht mit den Prämissen der liberalen Demokratie oder gar bloß der regelbasierten Weltordnung vereinbar, welche beide die raison d’être von Staaten eben in ihrer Staatlichkeit sehen, nicht in ihrer Fähigkeit, andere zu unterjochen und sich im Gegenzug nicht unterjochen zu lassen. Wer die Ukraine einer russischen Einflusszone zurechnet und daraus Handlungsanweisungen ableitet, entgegen des eindeutigen anderslautenden Wunsches des Landes, operiert ausgerechnet in einem russischen Verständnis der Welt.

Gut zu wissen: In einer Umfrage des Kiewer Instituts für Soziologie und der Washington Post äußerten nur 5% der Ukrainer den Wunsch nach einem schnellstmöglichen Waffenstillstand, ungeachtet territorialer Verluste; 15 Prozent nur unter “richtigen Bedingungen”. 70% lehnen eine Waffenruhe komplett ab und fordern die Rückeroberung der besetzten Gebiete (ob damit auch die Krim und der gesamte Donbass gemeint sind, ist unklar). In anderen Umfragen fiel die Meinung oft noch stärker zugunsten einer Kriegsfortführung aus.

Eine Prise Realismus

Ein ähnlicher Fehler geschieht gerne bei der Betrachtung der NATO und ihrer Osterweiterung: Diese war keine aggressive Expansion einer Supermacht in die ehrliche Einflusszone einer anderen, es war der (nachvollziehbare) Entschluss mehrerer souveräner Staaten, sich zum Schutz vor einem gefährlichen Nachbarn einem Militärbündnis ihrer Wahl anzuschließen. Diffuse Argumente rund um mutmaßliche amerikanische Versprechen an Russland sind inhaltlich lückenhaft und spielen im Grunde auch keine Rolle, wenn es darum geht, dass der Westen seine Geopolitik nicht nach russischem Vorbild neoimperial verstehen sollte. Unser NATO-Explainer aus Februar 2022 betrachtet das Thema NATO und Russland genauer und erklärt, warum einige russische Argumente dennoch Substanz haben.

Es ist kaum eine Überraschung, dass sich die Idee von internationalen Beziehungen als opportunistischer Tanz der Supermächte dermaßen verfängt. Sie ist simpel und einleuchtend, kommt mit einfachen Anreizfunktionen (Staaten maximieren ihre Macht) und einem wenig komplexen Spielfeld (Innenpolitik existiert nicht) daher. Vorlesungen des amerikanischen International Relations-Professors John Mearsheimer erreichten im Zuge des Krieges plötzlich Millionen von Views auf YouTube (Video, 2h), obwohl IR-Professoren gewöhnlich wenig Viralitätsfaktor besitzen. Darin erklärt Mearsheimer, warum der Westen an dem Krieg fundamental Schuld sei, denn er habe seine Supermachtsphäre fieserweise auf die russische Supermachtsphäre ausgeweitet. Doch Mearsheimer ist ein Vertreter des Realismus (genauer, des noch schärferen Offensiven Realismus); der Idee, dass die globale Politik in ein anarchisches, opportunistisches, machtmaximierendes Haifischbecken zu strukturieren sei. Kooperation existiert in dieser Welt nicht oder nur als Ausdruck eines verzögerten Fressens und Gefressenwerdens. Die meisten Menschen im Westen müssten an diesen Prämissen zweifeln, es sei denn, sie denken, dass die Niederlande heute nur existiert, weil Deutschland noch nicht imstande ist, sie endlich zu erobern.

Der Konflikt wird bleiben und der Westen darf sich nicht abwenden

Der kurze Exkus in die Disziplin der Internationalen Beziehungen soll aufzeigen, warum der Ukraine kein Waffenstillstand fremddiktiert werden darf; zumindest, wenn die Fremddiktierer nicht bereit sind, sich ausgerechnet einem russischen Dogma zu verschreiben. Doch er beantwortet noch nicht, warum Deutschland oder andere Länder die Ukraine unterstützen sollten, geschweige denn schwere Waffen liefern. Die Antwort darauf ist, dass es keine realistische Alternative zu Waffenlieferungen gibt – zumindest für den einzigen Ausgang, welcher für den Westen von Interesse sein sollte. Sie sind der einzige Weg, sicherzustellen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und Russland ihn verliert. Dieses Zielszenario bedeutet ausdrücklich nicht, dass die Ukraine unter Posaunen in Sankt Petersburg einmarschiert. Es bedeutet, dass die Ukraine die territoriale Verletzung der vergangenen Jahre revidieren kann und Russland sowie potenzielle Nachahmer in aller Welt aufgezeigt bekommen, dass derartige Abenteuer mit prohibitiven Kosten und untragbaren politischen Risiken einhergehen. Russland muss innerhalb seines Krieges gegen die Ukraine dermaßen geschwächt werden, dass es nicht mehr imstande ist, in wenigen Jahren einen zweiten Anlauf zu versuchen. Der Westen kann genau das durch Waffenlieferungen, finanzielle und humanitäre Unterstützung der Ukraine bewirken. Alles andere wäre ein politischer Erfolg für den Kreml, welcher – womöglich – auch die wirtschaftlichen Kosten der Invasion aufwiegt. Es wäre ein Signal an alle Welt, dass vollendete Tatsachen und rohe Gewalt genügen, um den Willen des Westens zu brechen; dass sich Grenzen mit Militärmacht verschieben lassen; dass die Welt tatsächlich in Einflusszonen funktionieren kann und kleine Staaten im Schatten ihrer Großmächte nur bedingt souverän sind.

Der russische Angriffskrieg muss aus diesen Gründen konsequent zurückgewiesen werden. Er steht für historischen Revanchismus anstelle von internationaler Kooperation; für eine militarisierte, eskalationsbereite Außenpolitik anstelle der Anerkennung territorialer Unverletzlichkeit; für imperiale Großmachtpolitik anstelle regelbasierter Ordnung und staatlicher Souveränität. Russlands Vision für das 21. Jahrhundert ist ein Rückschritt in das 19. Jahrhundert des Zarentums. Sie ist nicht zeitgemäß für eine Welt, welche in Teilen an Menschenrechten festhält und gesamtheitlich nach Prosperität, Fortschritt und Stabilität strebt. Der Westen muss sich dieser Vision klar entgegenstellen. Ohnehin hat er keine Wahl: Russland fordert ihn in der Ukraine, welche sich zum westlichen Modell orientiert hatte, offen heraus; sieht sich ausdrücklich in Opposition zu ihm. Indifferenz ist damit keine Option mehr – es gilt, die Herausforderung anzunehmen. Doch das bedeutet, dass den Westen und Russland auf Jahre ein antagonistisches, volatiles Verhältnis erwartet, selbst wenn der Ukrainekrieg in naher Zukunft irgendwie enden sollte. Das ist eine tragische Vorstellung. Doch die Alternative ist intolerabel.

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