Israel und die Hamas im Krieg

Wir erklären den beispiellosen Schlag der Terrormiliz gegen Israel.

Kriegserklärung | Hintergründe | Folgen

(15 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Der Hamas ist ein beispielloser Schlag gegen Israel gelungen: Hunderte Kämpfer durchbrachen die Grenze, ermordeten und entführten Zivilisten sowie Soldaten.
  • Der israelische Sicherheitsapparat war offenbar völlig überrascht – ein spektakuläres Versagen, welches schwer gegen die Netanjahu-Regierung wiegen wird.
  • Selbst bis Abschluss dieses Explainers am Sonntag, 7 Uhr MEZ, hatte Israel nicht die volle Kontrolle über sein Territorium wiedererlangt. Auch wenn das nur eine Frage der Zeit ist: Es handelt sich um die größte Katastrophe des Landes seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973.
  • Die akuten Gründe für den Angriff: Vermutlich möchte sich die Hamas gegenüber anderen Palästinensergruppen profilieren und einen arabisch-israelischen Annäherungsprozess stoppen – doch die Verletzung Israels ist für die Miliz auch ein Selbstzweck.
  • Eine Invasion des Gazastreifens ist wahrscheinlich. Israel bereitet diese bereits vor. Verkompliziert wird sie durch mindestens 53 Geiseln in der Hand der Hamas.
  • Eine große Frage ist, ob die vom Iran kontrollierte Hisbollah-Miliz im Libanon in den Konflikt eintreten wird.

Die Kriegserklärung der Hamas_

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Israel ruft den Kriegszustand aus nach einem völlig unerwarteten Großangriff der Hamas gestern, am 7. Oktober. Die Terrormiliz begleitete ein typisches, wenn auch bemerkenswert großes Raketenbombardement mit einem Sturm auf die Grenze und einer groß angelegten Infiltrationsaktion. Mindestens Hunderte palästinensische Kämpfer sind in den Süden Israelis eingebrochen, rückten bis zu 24 Kilometer ins Landesinnere vor und besetzten offenbar 22 Orte. Sie ermordeten und entführten dort Soldaten und Zivilisten; die Zahl der Toten auf israelischer Seite lag bis Sonntagfrüh bei über 300, dazu 1.600 Verletzten – doch wird sicherlich noch steigen, denn Israel hat noch nicht die volle Kontrolle über sein Territorium wiedererlangt. Es ist der größte kriegerische Akt gegen Israel seit dem Jom-Kippur-Krieg vor exakt 50 Jahren und einem Tag – sicherlich kein Zufall -, definitiv das größte geheimdienstliche Versagen seitdem und vielleicht auch die größte Katastrophe für das Land in den letzten fünf Jahrzehnten.

Die Lage ist uneindeutig und dynamisch; die whathappened-Redaktion wird sie vor allem in den kommenden Briefings beleuchten. Doch einige Dinge sind klar: Die Hamas begann ein Raketenbombardement mit, laut einigen Quellen, über 3.500 Raketen. Daraufhin brachen Hunderte palästinensische Kämpfer der Gruppen Hamas und Islamischer Dschihad (PIJ) aus dem Gazastreifen durch die israelischen Grenzvorrichtungen, welche jahrelang unüberwindbar schienen. Einige Kämpfer gelangten mit Paraglidern (!) nach Israel, landeten allem Anschein nach bei einem Musikfest, wo sie die Besucher jagten. Die Überquerung per Boot wurde zumindest versucht. Sehr wahrscheinlich wurden auch Tunnel eingesetzt, immerhin nutzte die Hamas solche in der Vergangenheit. Doch die Hauptachse war ein unmöglich scheinender Durchbruch der Grenzanlagen an mehreren Stellen.

Wie kann das sein, wenn es doch unmöglich schien?Israel scheint von der Großattacke völlig überrascht gewesen zu sein. Aufgrund des religiösen Feiertags Simchat Torah, welcher auch unter säkularen Israelis beliebt ist, waren viele Soldaten nicht in Stellung, sondern zu Hause bei ihren Familien. Die Grenzanlagen waren weniger stark bemannt; die Baracken im Süden des Landes ausgedünnt. Der Raketenschutzschild “Iron Dome”, welcher die Kurzstreckenraketen aus dem Gazastreifen mit hoher Präzision abwehrt, funktionierte zwar, doch war von der reinen Zahl der Raketen überfordert. Dutzende erreichten ihre Ziele.

Die Palästinenser überrannten das grenznahe Gebiet und operierten weitestgehend ungestört in einigen Grenzstädten, darunter Sderot mit fast 30.000 Einwohnern. Sie besetzten mindestens eine Militärbasis, nachdem sie die Garnison überwältigt hatten. Es lässt sich kaum übertreiben, wie beispiellos die zahlreichen Videos von palästinensischen Terroristen in israelischen Städten sind. Noch nie seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 hat Israel die Kontrolle über Teile seines Territoriums und die Souveränität über die Sicherheit seiner Bevölkerung verloren. Stundenlang harrten die Israelis in Grenznähe in ihren Wohnungen oder Schutzräumen aus, versteckten sich vor den Islamisten, und warteten auf die Einkunft der Armee.

Die Lage um den Gazastreifen herum, um etwa 22 Uhr MEZ am 7. Oktober. Quelle: War Mapper, x.com

Videos und Augenzeugenberichte geben uns Einblick, in die Geschehnisse vor Ort. Gesichert ist die gezielte Tötung israelischer Soldaten und, mehrheitlich, Zivilisten; Videos deuten auf willkürliche Exekutionen aus nächster Nähe hin. Die sozialen Medien füllten sich stundenlang regelrecht mit den Gewaltaufnahmen, auf welche whathappened hier nicht verlinkt. Ebenso gesichert ist, dass die Palästinenser israelische Zivilisten und Soldaten zurück in den Gazastreifen entführten – die Gruppen sprechen von 50 Geiseln, doch Videos legen nahe, dass es mehr sein könnten. In Videomaterial der Hamas präsentiert diese erobertes Material, von Panzern bis hin zu Traktoren. Genauso wissen wir um Paraden in Gaza, wo die Körper getöteter Israelis (und womöglich einer Deutschen) ausgestellt und bejubelt wurden. Feiern gab es zudem im Westjordanland, in Teheran, in weiteren Teilen der muslimischen Welt und in Berlin.

Gut zu wissen: Wir beziehen uns in diesem Explainer gelegentlich auf öffentlich verfügbares Videomaterial. Solches Material sollte mit Vorsicht verwendet werden; Videos können gefälscht oder falsch attribuiert sein, gerade in einer unübersichtlichen und hochdynamischen Situation. Wir treffen unsere Aussagen nur dort, wo zahlreiche Quellen unabhängig voneinander glaubwürdig erscheinendes Material geboten haben. Die willkürliche Tötung von Zivilisten ist beispielsweise hinreichend bewiesen, auch wenn einzelne Videos falsch sein sollten. Einen gesonderten Disclaimer möchten wir bei unserer Aussage zur Tötung einer deutschen Staatsbürgerin machen, welche bislang nur vom umstrittenen Twitter-Kanal “Visegrad24” berichtet worden zu sein scheint. Wir verzichten auf einen Link.

Die Hintergründe_

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Tempelberg, mit der al-Aqsa-Moschee südlich vom Felsendom mit goldener Kuppel. Quelle: Godot13, wikimedia

Déjà-vu

Wir möchten uns nicht zu oft darin wiederholen, wie beispiellos die Vorgänge sind, doch so ganz daran vorbei kommen wir doch nicht. Ein bisschen Geschichte: Als die Israelis 1973 den höchsten Feiertag Jom Kippur begingen, taten sie das mit einem Gefühl von Unbesiegbarkeit. Sie hatten 1948 im Unabhängigkeitskrieg ihre Staatsgründung gegen sämtliche arabische Nachbarn erkämpft, 1956 mit Großbritannien und Frankreich eine erfolgreiche Invasion gegen Ägypten durchgeführt und den Sinai erobert, und 1967 mittels eines Erstschlags gegen Ägypten, Syrien und Jordanien eine zunehmend fragile Sicherheitslage innerhalb von nur sechs Tagen zu ihren Gunsten gedreht. Doch dann begannen Ägypten und Syrien zu Jom Kippur 1973 eine erneute Invasion, völlig unerwartet, unterstützt von acht weiteren arabischen Nationen.

Obwohl auch dieser vierte Israelisch-Arabische Krieg letztlich mit einem israelischen Sieg endete, zerschlug er das Selbstbild der Israelis. Sie waren von der Attacke völlig überrascht worden und mussten mühsam die frühen Territorialverluste zurückkämpfen, bevor sie den Kampf zu den Syrern und Ägyptern tragen konnten. Mindestens 2.500 Israelis starben innerhalb von drei Wochen bei den Kämpfen. Israel verstand, dass es nicht ewig auf seine militärische Dominanz und geheimdienstlichen Fähigkeiten setzen konnte. Ein bis dahin einmaliger Friedensprozess nahm seinen Lauf, an dessen Ende Israel den Sinai an Ägypten zurückgab und Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien schloss.

Der jetzige Angriff teilt mit dem Jom-Kippur-Krieg nicht nur (fast) das Datum, sondern auch, wie desaströs er für den israelischen Sicherheitsapparat ist. Geheimdienste und Militär waren offenbar völlig überrascht; konnten den Gegner nicht davon aufhalten, wortwörtlich mit Gleitschirmen ins Land zu fliegen und die Grenzanlagen zu bulldozern. Der Kontrollverlust, das eigene Territorium nicht mehr völlig in der Hand zu haben, ist für zwei Generationen an Israelis völlig ungekannt. In einer Hinsicht ist 2023 sogar schlimmer als 1973: Als Terrormiliz mordete sich die Hamas durch ihre “besetzten” Gebiete; jagte Zivilisten, sei es auf den Straßen, in ihren Wohnungen oder in aufgebrochenen Schutzräumen. Die Leichen präsentierte sie jubilierend in eigens hochgeladenen Videos oder gleich auf den genannten Paraden in Gaza. So agierten die Invasionsheere 1973 nicht. Es verdeutlicht einmal erneut, dass die Hamas zweifellos eine Terrorgruppe ist und was geschehen würde, sollte sich Israel nicht mehr verteidigen. Die gestrigen Verbrechen waren keine Ausnahme, keine Anomalie; sie sind zentral im Projekt der Hamas.

Lagerkampf: Hamas und Fatah

Im Hintergrund des Kriegs steht selbstverständlich der israelisch-arabische Konflikt, welcher sich im engsten Sinne bis mindestens ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, doch wohl bis ins Jahr 1.200 v. Chr. erklärt werden müsste – das würde jeden Platz sprengen. Der akute Auslöser war laut Hamas ein “Angriff” auf die wichtige al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, wie es nun auch von westlichen Medien befragte Palästinenser und Hamas-freundliche Beobachter online brav wiederholen. Tatsächlich hatten in den vergangenen Wochen vermehrt ultraorthodoxe Juden den Komplex der Moschee, den Tempelberg, betreten und dort gebetet, trotz Verboten durch den israelischen Staat. Dennoch ist der Grund vorgeschoben: Die Vorgänge auf dem Tempelberg sind zwar provokant, doch im Kontext des stets angespannten Jerusalems kaum eine Eskalation. Zudem war die Operation der Hamas dermaßen effektiv und breitgefächert, dass sie über Monate geplant worden sein muss.

Stattdessen dürfte es für die Hamas darum gehen, ihr Profil unter der Palästinensern und in der arabischen Welt zu stärken. Die Gruppe, welche sich bis heute der Zerstörung Israels und der Schaffung eines islamischen Staats als Leitmotiv verschreibt, ist nur eine von mehreren palästinensischen Organisationen. Ihre Konkurrenz sind andere militante Gruppen wie der Islamische Staat (IS) und der Islamische Dschihad (PIJ), welcher gestern mit der Hamas gemeinsam agierte, sowie die Fatah. Die Fatah ist seit 1967 die wichtigste politische Organisation der Palästinenser und kontrolliert jene Teile des Westjordanlands, welche nicht unter israelischer Verwaltung stehen. 

Während die Fatah für einen gemäßigteren, kooperativeren Umgang mit Israel steht, ist die Hamas eine reine Miliz, welche die Zerstörung Israels verlangt. Sie besitzt zwar einen politischen Flügel, doch dieser ist im Endeffekt nur Schmuckwerk. Der gewaltsame Ansatz der Hamas verfängt sich bei den Palästinensern, welche seit Jahren mit Ernüchterung auf die Fatah und den schleppenden Friedensprozess mit Israel blicken. 2006 siegte die Hamas in den Wahlen für das gesamte Palästinensergebiet deutlich über die Fatah, doch eine gemeinsame Regierung ließ sich nicht bilden. Ein Streit brach aus und die Hamas riss 2007 gewaltsam die Kontrolle über den Gazastreifen an sich, wo sie seitdem herrscht; die Fatah übernahm alleine die Macht im Westjordanland. Präsident und Fatah-Chef Mahmoud Abbas verschob seitdem jegliche Wahlen und regiert ohne demokratische Legitimierung über das Gebiet. Ein bewaffneter Konflikt zwischen den beiden Palästinensergruppen brach aus, welcher sich über die Jahre abkühlte und befriedete, aber nie löste. Noch heute ist das Verhältnis zerrüttet; beide Seiten sehen sich als die wahre Führungsmacht der Palästinenser. 

Nur einer kann dich beschützen

Die Hamas profitiert dabei von jeglichen Spannungen mit Israel. Solange Israel ein Schreckgespenst ist, besitzt die Hamas, welche sich anderweitig im Regieren des Gazastreifens als vollends nutzlos erweist, eine Daseinsberechtigung. Israels Besatzung des Westjordanlands, der illegale Siedlungsbau und die Blockade des Gazastreifens sind nützliche “Hintergrundgeräusche”, welche eine Existenzbasis für die Hamas bilden. Sie sind allerdings nicht ausreichend, weswegen die Gruppe jede Gelegenheit zur Eskalation nutzt oder eben selbst kreiert. Im Jahr 2021 nahm sie beispielsweise eine – noch gar nicht erfolgte – Gerichtsentscheidung zur Räumung sechs palästinensischer Familien im Westjordanland sowie die Erstürmung der al-Aqsa-Moschee durch israelische Polizeikräfte zum Anlass, einen elftägigen Krieg mit Israel zu beginnen. Ähnliche Vorfälle finden sich in unterschiedlicher Intensität in fast jedem Jahr der jüngeren Vergangenheit.

Gut zu wissen: Israel hatte den Gazastreifen 1967 von Ägypten erobert und hielt ihn bis 2005 besetzt. Dann ordnete es in einer innenpolitisch hochkontroversen Entscheidung unilateral den Abzug an und zwang auch Zehntausende israelische Siedler zum Verlassen der Region. Seitdem ist der Gazastreifen unter vollständiger Kontrolle der Palästinenser, seit 2007 unter der Hamas. Dennoch sprechen einige Beobachter weiterhin von einer “Besatzung” des Gazastreifens durch Israel, da das Land “effektive Kontrolle” ausübe; andere weisen das zurück.

Dazu kommen für die Hamas mindestens zwei weitere FaktorenErstens hatten die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern in den vergangenen Jahren tatsächlich zugenommen. Die Sicherheitslage im Westjordanland verschärfte sich; extremistische Juden und militante Palästinenser stießen aufeinander und Israels Sicherheitskräfte führten namhafte Razzien durch. Die neue ultrarechte Regierung in Jerusalem tat ihr Übriges für das Anfachen dieser Konfliktlinien. Selbst zwischen Juden und Arabern in Israel nahmen die Spannungen zu; 2021 kam es gar zu Zusammenstößen in einigen Städten. Das erinnerte an die dunklen Zeiten der zwei Intifadas 1987-93 und 2000-05, also palästinensischen Aufständen, welche Tausende Menschen das Leben kosteten und im Bau der israelischen Grenzmauer zum Westjordanland gipfelten. Für die Hamas schien der Moment also reif, um mit einem kräftigen Anstoß eine explosive Dynamik im Westjordanland und in Israel selbst auszulösen. Eine “dritte Intifada” erscheint zwar sehr unwahrscheinlich, doch dass militante Palästinenser im Westjordanland den Aufruf der Hamas zum bewaffneten Kampf annehmen, ist denkbar.

Killing Abraham

Der zweite Faktor ist die israelische Annäherung an die arabische Welt. Im Zuge der “Abraham Accords” hat Israel seit 2020 bereits diplomatische Beziehungen zu den VAE und zu Bahrain aufgenommen, dazu kamen (regelrecht von den USA erkauft) Marokko und der Sudan. Mit Jordanien und Ägypten pflegt Israel seit 1994 bzw. 1979 ohnehin Beziehungen. Mit Oman hat Israel zwar keine formellen Beziehungen, doch versteht sich traditionell gut. Der große Preis war allerdings Saudi-Arabien und dieser schien näher zu rücken: Riad, Washington und Jerusalem verhandeln seit Monaten trilateral, um eine offizielle diplomatische Anerkenntnis zu erreichen. Kronprinz Mohamed bin Salman erklärte im September offen, dass man sich jeden Tag näher käme.

Für die Palästinenser war das kein gutes Zeichen. Ein verbessertes Verhältnis zwischen Israel und Saudi-Arabien würde für sie weniger Unterstützung bedeuten, politisch und finanziell. Hinter den Kulissen macht Riad seit Jahren deutlich, unzufrieden mit den Palästinensern zu sein; Mohamed bin Salman erklärte in einem Interview 2018 gar, dass Israel einen Anspruch auf seine eigene Heimstätte habe – ein Tabubruch.

Mit ihrem Angriff kann die Hamas hoffen, den Annäherungsprozess zumindest verlangsamt zu haben. Denn so resigniert Riad auf die Palästinenser auch blicken mag, und so wenig es mit der Hamas sympathisiert, so sehr muss es auf sie eingehen, da es sich andernfalls kaum glaubwürdig als Führungsmacht aller Muslime positionieren kann. Entsprechend gab das saudi-arabische Außenministerium eine relativ uneindeutige Meldung ab, in welcher es die Gewalt verurteilte, aber eben nicht ausdrücklich die Hamas. Sobald die israelische Vergeltung beginnt, womöglich gar eine Bodenoffensive gegen den Gazastreifen, ist eine Annäherung erst einmal ausgeschlossen. Nun wäre diese allerdings ohnehin nicht morgen geschehen, sondern frühstens in einigen Monaten; und an Saudi-Arabiens Gründen für eine Annäherung an Israel wird sich nichts ändern. Der Angriff der Hamas könnte letzten Endes also trivial für die Fortsetzung der “Abraham Accords” bleiben. Schwieriger wäre es wohl, sollte Israel eine Wiederbesatzung des Gazastreifens vornehmen. Dann könnte ein saudi-israelischer Deal auf absehbare Zeit unmöglich werden.

Klar ist auch, dass Iran in die Operation in unterstützender Form involviert war. Das berichtet die Hamas offen und alles andere wäre undenkbar: Teheran finanziert die Islamisten und rüstet sie aus; steuert sie womöglich, was aufgrund der nebulösen Organisationsstruktur der Hamas nicht eindeutig zu sagen ist. Es übt aber in jedem Fall großen Einfluss aus. Ob Iran einen speziellen Grund für den Schlag zum jetzigen Zeitpunkt besitzt, ist nicht völlig ersichtlich – es feiert die Vorgänge aber ausgiebig. Einige Beobachter stellen gar einen Bezug zu Russland her, was nach aktuellem Stand allerdings diffus wirkt, auch wenn Moskau konstruktive Verhältnisse sowohl zu Israel als auch zur Hamas pflegt und sich vor einigen Monaten mit der Führung der Terroristen traf.

Was jetzt geschehen wird_

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Benjamin Netanjahu. Quelle: World Economic Forum / Valeriano Di Domenico, flickr

Die Invasion

Wie genau wird Israels Reaktion aussehen? Bereits im Tagesverlauf bombardierte es Ziele im Gazastreifen und zerstörte Gebäude, in welchen es Hamas-Einrichtungen vermutete, darunter den großen “Palestine Tower“. Dabei starben laut palästinensischen Angaben bis zum frühen Sonntag über 230 Menschen. Mobilisierte israelische Truppen bekämpften parallel die in Israel befindlichen Milizionäre; Spezialkräfte intervenierten in aktive Geiselnahmen. Diese “Säuberungsaktion” dürfte innerhalb weniger Stunden vollendet sein, womöglich bereits, wenn du diesen Explainer liest. Israel wird sein Territorium schnell wieder kontrollieren; es ging auch der Hamas sicherlich niemals um Territorialgewinne. Spannender ist die Frage, wie es danach weitergeht.

Die israelische Regierung hat den Kriegszustand ausgerufen, diskutiert eine vereinte Front mit der Opposition und mobilisiert die Truppen sowie Reservisten (darunter selbst Ex-Premier Naftali Bennett). Sogar im Ausland befindliche Israelis wurden per Anruf zurück ins Land beordert; Charterflüge sollen allein aus Griechenland 5.000 kampffähige Staatsbürger zurückbringen. Videos zeigen, dass viel Militärgerät gen Süden transportiert wird. Jerusalem scheint auf eine Invasion des Gazastreifens zuzusteuern.

Das wäre eine bemerkenswerte Eskalation, denn das letzte Mal, dass israelische Bodentruppen im Gazastreifen waren, war 2014. Seitdem ist es Israels Strategie gewesen, gelegentlich aus sicherer Distanz Schläge durchzuführen, doch kein allzu tiefes Engagement gegen die Hamas zu beginnen. Erstschläge gingen im Grunde immer von den Islamisten aus. Nun ist selbst eine volle oder teilweise Besatzung wie vor 2005 denkbar. In Israel herrscht Wut und Rachedurst; die Empfindung, dass die langjährige Strategie der “kleinen” Interventionen nichts gebracht hat, führt zum Ruf, die Hamas ungeachtet der horrenden Kosten endgültig zu zerstören. Israel und der Gazastreifen stehen vor Veränderungen.

Gut zu wissen: Eine Interpretation, welche jetzt in den sozialen und auch einigen herkömmlichen Medien beliebt ist, ist, dass der Kriegsausbruch Premier Benjamin Netanjahu helfen würde. Das ist nicht nur ein zynischer analytischer Erstreflex (auch Präsident Zelensky hat sein politisches Profil dank der russischen Invasion deutlich ausgebaut – raffiniert!), sondern auch noch irrsinnig. Da wäre einmal, dass der Krieg weder der netanjahuschen Justizreform zur schnelleren Verabschiedung verhelfen, noch die Justizermittlungen gegen den Premier stoppen wird. Noch wichtiger: Wie genau es einem “law and order”-Politiker, welcher also seine gesamte Daseinsberechtigung auf der Idee von Stabilität, Sicherheit und Härte aufgebaut hat, gelingen soll, das mit dem größten Militär-, Geheimdienst- und Sicherheitsversagen in einem halben Jahrhundert zu vereinen, erklären die Vertreter einer solchen banalen “cui bono”-Denkweise nicht. Premierministerin Golda Meir musste ein halbes Jahr nach dem Desaster des Jom-Kippur-Kriegs abtreten. Auch Netanjahu, welchem die Opposition monatelang vorwarf, mit seiner Justizreform die Sicherheit des Landes zu kompromittieren, ist angezählt. Selbstverständlich wird er nun hart reagieren – um politisch zu überleben.

Sicher ist, dass der Gazastreifen vor einer katastrophalen Zeit steht. Im besten Fall erlebt er ein massives Bombardement, im schlimmsten Fall eine chaotische Bodenoffensive samt Besatzung und Guerillakrieg. Die wirtschaftliche und humanitäre Lage vor Ort wird um Jahre oder Jahrzehnte zurückgeworfen. Israel, welches den Gazastreifen jüngst noch in einem Zustand “stabiler Instabilität” verortet hatte und etwa durch gelockerte Einreisebedingungen die Lage beruhigen wollte, wird seine Politik extrem verhärten. Schon jetzt hat es mit dem Stopp von Stromlieferungen begonnen, womit der Gazastreifen 80 Prozent seiner Stromversorgung verliert. Die üblichen stundenlangen Stromausfälle werden sich weiter verschärfen. Die Palästinenser haben aus dem gestrigen Gewaltakt nichts gewonnen, auch wenn ihn viele feiern und nur wenige verurteilen. Für die Hamas könnte es genau die angekurbelte Gewaltspirale geben, welche die Gruppe für ihre Daseinsberechtigung benötigt. Doch selbst sie könnte sich übernommen haben: Gelingt es Israel, den Gazastreifen zu besetzen, wird die Hamas zwar weiterhin im Untergrund existieren, doch würde ihre quasi-staatlichen Kapazitäten einbüßen. Einige Beobachter argumentieren gar, dass die Gruppe von ihrem Erfolg selbst überrascht gewesen sein könnte: Zwei, drei Geiseln mögen das Ziel gewesen sein – nicht die Dutzenden Geiseln samt ausgiebiger Massaker. Nun hat sie die Hand Israels forciert.

Gut zu wissen: Verkompliziert wird jede Militäroperation durch die Dutzenden Geiseln, welche die Palästinenser genommen haben. Als der Soldat Gilad Shalit 2006 von palästinensischen Milizionären aus Israel entführt wurde, handelte Israel ihn nach fünf Jahren Verhandlung und im Gegenzug für 1.027 (!) gefangene Palästinenser, davon viele für Terrorakte gegen Israel verhaftet, frei. Heute hält Israel rund 5.000 palästinensische Gefangene. 

Die Hisbollah

Eine zweite brandgefährliche Frage: Was tut der Libanon? Die Hisbollah, welche das Land seit Jahren herunterwirtschaftet, ist ebenfalls eine Proxymiliz Irans, mit diesem noch enger verwoben als die Hamas. Sie ist im Grunde eine reguläre Armee und damit weitaus besser ausgestattet und vermutlich auch ausgebildet als Hamas und PIJ, mit welchen sie sich eng abstimmt. In israelischen Sicherheitskreisen wird sie seit jeher als die wahre Gefahr beschrieben. Die Miliz erklärte nun, dass sie die Gewalt in Israel “mit größtem Interesse” verfolge.

Völlig offen turtelt die Hisbollah mit einem Angriff auf Israel. Jerusalem reagiert mit der Verlagerung von Truppen in den Norden des Landes; erwartet offenbar, dass sich die Hisbollah tatsächlich einschalten könnte, sollte Israel seine Bodenoffensive im Gazastreifen beginnen. Stand 6 Uhr morgens findet angeblich bereits gegenseitiger Beschuss statt, was allerdings noch unterhalb einer vollwertigen Eskalation wäre. Geschieht diese, hätte der Konflikt im Nahen Osten eine neue Dimension erreicht.

Ein verwundetes Land

Wie schon 1973 gerät der Oktober 2023 zu einem Moment, an welchem Israels Selbstbild ins Wanken gerät. Das Land hielt sich für stark und sicher, jetzt zweifelt es an beidem. Ein Journalist der Times of Israel zieht einen interessanten Schluss: Ein selbstbewusstes Israel kann einen aggressiven Nachbarn aushalten; ein verwundetes Israel kann ihn dagegen nicht tolerieren – und wird ihn zu vernichten versuchen. Es ist wohl nachvollziehbar, wenn der 7. Oktober zu Israels “elftem September” gerät und das Land in den nächsten Tagen mit aller Härte gegen seine Angreifer vorgehen wird. Nun ist die Erfahrung der USA in erster Linie eine warnende; geprägt von hohen Kosten, vielen Toten und ungelösten außenpolitischen Abenteuern. Es scheint, als wären die Israelis heute absolut willens, dieses Risiko einzugehen.

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