Japan: Zum Pazifismus und zurück

Japan: Zum Pazifismus und zurück

Ein Land hadert mit seiner Rolle in einer modernen, militarisierten Welt. Eine Analyse der Zeitenwende der japanischen Sicherheitspolitik.

Making Japan | Das Ende des Pazifismus
(13 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Japan hat heute eine pazifistische Verfassung und einen schwierigen Bezug zum eigenen Militär.
  • Das ist das Ergebnis des katastrophalen Endes einer imperialen Phase im Zweiten Weltkrieg, auf welche eine US-amerikanische Besatzung samt effektivem state building folgte.
  • Immer mehr Beobachter in Japan zweifeln allerdings, dass der verfassungsrechtlich verankerte Pazifismus in Anbetracht geopolitischer Herausforderungen – vor allem Chinas wachsende Ambitionen – heute noch zeitgemäß ist.
  • Der ermordete Ex-Premier Shinzō Abe trat eine bedeutende sicherheitspolitische Wende los, welche Japans moderne Rolle umdefiniert hat. Sie dürfte sich unter seinen Nachfolgern fortsetzen.
  • Abe sah sich womöglich in der Tradition der Meji-Restauration: Nach einer langen Phase an Isolation und Schwäche reagierte Japan im 19. Jahrhundert mit radikalen Reformen, um sich in die Moderne zu hieven.

Making Japan_

(7 Minuten Lesezeit)

Eine Nation, welche unter dem Eindruck schrecklicher Verbrechen mit ihrer Vergangenheit gebrochen hat und ihre moderne Rolle sucht; sich dem Pazifismus verschrieben hatte und nun mit dessen Vereinbarkeit mit der Realität hadert – die Erfahrung Japans ähnelt derer Deutschlands in mehr als einer Hinsicht. Heute macht sich das Land, auch hier nicht unähnlich zur weit entfernten Bundesrepublik, zu einer sicherheitspolitischen Zeitenwende auf. Sie wird nicht nur ein neues Japan einläuten, sondern auch die Geopolitik der gesamten Region und damit jene des 21. Jahrhunderts mit definieren.

Um zu verstehen, wohin sich Japan bewegt, ist es notwendig, zu verstehen, wie es dorthin gekommen ist, wo es heute steht. Ein Blick auf Japans Geschichte, gefolgt von einem Ausblick auf seine Zukunft.

Die aufgehende Sonne

Die Zivilisation in Japan begann etwas später als in ihren berühmtesten Ursprungsorten im Nahen Osten, Indusdelta und China. Wo die neolithischen Menschen dort bereits etwa ab 3.000 v. Chr. komplexe Gesellschaften bildeten, bestand die sogenannte Jōmon-Periode in Japan zur selben Zeit noch aus Jägern und Sammlern. Es sollte bis zur späteren Yayoi-Periode dauern, etwa um das Jahr 0, bis sich auch in Japan eine signifikante Zivilisation herausbildete, und bis zur Kofun-Periode zwischen 250 und 500 n. Chr., bis der Großteil der Insel unter einem einzigen Herrscher vereint war. Das Grab des Kaisers (tennō) Nintoku dürfte das zweitgrößte Einzelgrab der Welt sein – hinter jenem des ersten gesamtchinesischen Kaisers Qin Shihuangdi.

Die bronze- und eisenzeitliche japanische Gesellschaft kreiste um die wichtigen Clans (uji), doch war daneben in Arbeiter und Sklaven strukturiert. Mit der Konsolidierung Japans unter der Herrschaft eines Kaisers folgte das Ritsuryō-System, welches die Bevölkerung in Kasten unterteilte. Beides bot eine Grundlage für den späteren mittelalterlichen Feudalismus.

Das feudale Shōgunat

Das feudale Japan begann, nachdem der Minamoto-Clan sich nach einer Reihe von Bürgerkriegen bis 1150 durchgesetzt hatte. Clanchef Minamoto no Yorimoto ließ sich vom Kaiser als Nebenregent anerkennen und während der imperiale Hof die Bürokratie schmeißen durfte, war es diese “Zeltregierung” (benannt nach den Zelten, in welchen Yorimotos Soldaten hausten), welche faktisch die Macht ausübte. Yorimoto war ein Shōgun, also ein Militärführer, welcher etwa im Rang eines Herzogs agiert hatte und sich sogenannte Samurai als Krieger hielt. Da der Shōgun nun über Japan herrschte, wurde er im Grunde zum Generalissimus und Japan zur Militärdiktatur, mitsamt eines symbolischen Kaisers im Hintergrund. Es würde bis ins späte 19. Jahrhundert so bleiben.

Gut zu wissen: Der Titel Shōgun geht auf Seii Taishōgun zurück: “Die östlichen Barbaren unterwerfender großer General”. Damit belohnte der Kaiser Minamoto no Yorimoto für seine Erfolge gegen die einheimischen Emishi im Norden und Osten der Insel.

Das neue Japan war feudal, also dezentralisierter als zuvor, was Vor- und Nachteile hatte. Die Shōgune verteilten Provinzen als Besitztümer an loyale Gefolgsleute, welche zu Vasallen wurden. Anfangs festigte das die Kontrolle des Shōguns über sein Land, später brachte es beträchtliche Instabilität: Die Vasallen, daimyōs, forderten im Verlauf der Zeit mehr Autonomie vom Shōgun ein oder waren mit bestimmten Lehnsvergaben unzufrieden. Das eskalierte bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts in einen chaotischen 150 Jahre währenden Bürgerkrieg, in welchem nicht nur die daimyōs und der Shōgunsondern auch Bauernrebellen, Mönchsorden und eine Klasse aus söldnerischen Geheimagenten – Ninjas – mitmischten.

Die isolationistische Edo-Periode

Der Bürgerkrieg endete im Jahr 1600 mit dem militärischen Sieg von Shōgun Tokugawa und es begann die Edo-Periode, welche 268 Jahre lang weitestgehend stabil bleiben sollte. Tokugawa nahm die daimyōs an eine enge Leine und teilte die breite Gesellschaft in vier vererbliche Klassen ein. Absteigend nach sozialem Stand waren das die Samurai-Kriegerklasse, die Bauern, die (Kunst-)Handwerker, und die Händler. Zudem führte Tokugawa sakoku ein: Eine isolationistische Außenpolitik, in welcher sich Japan vom Rest der Welt abkapselte. Der internationale Handel war minimiert, Einreisen und Ausreisen weitestgehend verboten.

Japans Isolationismus war bemerkenswert, immerhin war seine Geschichte von Anfang an signifikant von seinen Nachbarn geprägt. Die frühen Bewohner scheinen aus Korea oder China eingewandert zu sein; die Kultur prägte sich gegenseitig. Japan übernahm früh die chinesischen Schriftzeichen, den Buddhismus (welcher neben dem hauseigenen Shinto florierte) und konfuzianistische Praktiken, welche sowohl das Ritsuryō- als auch Edo-Kastensystem inspirierten. Die Kaiser Japans und Chinas stritten darum, wer sich nun als Land der aufgehenden Sonne bezeichnen dürfe (rein geographisch scheint der Kaiser in Kyoto bessere Argumente gehabt zu haben). Ende des 13. Jahrhunderts musste Japan zwei große Invasionen des Mongolenreichs unter Kublai Khan, welches seinerzeit als Yuan-Dynastie China beherrschte, abwehren. Es waren allerdings Kräfte von weiter weg, welche Japans Geschick in der frühen Moderne bestimmen würden.

Vom Westen lernen und leiden

Der Aufstieg des Westens war an Japan nicht spurlos vorbeigegangen, egal wie sehr es sich ab 1600 zu isolieren versuchte. Westliche technologische und kulturelle Einflüsse gerieten immer noch ins Land, als “Hollandkunde” bezeichnet, da die Niederlande als einzige westliche Nation auch in der Edo-Periode Zugang zu Japan behielten. Die beiden Welten kollidierten allerdings 1853 vollends, als die “Schwarzen Schiffe” des US-Admirals Matthew Perry Japan zur Öffnung zwangen. Zu unterlegen war es technologisch, um sich ernsthaft zu Wehr zu setzen.

Die “ungleichen Verträge”, welche mehrere westliche Mächte daraufhin für günstige Handels- und Einreisebedingungen mit Japan schlossen, kratzten am nationalen Stolz. Das katalysierte gesellschaftliche Spannungen, welche seit langem gärten: Eine Fraktion forderte eine Modernisierung Japans; eine andere, sich auf das traditionelle Japan zu besinnen, also das Shōgunat abzuschaffen und den Kaiser wieder als tatsächliche Herrschaftsinstanz zu beleben. Eine Mischung aus beidem trat ein. Pro-imperiale Samurai, obendrein unzufrieden mit geringerem Sold, setzten 1868 den Shōgun ab und machten den Kaiser wieder nominell zum einzigen Herrscher (auch wenn im Hintergrund in Wahrheit frühere Samurai die Strippen zogen).

Diese Periode, die Meji-Restauration, benannt nach dem 15-jährigen Kaiser Meji, war die bedeutendste Veränderung in Japan vor dem Zweiten Weltkrieg. Das gesamte Land wurde westernisiert: Der Feudalismus, die daymos und das Kastensystem wurden abgeschafft, stattdessen gab es begrenzte demokratische Elemente, eine zivile Regierung und ein Parlament – Japan wurde zur konstitutionellen Monarchie nach preußischem Vorbild. Der gregorianische Kalendar wurde eingeführt, genauso westliche Kleidungs- und Haarstile. Eine rasante Industrialisierung nahm Einzug und westliche Technologie wurde gezielt importiert; allgemeine Schulbildung eingeführt. Hunderte Berater aus Europa und Nordamerika gaben sich im Meji-Japan die Klinke, darunter auch preußische Militärberater. Die militärische Komponente erfuhr besondere Aufmerksamkeit, denn das neue modernisierte, industrialisierte, entfeudalisierte Japan war vor allem eines: imperialistisch.

Das imperiale Japan

Japan begann im späten 19. Jahrhundert einen imperialistisch-kolonialistischen Raubzug, welchen es in Asien wohl seit dem Mongolensturm so nicht gegeben hatte. Es war dafür in einer einzigartigen Position, immerhin war es die erste industrialisierte asiatische Nation. Im Jahr 1874 attackierte es Taiwan und einige Jahre später das Inselkönigreich Ryukyu. Im Jahr 1894 brach ein erster Krieg zwischen China und Japan aus, in welchem letzteres mit seinem Sieg die Kontrolle über Taiwan formalisieren konnte. Japan hatte inzwischen genug Prestige auf der Weltbühne erlangt, um die “ungleichen Verträge” mit dem Westen umzuverhandeln. Nicht nur das: 1904/5 führte es einen siegreichen Krieg gegen Russland und wurde damit zur ersten asiatischen Nation der Moderne, welche eine westliche Großmacht besiegen konnte. Fünf Jahre später annektierte es Korea. Japan war das unangefochtene Machtzentrum Asiens.

Gut zu wissen:  Innenpolitisch war die Lage in Japan in der ersten Häflte des 20. Jahrhunderts komplex und erinnerte in mancher Hinsicht an Nazi-Deutschland. Das Land hatte inzwischen ein allgemeines Wahlrecht und eine vollwertige zivile Regierung, welche mit dem Militär über den Kurs stritt und es gar vergeblich von einigen seiner Eroberungszüge zu stoppen versucht hatte. Unter der Herrschaft von Kaiser Hirohito ab 1926 gewann die radikale Rechte dann deutlich an Popularität und riss letztlich die Regierungsgewalt an sich. Moderate und linke Politiker wurden marginalisiert oder ermordet; das Land rutschte tief in den Faschismus. Ab 1936 konzentrierte das Militär immer mehr Macht auf sich und schaffte in den nächsten Jahren die meisten demokratische Elemente formell ab.

Der Zweite Weltkrieg

Der japanische Fokus verschob sich unter Kaiser Hirohito nach China. Im Jahr 1931 verleibte es sich den Norden Chinas, die Mandschurei, ein und 1937 begann es den Zweiten Sino-Japanischen Krieg, welchen manche Historiker als Beginn des Zweiten Weltkriegs werten. Tokio begann eine vollwertige Invasion Chinas und kontrollierte innerhalb der nächsten acht Jahre die gesamte Küste sowie die Hauptstadt Nanjing, in welcher es in einem großen Massaker schätzungsweise 200.000 Menschen ermordete. Die volle Eroberung Chinas gelang allerdings nie. Stattdessen verfolgte Tokio (inzwischen Teil der Achsenmächte mit Nazi-Deutschland und Italien) parallel die Vision einer “Großostasiatischen Wohlstandssphäre” und begann Eroberungszüge im gesamten Indopazifik, angefangen mit den französischen Kolonien in Südostasien.

Gut zu wissen: Die japanische Invasion Chinas hatte auch Folgen für den chinesischen Bürgerkrieg. In unserem Taiwan-Explainer aus Januar 2021 erfährst du mehr. 

Auf heftige Sanktionen der Alliierten reagierte Japan mit einer Kriegserklärung, berühmterweise durch den Überraschungsangriff auf die US-amerikanische Militärbasis Pearl Harbor auf Hawaii. Auf Erfolg folgte Erfolg und das japanische Imperium erstreckte sich zeitweise von der Mandschurei bis nach Indonesien, von den Solomoneninseln bis nach Myanmar. Ab 1942 wendete sich das Kriegsglück allerdings, nicht zuletzt, da sich Japan mit dem Aufrechterhalten seiner Versorgungslinien schwertat. Es folgten ein zermürbender Inselkrieg, die Zerstörung beinahe der Hälfte des japanischen Stadtgebiets durch schwere Luftangriffe und die brutale Schlacht von Okinawa. In letzterer starben etwa 160.000 Soldaten auf beiden Seiten sowie 150.000 Zivilisten, was in Washington die Befürchtung weckte, dass eine Invasion der japanischen Hauptinsel nur noch verlustreicher werden dürfte. Stattdessen beendeten sie den Krieg durch den Abwurf zweier Atombomben und die Tötung von 110.000 Menschen.

Das Ende des Pazifismus_

(6 Minuten Lesezeit)

Shinzo Abe. Quelle: CSIS

Der Pazifismusstaat

Mit dem Atombombenabwurf entstand über Nacht ein neues Japan. Zwischen 1945 und 1952 regierte US-General Douglas MacArthur die Insel und trieb eine Vielzahl fundamentaler Reformen voran. Das Land erhielt eine liberale Verfassung, der Kaiser wurde geschwächt (und entgöttlicht), die Wirtschaft dezentralisiert und die Kolonien unabhängig gemacht. So wurde das Land als vollwertige parlamentarische Demokratie in die Eigenverwaltung entlassen, zudem als enger geopolitischer Partner der USA. Die politische Landschaft ist übrigens schnell erklärt: Die Liberaldemokratische Partei (LDP) dominiert das Land seit 1955 durchgehend, mit Ausnahme von vier Jahren. Sie ist eine big tent-Partei, deckt also möglichst viele Themen ab, um möglichst viele Wähler einzufangen. Dahinter steckt ein bisschen political engineering: Die USA hatten Sorge vor dem Erstarken kommunistischer Parteien, weswegen sie sämtliche zentristisch-konservative Parteien zur Fusion drängten. Ihre Dominanz verdankt die LDP bis heute einer zerstrittenen und ineffizienten Opposition (sowie der Partnerschaft mit dem kleinen buddhistischen Koalitionspartner Komeito); Folge ist eine hohe Apathie unter Wählern und regelmäßig geringe Wahlbeteiligungen.

Gut zu wissen: Wie verhält es sich mit Japans Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg? Die japanischen Behörden äußerten seit den 1950ern über 50 formelle Entschuldigungen für Kriegsverbrechen, doch China und Korea – in welchen die meisten Verbrechen stattfanden – halten diese nicht für ausreichend. Japanische Nationalisten leugnen zudem teilweise die Existenz des Nanjing-Massakers oder der als Sexsklaven missbrauchten “Trostfrauen“. Zudem besuchen selbst Spitzenpolitiker regelmäßig den Yasukuni-Schrein, in welchem auch Kriegsverbrecher geehrt werden.

Japans Verfassung hat eine Eigenheit: Sie war ausdrücklich pazifistisch. Die japanische Armee war von den USA entwaffnet worden und Japan verpflichtete sich unter Artikel 9 der Verfassung, keine Kriege mehr zu führen sowie keine Land-, See- oder Luftstreitkräfte zu unterhalten. Japans pazifistische Verfassung war selbstverständlich eine Reaktion auf den katastrophalen Imperialismus des Landes. Sie wurde seinerzeit war von den USA diktiert, doch geriet zu einem wichtigen Teil des japanischen Selbstverständnisses in den kommenden Dekaden, in welchen es sich über wirtschaftlich-technologischen Aufschwung und nicht etwa über militärische Stärke definierte. Eine Armee existierte formell nicht, stattdessen gab es die “Japanischen Selbstverteidigungskräfte” (JSDF), und selbst deren Existenz schien manchen Japanern wie eine Verletzung des Artikels 9.

Die Abe-Doktrin

Im Verlaufe der Jahrzehnte stellen viele japanische Beobachter die Frage, ob die eigene Sicherheitspolitik noch der Zeit entsprach, vor allem ab dem ersten Golfkrieg 1990, welcher Japan vor Augen führte, dass es militärisch keinen Beitrag zu den Krisen der Welt leisten konnte. Niemand dürfte in dieser Debatte eine größere Rolle gespielt haben als Shinzō Abe, LDP-Chef und Premierminister von 2006 bis 2007 sowie 2012 bis 2020, welcher im Juli 2022 in einem mutmaßlich nicht politisch motivierten Attentat ermordet worden ist. Im Kern von Abes Politik standen zwei große Projekte: Erstens, Abenomics, also sein Wirtschaftsplan, welcher vorsah, die japanische Wirtschaft mit lockerer Fiskalpolitik, lockerer Geldpolitik und vielen Strukturreformen aus ihrer Post-90er-Jahre-Lethargie zu locken (die Resultate sind umstritten). Zweitens, die Abe-Doktrin: Das Vorhaben, Japan wieder zu einem sicherheitspolitischen Player zu machen, welcher selbstbewusst und selbstbestimmt in der Welt agieren könne. Nicht, um Kriege zu führen; doch um effektiv auf die Gefahren in der Welt reagieren und einen Beitrag leisten zu können.

Abes Vision: Statt sich für seine Verteidigung und die sicherheitspolitische Komponente seiner Außenpolitik auf die USA zu verlassen, solle Japan ein schlagkräftigeres Heer aufbauen und sich gesellschaftlich besser mit ihm arrangieren. Es brauchte eine komplette Neuorientierung des japanischen Selbstverständnisses, welches noch immer auf der pazifistischen Nachkriegsverfassung basierte. Damit folgte Abe übrigens seinem Großvater Kishi Nobusuke, seinerseits Premierminister, welcher 1960 einen umstrittenen Sicherheitspakt mit den USA geschlossen hatte. Wenig überraschend traf der Vorstoß auf wenig Begeisterung in Peking, wo Nationalisten schrill vor einem Wiedererwecken des japanischen Imperialismus warnen.

Gut zu wissen: Ideologisch stand Abe dem rechten Flügel der LDP nahe und war eine kontroverse Figur, wenn es um Japans historisches Vermächtnis ging. Er verärgerte seine Nachbarn, indem er den hochkontroversen Yasukuni-Schrein besuchte und wenig Verständnis dafür aufbrachte, dass Japan noch immer eine Kultur des Entschuldigens betreiben solle. Abe verweigerte entsprechend eine Entschuldigung für das Nanjing-Massaker und stritt sich mit Seoul über die Historizität der “Trostfrauen”; seine Regierung verlangte gar von einem amerikanischen Verlag, Passagen darüber in Schulbüchern anzupassen. Innenpolitisch warfen ihm Kritiker mitunter vor, die Pressefreiheit anzugraben und japanische Medienlandschaft in eine effektive Selbstzensur manövriert zu haben, wobei Abe beileibe keine Orbanisierung Japans anzulasten ist. 

Japans Rolle im neuen Indopazifik

Anlässe für einen japanischen Kurswechsel gibt es genug. Nordkorea ist ein Störenfried für den regionalen Frieden, mit zunehmend wachsenden (atomaren) militärischen Kapazitäten. Das Verhältnis zu Russland war seit jeher eisig, weigert sich das Land doch, Inseln des Kurilenarchipels an Japan zu übertragen, wie es in einer Erklärung aus 1956 versprochen hatte; doch der Krieg in der Ukraine hat es weiter belastet. Das wichtigste Thema ist allerdings eindeutig die immer robustere chinesische Außenpolitik in der Region. China vertritt maximalistische Positionen im Südchinesischen Meer, schließt strategisch bedeutsame Bündnisse mit Pazifikstaaten und streitet sich mit Japan ganz direkt um einige Inseln im Ostchinesischen Meer (Japan musste 2021 1.004-mal Flugzeuge aufsteigen lassen, um auf chinesische Aktivitäten zu reagieren). Vor allem baut es eine immer stärkere Drohkulisse gegenüber Taiwan auf, bis hin zur reellen Gefahr einer Invasion. Japan unterhält zu Taiwan, welches sich vom westlichsten Zipfel Japans aus mit bloßem Auge erkennen lässt, ein sehr gutes Verhältnis. Es ist also ein Thema, welches sowohl die Bevölkerung als auch die Politik beschäftigt. Verteidigungsminister Nobuo Kishi (Shinzō Abes jüngerer Bruder) bezeichnet die Taiwaner als Brüder, Armeechef Yoshida Yoshishide nennt Japan die “Frontlinie” in einem möglichen Taiwankrieg. 74 Prozent der Japaner sprechen sich für Interventionen ihres Landes in der Taiwanstraße aus.

In seiner Zeit als Premier konnte Abe so einiges in Gang setzen. Per Gesetzesänderung interpretierte er den Artikel 9 um und erlaubte Japan, nicht nur auf im Falle eines direkten Angriffs die Selbstverteidigungskräfte mobilisieren zu dürfen, sondern auch als Reaktion auf eine “existenzielle Gefahr” – das lässt sich breit auslegen. Ein neuer Nationaler Sicherheitsrat wurde eingerichtet, dazu eine Reihe weiterer Institutionen. Das Verteidigungsbudget ist nicht länger gesetzlich auf 1 Prozent des BIP gedeckelt. Neue Militärbasen sind im Südwesten, also in Richtung China, entstanden. Eine neue amphibische Brigade soll imstande sein, Inseln zurückzuerobern. Noch bedeutender sind die Änderungen auf politischer Ebene. Japan positioniert sich immer offener gegen China, welches es bislang aufgrund seiner wirtschaftlichen Relevanz auszubalancieren versucht hatte, und kooperiert verstärkt mit dem Westen. Es schloss einen militärischen Durchgangspakt mit Australien, führt Militärübungen mit Frankreich durch und ist Teil des “Quad” (Quadrilateral Security Dialogue) mit Indien, den USA und Australien, in welchem die vier Staaten ihre Maßnahmen gegen China koordinieren.

Abe posthum und die Zukunft Japans

Die Zeitenwende wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch unter Abes Nachfolgern fortsetzen. Yoshishide Suga, Kurzzeitpremier nach Abes Rücktritt 2020, sprach im April 2021 gemeinsam mit US-Präsident Biden davon, dass Japan “Frieden und Stabilität in der Taiwanstraße” verteidigen würde – die erste derart direkte Aussage seit 1969. Auch der neue Premier Fumio Kishida lässt deutlich durchblicken, dass er den Kurs beizubehalten gedenkt. Ein Parteigremium der LDP ruft ihn sogar schon dazu auf, das Verteidigungsbudget auf 2 Prozent des BIP zu verdoppeln und Kapazitäten zum Beschuss feindlicher Militärbasen anzuschaffen. Denkbar ist, dass Kishida eine neue Mehrheit im Parlament dafür nutzt, um Artikel 9 abzuändern und die japanische Armee verfassungsrechtlich verankert – als Armee, nicht als Selbstverteidigungskraft. Abes politisches Lebensziel ist zunehmend in Griffweite, ungeachtet dessen, dass der Urheber es nicht mehr erleben wird

Die posthume Zeitwende des Shinzō Abe würde übrigens mit einer gewissen poetischen Parallelität einhergehen. Er stammt aus Yamaguchi, Teil der alten Region Choshu. Aus ihr stammte einer der führenden Samurai, welcher 1868 das Shōgunat beendete und die Meji-Restauration einleitete. Die Konspirateure agierten damals, weil sie befürchteten, dass Japan nur mit radikaler Modernisierung der Bedeutungslosigkeit entgehen könne. Abe handelte aus ähnlichem Motiv.

Leseempfehlungen
Explainer zur Geopolitik im Indopazifik (Oktober 2021) 
Explainer zum Taiwan-Konflikt (Januar 2021)
Update zum T
aiwan-Konflikt (Juni 2022)

Scroll to Top