Ein kurzer Überblick über ein intensives Land, welches seine Präsidenten kaum auf freiem Fuß, geschweige denn im Amt halten kann.
Making Peru | Chaos Galore | Castillo auf Abwegen | Und jetzt?
(insgesamt 13 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Peru erlebt einen Selbstputsch: Präsident Castillo versuchte, per Dekret zu regieren; stattdessen landet er im Gefängnis.
- Das weckt Erinnerungen an Alberto Fujimori, dessen Selbstputsch 1991 gelang und eine neun Jahre lange Diktatur anstieß.
- Die Vorgänge passen zu Peru, denn die Politik im Land lässt sich nur mit dem Wort “Chaos” beschreiben: Zwischen 2016 und heute gab es sechs Präsidenten. Kein einziger Präsident seit dem Jahr 2000 kam ohne Korruptionsskandal aus; es gab Selbstmorde, Verhaftungen, Flüchte ins Exil und Amtsenthebungen.
- Castillos Amtszeit ist ein Mikrokosmos für das pure Chaos der peruanischen Politik: Seine Wahl polarisierte das Land; er bewies beeindruckende Inkompetenz, kollidierte mit einem dysfunktionalen, zutiefst unbeliebten Kongress; stand im Zentrum von Korruptionsvorwürfen; überstand mehrere Amtsenthebungsverfahren; und scheiterte letztlich an einem mindestens skurrilen, möglicherweise verwerflichen Manöver.
- Dass die neue Präsidentin Dina Boluarte eine zufriedene Amtszeit erlebt, ist unwahrscheinlich: Perus Probleme sind struktureller Natur. Doch wenn sie und das Land Glück haben, gibt es zumindest ein wenig Stabilität.
Warten aufs Reich_
(10 Minuten Lesezeit)
Wie viel Unterschied einige Stunden machen können: Als Pedro Castillo am 7. Dezember aufwachte und eine Rede ans Volk hielt, war er noch Präsident des viertgrößten Landes in Südamerika. Bis zum Ende des Tages war er bereits des Amtes enthoben und befand sich in Untersuchungshaft, festgenommen offenbar beim Versuch, in die mexikanische Botschaft zu fliehen. Was war passiert?
Eine kurze Geschichte Perus
Um Perus Chaos zu verstehen, muss man die Zeit etwas zurückdrehen. Nimmt man es ganz genau, wurden die Weichen für das heutige Peru bereits in der Zeit der spanischen Kolonialherrschaft ab den 1530ern gesetzt, als das neue “Vizekönigreich” das indigene Inka-Reich ablöste. Die Spanier brachten das Christentum, eine rassisch getrennte Zwei-Klassen-Gesellschaft und mit der encomienda eine Art Feudalsystem in kolonial-ausbeuterischer Couleur. Sie kreierten mal mehr, mal weniger bewusst einen Staat, welcher zwar nicht ideal für diktatorische Allmacht gebaut war – der Vizekönig in Lima konnte die Regionen nie ohne Unterstützung der lokalen Eliten beherrschen -, doch welcher dank seiner Plantagen- und Bergbauwirtschaft mit de-facto-Sklaverei geradezu danach schrie, wirtschaftliche Macht in den Händen einer relativ kleinen Elite zu konzentrieren.
Nach einem Unabhängigkeitskrieg im frühen 19. Jahrhundert wurde Peru, wie viele seiner südamerikanischen Nachbarn, zur eigenständigen Republik. Es folgte ein wildes Jahrhundert, in welchem Peru Bürgerkriege erlebte, Kriege mit Kolumbien und Bolivien führte, zeitweise in mehrere Landesteile zerfiel und von Chile besetzt wurde. Das Land erlangte eine Reputation für Instabilität und politische Überforderung, welche es bis heute pflegt. Das ging so weit, dass es einem Autokraten in Bolivien 1836 gelang, völlig gewaltlos eine kurzlebige Peruanisch-Bolivianische Konföderation mit sich selbst an der Spitze herzustellen, welche durch Chile, Argentinien und peruanische Dissidenten zerschlagen wurde. Im 20. Jahrhundert ging es mit der Instabilität weiter, auf Militärregierungen folgten demokratische Tauwetterperioden, auf diese wiederum neue Militärregierungen.
Im Jahr 1980 entstand die moderne, demokratische Republik Peru und selbst das auf betont peruanisch-chaotische Art und Weise: Ein General putschte einen anderen General aus dem Amt, welcher zuvor einen demokratisch gewählten Präsidenten aus dem Amt geputscht hatte. Dieser General, Francisco Morales Bermúdez, liberalisierte das Land wieder und ließ fünf Jahre nach seiner Machtübernahme tatsächlich freie Wahlen abhalten.
Der Nährboden für den Populismus
Perus Demokratisierung hielt nicht sonderlich lange. Die Wirtschaft im Land war nach Jahren der Misswirtschaft am Boden; eine Hyperinflation erzwang die Einführung einer neuen Währung (ein nuevo sol war eine Milliarde sol wert). Das BIP fiel in den zehn Jahren bis 1990 um knapp 20 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen der Peruaner fiel auf das Niveau der 60er-Jahre zurück. Die fragile Lage befeuerte sozialen Unmut und Wut über die weitverbreitete Korruption im Land, auf welchen die Regierung mitunter brutal reagierte. Radikale Milizen, darunter der marxistisch-leninistisch-maoistische Sendero Luminoso (“Leuchtender Pfad”) und die ebenso linksextreme MRTA (“Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru”) bildeten sich und terrorisierten das Land. Das ging so weit, dass ein Viertel des Landes 1984 keine Wahlen abhalten konnte, da die Terrorgefahr zu hoch war.
Inmitten dieses Chaos wählten die Peruaner 1990 einen Außenseiter-Kandidaten zum Präsidenten: Alberto Fujimori. Der kaum bekannte Mathematiker und Universitätsrektor, im Land trotz seiner japanischen Herkunft liebevoll El Chino (“der Chinese”) genannt, schlug überraschend den liberalen Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, obwohl er noch kein einziges politisches Amt ausgeübt hatte. Fujimori versprach, die Wirtschaft zu retten, die Milizen mit harter Hand zu zerstören und Peru wieder aufzubauen.
Fujimoris Amtszeit begann harmlos, bevor sie sich zu einer Diktatur wandelte. Der Präsident liberalisierte die Wirtschaft Perus massiv, ganz im Stile des seinerzeit dominierenden Washington Consensus, welchen Institutionen wie Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank oder das US-Finanzministerium den Entwicklungsländern in aller Welt mal empfahlen, mal auftrugen. Zu den Maßnahmen gehörten unter anderem Freihandel, Investitionsoffenheit, Privatisierungen, Fiskalstabilität, freie Wechselkurse und klare Eigentumsrechte. In Peru nahmen die Reformen den Namen Fujishock an, da sie das Land tatsächlich aus seiner Wirtschaftsstarre herausschockten: Die Inflation fiel innerhalb eines Jahres von 7.650% auf 139%, das Wirtschaftswachstum erreichte bis 1994 13% und damit Weltspitze. Großzügige Sozialmaßnahmen, darunter eine Vervierfachung des Mindestlohns, schirmten einfache Peruaner vor den sektoral-spezifischen negativen Folgen der Liberalisierungspolitik ab, auch wenn diese Bevölkerungsgruppe dennoch nur unterproportional profitierte und die Vermögensschere im Land weit auseinander riss. Auch im Umgang mit Sendero Luminoso und MRTA hielt Fujimori seine Versprechen: Er führte einen regelrechten Krieg gegen die Linksextremisten und konnte die Gruppe bis zu den späten 1990ern mit purer Brutalität – auf beiden Seiten, wohlgemerkt – faktisch zerschlagen.
Perus Fujigolpe
Schon im Jahr 1992, also zwei Jahre nach seiner Wahl, führte Fujimori einen Selbstputsch durch. Bis dahin hatten die Sozialdemokraten und Llosas Mitte-Rechts-Partei die Mehrheit im Kongress gehalten und damit Fujimoris Regierungsmacht eingeschränkt. Der Präsident warf den Parlamentariern vor, bei den Wirtschaftsreformen und bei der Bekämpfung der Milizen lediglich als Bremser zu wirken und führte im April 1992 mit Unterstützung des Militärs den Fujigolpe, ein Wortspiel aus Fujimori und golpe, Staatsstreich, durch. Er schuf den Kongress ab, suspendierte die Verfassung und besetzte die Justiz mit Verbündeten. In der Bevölkerung kam der Fujigolpe mehrheitlich gut an. Kein Wunder: Der Kongress hatte keine 20% Zustimmung, gegenüber über 40% für den Präsidenten, und galt den Peruanern als hochkorrupt, an reiner Elitenpolitik interessiert und, ganz im Stile Fujimoris, als blockierende Kraft.
Die Fujimori-Diktatur wurde durch schwere Menschenrechtsverstöße gekennzeichnet. Schätzungsweise 69.000 Menschen starben inmitten von politischer Gewalt, Repression und dem Konflikt mit den Terrormilizen. Die Verbrechen und der zunehmende Abbau der Demokratie zerrissen das Land in zwei Hälften: Ein Teil kritisierte Fujimori scharf und gab ihm den neuen Spitznamen Chinochet, eine Mischung aus El Chino und Pinochet, Chiles berüchtigtem Diktator. Der andere Teil bewertete die Menschenrechtsverbrechen als notwendiges Übel und negierte, dass der Präsident ein Autokrat sei – die Aussetzung bestimmter demokratischer Institutionen war nach dieser Lesart notwendig in Anbetracht der Krisenlage im Land.
Chaos Galore_
Zu Fujimoris Niedergang geriet der Versuch, im Jahr 2000 für eine dritte Amtszeit anzutreten, obwohl die 1993 eigens verabschiedete Verfassung das ausschloss. Die Sorge vor einem endgültigen Abdriften in eine Autokratie, gepaart mit einer Reihe von Korruptionsskandalen rund um Fujimori, ließ die öffentliche Meinung umschlagen. Der Präsident verstand die Zeichen der Zeit und zog sich, angetrieben von immer selbstbewussteren Oppositionsparteien, aus dem Rennen heraus. Als klar wurde, dass es für ihn keine politische Zukunft mehr geben würde, setzte er sich mitten auf einer offiziellen Auslandsreise ins selbstgewählte Exil nach Japan ab, das Heimatland seiner Eltern. Seinen Abtritt verkündete er per Fax an den Kongress in Lima.
Bloß nicht als peruanischer Präsident geboren werden
Mit dem Ende von Fujimoris Amtszeit begann eine neue Phase in Peru, doch die politische Instabilität nahm nicht ab. Eine beeindruckende Serie aus Skandalen und Krisen und kurzlebigen Präsidentschaften führt aus der Fujimori-Ära bis heute:
- Präsident Alejandro Toledo, Fujimoris Nachfolger von 2001 bis 2006, konnte die peruanische Demokratie wieder reparieren und stieß die Aufarbeitung der Fujimori-Verbrechen an, doch musste später inmitten schwerer Lehrer- und Bauernstreiks den Ausnahmezustand ausrufen, Bürgerrechte aussetzen und dem Militär höhere Befugnisse verleihen. Er geriet zudem in Familienskandale und in den gewaltigen, kontinentweiten Korruptionsskandal um den Baukonzern Odebrecht, weswegen er 2019 auf peruanischen Antrag hin in den USA verhaftet worden war und wohl in Kürze ausgeliefert wird.
- Unter Toledos Nachfolger Alan García, 2006 bis 2011, erlebte Peru große Entwicklungssprünge, doch der Präsident wurde regelmäßig mit Korruptionsskandalen in Verbindung gebracht. 2019 geriet er ebenfalls in den Odebrecht-Skandal und beging Suizid, wenige Stunden bevor er verhaftet werden konnte.
- Auf García folgte 2011 Ollanta Humaia, der erste linke Präsident des Landes, welcher übrigens im Jahr 2000 noch einen späten, erfolglosen Putsch gegen Fujimori versucht hatte. Er wurde 2017 im Zusammenhang mit dem… richtig, Odebrecht-Skandal verhaftet.
- 2016 kam Pedro Pablo Kuczynski an die Macht, ein Ökonom, dessen jüdische Eltern in den 1930ern aus Nazi-Deutschland nach Peru geflohen waren (der Name erklärt sich anhand polnischer Familienhistorie). Seine Amtszeit war geprägt von ewigem Konflikt mit dem oppositionell dominierten Kongress, Amtsenthebungsversuchen und Korruptionsskandalen. Als sich 2018 ein erfolgreiches Misstrauensvotum abzeichnete, trat Kuczynski proaktiv zurück. 2019 wurde er verhaftet, ganz genau, aufgrund von Ermittlungen zum Odebrecht-Skandal.
- Martin Vizcarra folgte 2018 auf Kuczynski. So wie seine Vorgänger kollidierte Vizcarra durchgehend mit dem Kongress. Das ging so weit, dass er im Herbst 2019 den Kongress auflösen und neue Wahlen ansetzen ließ – in welchen die Opposition allerdings die Kontrolle behielt. Sie verlor keine Zeit und führte zwei Amtsenthebungsverfahren durch; beim zweiten gelang es ihr, Vizcarra im November 2020 – inmitten der Covid-Pandemie – aufgrund von “moralischer Unfähigkeit” abzusetzen.
- Oppositions- und Parlamentschef Manuel Merino folgte Vizcarra ins Amt, doch musste nach nur sechs Tagen abtreten, da der öffentliche Druck zu groß geworden war. Vizcarras Absetzung wurde in der Bevölkerung äußerst schlecht aufgenommen, es kam zu schweren Protesten, bei welchen zwei Menschen starben. Einige Beobachter in Politik und Medien bezeichneten das Manöver des Kongresses gar als “Putsch”.
- Nach Merino übernahm Politveteran Francisco Sagasti als Übergangspräsident bis zu Neuwahlen im Frühjahr 2021.
Die Fujimori-Clique
Zu dem Zeitpunkt, als die Peruaner Mitte 2021 zu den Wahlurnen traten, war die Fujimori-Ära bereits fast genau 20 Jahre her. Und doch hängt der Schatten des Ex-Präsidenten bis heute über dem Land. Nicht nur, weil er 2006 aus Japan zurückkehrte und verhaftet sowie zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden war; nicht nur, weil seit 2017 hin und her diskutiert wird, ob er begnadigt werden sollte – sondern auch, weil seine Familie sein Vermächtnis weiterträgt. Keiko Fujimori, Albertos Tochter, geriet zu seiner Standartenträgerin und Anführerin der Partei Fuerza Popular (“Volkskraft”), welche im Kongress als Opposition ihr Übriges tut, um zur politischen Blockade beizutragen. 2011 trat Keiko erstmals um die Präsidentschaft an, doch verlor in einer Stichwahl gegen Ollanta Humala. 2016 verlor sie erneut, diesmal gegen Pedro Kuczynski. 2021 versuchte sie es zum dritten Mal – und dient wohl als Erklärung dafür, warum Pedro Castillo siegen konnte.
Castillo auf Abwegen_
Die Parallelen zwischen Castillo und Fujimori – Alberto, nicht Keiko – sind derart markant, dass es fast schon etwas Poetisches hat. Castillo trat 2021 als völlig unbekannter Kandidat an, welcher noch nie ein politisches Amt innegehabt hatte, sondern Dorfschullehrer und Gewerkschaftsführer gewesen war – bis auf Letzteres ganz ähnlich wie Fujimori, bis hin zum Hintergrund im Bildungssektor. Schwere Krisenstimmung (kaum ein Land war so hart von der Covid-19-Pandemie betroffen wie Peru) und weitverbreitete Resignation mit der politischen Elite, insbesondere dem Kongress und dem Spalier aus mutmaßlich korrupten Präsidenten, brachte Castillo als unerwarteten Protestkandidaten in die Stichwahl. Auch das erinnerte an Fujimori. Wo dieser allerdings ein rechter, sozialkonservativer Politiker mit ausgesprochenem Hass gegen die linken Milizen war, trat Castillo für die marxistische Partei Perú Libre (PL, “Freies Peru”) an, auch wenn er ihr nicht selbst angehörte.
Pest oder Cholera
Castillos Assoziation mit der Linksaußen beunruhigte weite Teile des Landes, auch wenn der Kandidat selbst versuchte, sich von extremen Positionen zu distanzieren. Er trat in erster Linie als Linkspopulist auf, versprach beispielsweise, nur ein Lehrergehalt zu beziehen und die Gehälter in politischen Positionen zu halbieren. Darüber hinaus war kaum klar, was Castillo vorhaben würde und wie sehr er vom marxistischen Chef der PL, Vladimir Cerrón, kontrolliert werden würde. Gegner sahen entsprechend das Ende des freien Peru in Form einer katastrophalen “Venezolanisierung”, mindestens aber eine wirtschaftlich und demokratisch-institutionell fragwürdige “Bolivianisierung” aufziehen; Unterstützer wiesen das als Angstmacherei zurück und sahen Potenzial in dem Präsidenten, welcher erstmals nicht zur Landeselite in den Nobelvierteln Limas gehörte. Die Stimmung war polarisiert; die Skepsis überwog.
Wie gut für Castillo, dass seine Gegnerin Fujimori hieß. Keiko Fujimori hatte es gegen ihn in die Stichwahl geschafft, womit es für viele Peruaner zur Wahl zwischen Pest und Cholera geriet: Ein mit Marxisten verbündeter Linkspopulist ohne Politerfahrung, über dessen Person und Positionen kaum etwas bekannt ist? Oder die rechtspopulistische Tochter eines Autokraten, über welche seit Jahren sehr viel bekannt ist, nur eben wenig Ansprechendes? Bei fast 19 Millionen abgegebenen Stimmen siegte Castillo mit 44.263 Stimmen Unterschied. Es war ein hauchdünnes, spektakulär schwaches Mandat, welches das resignierte Peru Castillo verpasst hatte. Doch ein Mandat war es allemal.
Eine Regierung wie aus einer Telenovela
Castillos Amtszeit war ein einziges, nun ja, Chaos. Die mangelnde Regierungserfahrung zeigte sich in spektakulärer Manier. In seinen 17 Monaten im Amt hatte Castillo fast 70 unterschiedliche Minister und fünf Premierminister; das Kabinett änderte sich dermaßen regelmäßig und vollwertig, dass es das Schiff des Theseus im gleichnamigen philosophischen Paradox ersetzen könnte (genau genommen wurde rein rechnerisch jeden sechsten Tag ein Minister ausgewechselt). Dazu kamen, selbstverständlich, Korruptionsvorwürfe. Die Bevölkerung strafte ihn ab, seine Umfragewerte purzelten von 53% kurz nach der Wahl auf miserable 25%. Neben der puren Inkompetenz war ein Grund für das Regierungschaos, dass Castillo andauernd den Spagat zwischen seinen radikallinken Gönnern von der PL und der deutlich moderateren Gesamtbevölkerung schaffen musste. Zudem war Castillos Verhältnis zum Kongress mindestens genauso vergiftet wie jenes seiner Vorgänger, was dem Politnovizen die Regierungsarbeit nicht erleichterte. Der Kongress hatte zweimal versucht, Castillo das Vertrauen zu entziehen, doch mangelnde Koordination zwischen den vielen kleinen Oppositionsparteien in den Kammern – und, vermutlich, die Sorge einiger Abgeordneter, bei einer Neuwahl ihren Job zu verlieren – rettete Castillo beide Male das Amt. Im Winter 2022 wollte der Kongress einen neuen Anlauf versuchen.
Castillogolpe
So kam es nun also zum 7. Dezember 2022. Mit zittrigen Händen, sich wohl der Tragweite seiner Handlung bewusst, las Castillo vom Blatt ab: Er löse mit sofortiger Wirkung den Kongress auf, richte eine “außergewöhnliche Notfallregierung” ein (hier auch der Unterschied zur Kongressauflösung durch Vizcarra 2019) und rufe einen Ausnahmezustand aus, um “Rechtsstaatlichkeit und Demokratie” wiederherzustellen. Und plötzlich waren sie da wieder, die Parallelen zwischen dem Linken Castillo und dem Rechten Fujimori, welcher seinerzeit eine selbsternannte “Regierung des Notstands und des nationalen Wiederaufbaus” angeführt hatte.
Die Reaktion war massiv und umgehend. Das Verfassungsgericht warf Castillo einen (Selbst-)Putschversuch vor; zahlreiche Beobachter aus Politik und Medien stimmten zu. Selbst seitens Castillos politischer Unterstützer kam scharfe Kritik, mehrere Minister traten aus Protest zurück. Militär und Polizei – hier ein wichtiger Unterschied zu Fujimori – erklärten, dass sie hinter der Verfassung stünden. Der Kongress ignorierte Castillos Anweisung und hielt stattdessen eine Notfallsitzung ab, in welcher es ihm endlich gelang, die Amtsenthebung durchzusetzen. Castillos einstige Verbündete und Vizepräsidentin, Dina Boluarte, wurde zur Präsidentin ernannt, als erste Frau in der Geschichte des Landes. Castillo befand sich derweil bereits mit seiner Familie auf dem Weg zur mexikanischen Botschaft, offenbar um dort Asyl zu beantragen. Seine eigenen Leibwächter stoppten das Auto und fuhren ihn stattdessen auf eine Polizeiwache, wo er festgenommen wurde, nun wird aufgrund des Verdachts der Rebellion ermittelt. Der Fujigolpe hat im Castillogolpe keinen Nachfolger gefunden.
Gut zu wissen: Castillo agierte nervös und unsicher beim Verlesen seines Dekrets. Einige Beobachter spekulieren, dass er durch seinen (letzten) Premier Aníbal Torres zu dem Schritt gedrängt worden sein könnte (sp). Dieser dementiert, doch scheint sich derzeit zugleich vor der Justiz zu verstecken. Eine etwas exotischere Theorie (sp), von einem früheren Kabinettschef von Castillo formuliert, besagt, dass der Ex-Präsident unter Drogen gesetzt worden sei und sich “nicht mehr erinnert”.
Und jetzt?_
He Putsch, She Putsch
Alles gut in Peru? Wer denkt, dass nach dem Castillo’schen Selbstputschversuch das politische Chaos enden würde, irrt. Dina Boluarte hatte erst verkündet, dass sie Castillos komplette Amtszeit bis 2026 ableisten möchte. Dann brachen allerdings schwere Proteste aus, welche Stand Mitte Dezember anhalten – mindestens 20 Menschen sind bei den schweren Zusammenstößen zwischen Castillo-Anhängern und Sicherheitskräften bereits gestorben. Die mehrheitlich ländlichen, gewerkschaftsnahen und indigenen Anhänger des Ex-Präsidenten werten ausgerechnet dessen Absetzung als Putsch; die Boluarte-Regierung sei illegitim. Castillo selbst stimmt aus dem Gefängnis heraus zu und nennt Boluarte eine “Usurpatorin”. Die Präsidentin macht Konzessionen und versprach erst Neuwahlen im April 2024, einen Tag später dann im Dezember 2023. Der Verteidigungsminister Alberto Otárola hat aufgrund der schweren Proteste nun den Ausnahmezustand ausgerufen, welcher, ironischerweise, in Peru inzwischen kaum noch Ausnahme ist. Selbst das Ausland ist nicht völlig auf Linie: Kolumbien, Bolivien, Argentinien und Mexiko, allesamt von linken Präsidenten und teilweise Linkspopulisten regiert, sprachen in einem gemeinsamen Statement faktisch ihre Unterstützung für “Präsident” Castillo aus, während Boluarte nicht mit einem Wort erwähnt wurde.
Selbst falls die laufende Protestwelle abklingen sollte, wird Peru nicht so schnell zur Ruhe kommen. Der Kongress bleibt polarisiert und dysfunktional; nur rund 10% (sp) der Bevölkerung sind mit der Arbeit ihres Parlaments zufrieden. Korruption, Ungleichheit und Misswirtschaft verärgern die Peruaner und sind tatsächlich ominpräsent. Die Parteienlandschaft in Peru ist schwach, womit der Kongress zwischen 15 Parteien und einer ordentlichen Zahl an Unabhängigen zerrieben ist – Mehrheitsverhältnisse gibt es kaum, einig ist sich das Parlament oft nur in der Ablehnung der Regierung. Da die Verfassung es gleichzeitig dem Kongress einfach macht, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten, und dem Präsidenten, den Kongress aufzulösen, ist Konflikt vorprogrammiert, unabhängig vom exakten Namen im Präsidentenpalast.
Die Unglückssträhne der peruanischen Präsidenten wird sich damit mit hoher Sicherheit fortsetzen, ihre Regierungsunfähigkeit ebenso. Immerhin liegt darin auch ein Silberstreif: So unfähig die peruanischen Politiker sind, das Land mit seinen 33 Millionen Einwohnern vernünftig zu regieren, so unfähig sind sie auch darin, Macht auf sich zu konzentrieren – mit Fujimori als Ausnahme. Gelänge es Boluarte, tatsächlich bis Dezember 2023 im Amt zu bleiben, wäre das bereits ein Erfolg. Ebenso, wenn Peru es schafft, in den nächsten sechs Jahren weniger als sechs Präsidenten zu erleben.