Ein Söldneraufstand in Russland und die chaotischsten 24 Stunden, welche das Land seit drei Jahrzehnten erlebt hat. Was du dazu wissen musst.
Hintergründe | Was ist geschehen? | Was bedeutet das?
(14 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Die Wagner-Gruppe unter Jewgeni Prigoschin marschierte am Freitag plötzlich in Russland ein, eroberte am Samstag zwei Großstädte und rückte auf Moskau vor.
- Die Behörden waren im Panikmodus – doch schon am Abend bläst Prigoschin die Rebellion völlig überraschend ab.
- Ein noch etwas nebulöser Deal sieht offenbar vor, dass Prigoschin im Gegenzug für Straffreiheit nach Belarus geht; die Zukunft von Wagner ist unklar.
- Was genau passiert ist, weiß niemand. Wir vermuten: Prigoschin reagierte mit der Rebellion auf einen Versuch des Kremls, mehr Kontrolle über Wagner zu erlangen. Als ein Erfolg zu uneindeutig wurde, zog er bei erster Gelegenheit die Reißleine.
- Putin und die russische Regierung bleiben geschwächt zurück. Die Episode ist peinlich und sägt am Nimbus der allumfassenden politischen Kontrolle.
- Für die Ukraine dürften die kurzfristigen Auswirkungen gering bleiben, langfristig profitiert sie jedoch von mehr Unsicherheit in Russland.
Die Hintergründe_
(4 Minuten Lesezeit)
Dieser Explainer basiert auf dem Stand 7 Uhr morgens, 25.06.2023
Ein Fiebertraum. Was ist soeben in Russland passiert? Jewgeni Prigoschin und seine Söldnergruppe Wagner erklärten der Regierung scheinbar den Krieg, eroberten zwei große Städte, zogen gen Moskau und brachen dann plötzlich ab.Der Putschist – oder doch nur Meutereianführer? – geht ins Exil, zumindest klingt es danach. Russland erlebt intensive, irritierende 24 Stunden. Eine Rekapitulation – und ein Deutungsversuch.
PMC Wagner
Kurz etwas Kontext. Die Söldnertruppe Wagner – international oft als PMC Wagner (private military company) bezeichnet, im russischen ChVK Wagner – bildet seit 2014 eine der Säulen der russischen Militärpolitik. Sie war vor neun Jahren an der Besetzung der Krim und des Donbass beteiligt, operierte später in Syrien und bis heute in verschiedenen afrikanischen Ländern (z.B. Libyen, Mali, Tschad, ZAR). 2022 kehrte sie in die Ukraine zurück und bildete eine Speerspitze in der russischen Invasion: Ihre seinerzeit rund 5.000, heute laut eigenen Angaben 25.000 Kämpfer waren besser ausgebildet, besser ausgerüstet und höher motiviert als jene der regulären russischen Armee.
Dabei wirkte Wagner längste Zeit lediglich wie der verlängerte Arm des Kremls für jene “schmutzigen” Operationen, mit welchen sich Moskau nicht assoziieren lassen wollte. Dass Jewgeni Prigoschin, ein ehemaliger Verbrecher, Wurstmagnat und Restaurantbesitzer mit dem Spitznamen “Putins Koch”, mit Wagner in Verbindung stand, war seit jeher bekannt. Doch für viele Beobachter war er lediglich ein Mittelsmann, hinter welchem das russische Verteidigungsministerium die Strippen zog.
Spätestens seit September 2022 wissen wir, dass das nicht ganz stimmte. Damals gab Prigoschin sich öffentlich als Chef der Söldnergruppe zu erkennen und begann sogleich einen herben Streit mit dem Verteidigungsministerium um Minister Sergei Shoigu. Prigoschin warf dem Kreml (doch niemals Präsidenten Putin selbst) vor, den Krieg falsch zu führen und russische Soldaten fahrlässig in den Tod zu schicken. Alle Fehler gingen auf die Kappe der Militärführung, alle Erfolge auf jene seiner Söldner. Mit jeder auf Telegram geposteten Tirade baute Prigoschin sein öffentliches Profil auf und gewann gerade unter den Ultranationalisten viele Fans – doch wurde auch zunehmend zum Störfaktor für den Kreml.
Gut zu wissen: Mehr erfährst du in unserem Explainer zu Wagner aus Juni 2022. Einen Fehler müssen wir im Nachhinein einräumen: Dass Wagner “lediglich ein getarnter Arm des russischen Verteidigungsministeriums” sei, stimmt allermindestens seit Herbst 2022 nicht mehr und tat es womöglich auch vorher nicht.

Von Freund zu Feind
Die beißende Kritik hielt sich für den Kreml mit der militärischen Nützlichkeit Wagners die Waage. Prigoschin hatte die Schlacht um Bakhmut zum Beweis für seinen Wert auserkoren und ließ seine Söldner monatelang gegen die Festung anrennen. Der Kreml ließ Wagner Gefängnisse in Russland anzapfen, wo es Tausende Insassen mit dem Versprechen auf verkürzte Haftstrafen anlockte und dann schwach ausgerüstet, kaum ausgebildet in Menschenwellen gegen die ukrainischen Verteidigungsstellungen anrennen ließ.
Die Verluste im “Fleischwolf” von Bakhmut gingen vermutlich in die Zehntausende. Neben den entbehrlichen Häftlingen verlor Wagner auch viele seiner erfahrenen Kämpfer. Prigoschin war wütend und warf der russischen Militärführung mehrfach öffentlich vor, seine Truppe gezielt von Munition abzuschneiden, um sie zu schwächen. Die Rhetorik war mal brachial, mal unheilvoll: Eine “Revolution” stünde bevor, so Prigoschin im Mai, sollte Russland nicht mehr Erfolge in der Ukraine verbuchen. Und als er im April gefragt wurde, ob er keine Munition erhalte, weil er sonst “den Kreml stürmen” könne, nannte Prigoschin das “interessant”. Seinen Höhepunkt erreichte der Streit, als Prigoschin ausdrücklich mit einem Abzug aus Bakhmut drohte und daraufhin wohl doch den geforderten Nachschub erhielt.
Für den Kreml veränderte sich die Kalkulation. Prigoschin und Wagner gerieten zu einem zu großen Problem. Zu lautstark kritisierte der “Koch” die Militärführung und damit implizit auch Putin; zu aktiv baute er sein nationales politisches Profil auf; zu sehr trieb er die Militärführung mit seinen öffentlichen Forderungen vor sich her. Also ordnete Verteidigungsminister Shoigu am 11. Juni an, dass sämtliche Söldnergruppen unter die Kontrolle des Ministeriums gestellt werden müssen. Prigoschin lehnte umgehend ab. Der Machtkampf war offiziell und hatte einen Stichtag: Ab dem 1. Juli würde die Order gelten.
Am 23. Juni, Freitag, veröffentlichte Prigoschin ein heikles Video. Er erklärte, dass die offiziellen Begründungen für den Ukrainekrieg durch den Militärapparat erlogen seien. Die Ukraine habe keine Gefahr für Russland dargestellt und es habe im Vorfeld der Invasion auch keine Zunahme an ukrainischen Attacken gegen die Separatistengebiete im Donbass gegeben – beides Behauptungen der Militärführung, mit welchen diese “die Öffentlichkeit und den Präsidenten betrügen” wollte, so Prigoschin. Zudem hätten russische Behörden die seit 2014 besetzten Donbass-Gebiete “geplündert”. (Video, engl. Untertitel)
Später am 23. Juni dann das erste große Chaos: Prigoschin beklagte einen mutmaßlichen Raketenschlag auf ein Wagner-Lager in der Ukraine, vermutlich in der besetzten Oblast Donezk. Prigoschin lud auf seinem Telegram-Kanal ein hektisches, uneindeutiges Video hoch (Twitter | Original, nur Telegram), welches die Folgen des Angriffs zeigen sollte, und beschuldigte die militärische Führung Russlands: Verteidigungsminister Sergei Shoigu und den Chef des Generalstabs Waleri Gerassimow. Zur Vergeltung werde Wagner in Russland einmarschieren und die Absetzung der Militärführung forcieren. Der Kreml ließ Prigoschin aufgrund des Vorwurfs des Staatsverrats und der bewaffneten Rebellion anklagen. Dass es tatsächlich zu letzterer kommen würde, dachten zu diesem Zeitpunkt nur wenige.
Was ist geschehen?_
(4 Minuten Lesezeit)


Rostow am Don
Am Abend des 23. Juni, Freitag, begann Wagner seine offene Rebellion gegen den Kreml. Die Söldnergruppe verließ ihre Lager im besetzten östlichen Teil der Ukraine, überquerte illegal die Grenze zu Russland und besetzte innerhalb weniger Stunden in der Nacht zum 24. Juni die südliche Großstadt Rostow am Don, scheinbar kampflos. Russland stand unter Schock. Wagner kündigte einen Marsch auf Moskau an.
Westliche und russische Beobachter wurden von dem Manöver vollkommen überrascht. Meldungen über einen Wagner-Konvoi in Richtung Rostow am Don schienen erst unglaublich, doch waren dann bestätigt. Es kam zu einem kurzen “stand-off” zwischen staatstreuen Truppen und Wagner-Soldaten, bevor die Söldner kampflos das Armee-Hauptquartier in Rostow am Don und so faktisch die gesamte Stadt übernahmen. Das ließ sich an Bedeutsamkeit kaum überschätzen: Aus Rostow am Don koordinierte Russland den Großteil seiner Operationen in der Ukraine, zudem war es einer der wichtigsten Versorgungshubs für die Front. Die Söldnergruppe kontrollierte plötzlich eine Stadt mit 1,1 Millionen Einwohnern (von welchen nicht wenige die Neuankömmlinge zu feiern schienen) und voller Militärnachschub. Der Höhepunkt der Absurdität war erreicht, als Söldnerchef Prigoschin in seiner Eroberung Hof abhielt und mit dem in Rostow festgesetzten Vize-Verteidigungsminister Yunus-Ben Yewkurow sprach, als wäre er ein Kind, das es zu maßregeln gilt. (Video, russisch)

Der Feind im Inneren
Es gab Meldungen, dass die Söldner ausströmten. Sie wurden in der Nähe von Wolgograd – dem früheren Stalingrad – und der Kaukasusstadt Krasnodar beobachtet. Doch am gewichtigsten war, dass Prigoschin einen Marsch auf Moskau ankündigte: Kein Putsch, erklärte er, sondern ein “Marsch für die Gerechtigkeit”. Russland war in Panik. Zumindest der Regierungsapparat mitsamt Medien sowie die Militärblogger, welche das Geschehen wie eine neue Front im Ukrainekrieg mitverfolgten.
Die 1.100 Kilometer langen Autobahnen, welche Rostow am Don mit Moskau verbanden, wurden zum neuralgischen Punkt. Der Kreml mobilisierte Truppen, um die Zugänge zur Hauptstadt abzusichern, ließ physische Barrieren auftürmen (z.B. Sandhügel) und zerstörte mancherorts gar die Straßen, um Wagners Vormarsch aufzuhalten. Die Behörden mehrerer Regionen forderten die Menschen auf, zuhause zu bleiben. Moskau erklärte den Montag zum arbeitsfreien Tag und stoppte sämtliche Großveranstaltungen in der kommenden Woche. Die Stimmung in der Bevölkerung blieb überwiegend ruhig, doch das täuschte nicht darüber hinweg, dass der Politik- und Militärapparat im Alarmmodus war.
Die politische Kommunikation war intensiv und chaotisch. Die ratlose Lage in den Staatsmedien fasste ein Moment bei Rossiya 24 zusammen: “Jetzt eine kurze Werbung, gefolgt von… Werbung”, so die Moderatorin. (Video) Erlösung ins kommunikative Vakuum brachte am Vormittag eine Rede von Wladimir Putin, in welcher er den Teilnehmern an der “bewaffneten Meuterei” einen “Dolchstoß” gegen Russland vorwarf und mit der Vernichtung drohte. (Rede, englisch | Video, russisch, ab 55:45)
Aus der russischen Elite rollten die Loyalitätsbekundungen hinein. Das war in den meisten Fällen keine Überraschung, schließlich hatte Prigoschin innerhalb der russischen Elite wenige bekannte Fürsprecher. Auch Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow, welcher vor einigen Monaten kurzzeitig mit Prigoschin zu paktieren schien, und General Sergei Surowikin, welcher als Wagner-nah galt, stellten sich eindeutig hinter Putin und forderten Prigoschin auf, seine Rebellion zu stoppen.
Die Reaktion aus Rostow am Don war trotzig. Prigoschin erklärte in einer Sprachnachricht auf Telegram, dass sich “niemand den Forderungen des Präsidenten ergeben” werde. Bemerkenswert, da der langjährige Putin-Loyalist es bis dahin vermieden hatte, sich offen gegen den Präsidenten zu stellen und seine beißende Kritik auf den Militärapparat beschränkt hatte. Noch drastischer äußerten sich Wagner-Kommandanten. AP Wagner, der womöglich bekannteste mit der Söldnergruppe affilierte Telegram-Account (hinter Prigoschin selbst), erklärte trocken: “[Putin] hat die falsche Entscheidung getroffen. Bald haben wir einen neuen Präsidenten.”
Gut zu wissen: Im ultranationalistischen Diskurs, vor allem unter Wagner-nahen Kommentatoren wie AP Wagner, ist mitunter vom “Degenerierten aus Tuwa” die Rede. Gemeint ist Sergei Shoigu, welcher der Volksgruppe der Tuwiner (Tuwa) angehört, einem Turkvolk im südlichen Sibirien, der westlichen Mongolei und dem nördlichen Xinjiang (China). Putin wird derweil des Öfteren abwertend “Pypa” oder kurz “Pip” genannt. Beides sind Abkürzungen für “Pakhan“, Slang für “Mafiaboss”.
Moskau (und zurück)
Wagner rückte also unbeeindruckt nach Moskau vor. Um 12 Uhr mittags gab es erste bestätigte Meldungen, dass die Söldner die Stadt Woronesch erreicht hatten – halbe Strecke bis zum Ziel. Russland bombardierte mit Kampfhubschraubern Treibstofflager in Woronesch (Video), um zu verhindern, dass diese Wagner in die Hände fielen. Dass Russland russische Ziele auf russischem Boden beschießt, war eine surreale Wendung nach fast anderthalb Jahren Krieg. Nicht minder surreal, dass russische Söldner russische Hubschrauber und Flugzeuge abschossen, je nach Quelle mal drei, mal sieben an der Zahl.
Die Lage wurde immer heikler. Wagner rückte weiter vor und kam laut eigenen Angaben bis auf 200 Kilometer an Moskau heran, mindestens aber auf knapp 300 Kilometer und laut einigen Beobachtern gar bis an die Oblast Moskau, also das “Bundesland” der Hauptstadt (ca. 100 Kilometer). Wagner-nahe Beobachter bejubelten den Vorstoß, sprachen von Bürgerkrieg und kündigten Tribunale für ihre Gegner an. Beobachtern war es verziehen, wenn sie dachten, dass Russland vor dem Abgrund stünde. Rebellion, Bürgerkrieg, Putschversuch – allesamt legitime Interpretationsversuche. Wie hätten sie schon wissen können, dass Prigoschin seinen Spaziergang plötzlich abblasen würde?
Um etwa 19 Uhr verlautbarten die russischen Staatsmedien, dass Prigoschin einen Vorschlag von Alexander Lukaschenko, Machthaber in Belarus und Vermittler in der Krise, angenommen hatte. Er stoppte den Vormarsch seiner Söldner und erklärte die gesamte Aktion für beendet. Moment, was?

Was bedeutet das?_
(5,5 Minuten Lesezeit)
Irritation ist die angemessene Reaktion. Die Vorgänge der letzten 24 Stunden in Russland sind skurril. Wer der dazugehörigen Medienkakophonie folgte, wird mitbekommen haben, wie die Analysen plötzlich abfielen: Sehr viele, welche die Rebellion erklärten; sehr wenige, welche ihr Ende erklärten.
Ein kurzer Blick auf jene Details des Deals, welche Stand Sonntagmorgen bekannt sind, mag helfen. Russland stellt demnach die Anklage gegen Prigoschin wegen Staatsverrats und Rebellion ein. Dieser begibt sich nach Belarus, womöglich in eine Art Exil. Die Wagner-Kämpfer, welche an der Rebellion (oder nun doch lediglich eine Meuterei?) teilgenommen hatten, erhalten ebenfalls eine Amnestie. Unbeteiligte Wagner-Kämpfer dürfen Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen, also reguläre Soldaten werden. Ob die Kernforderungen Wagners erfüllt werden – Verteidigungsminister Shoigu und General Gerassimow abzusetzen – ist nicht bekannt.
Prigoschin selbst gab sich betont patriotisch und selbstlos:
“Sie wollten Wagner auflösen. Wir starteten am 23. Juni den Marsch für Gerechtigkeit. An einem Tag, marschierten wir fast 200 Kilometer an Moskau heran. Wir vergossen in dieser Zeit keinen einzigen Tropfen Blut unserer Kämpfer. Nun ist der Moment gekommen, an welchem Blut fließen könnte. Deswegen, da wir die Verantwortung für das Vergießen russischen Blutes verstehen, drehen wir unsere Konvois um und kehren nach Plan zu den Feldlagern [in der Ukraine] zurück.”
Etwas Spekulation
Nun darf angezweifelt werden, inwiefern Prigoschin die Operation aus der Güte seines Herzens gestoppt hatte (zudem wurde längst russisches Blut vergossen, nämlich von rund 12 Piloten der regulären Streitkräfte). Wir schalten in die Spekulation: Entweder wurde er durch die Umstände zum Rückzug gezwungen oder er sieht seine strategischen Ziele erfüllt.
Gegen einen “zufriedenen” Rückzug spricht, dass sich nicht unbedingt ein Sieg für Wagner erkennen lässt. Es gibt bislang keinen Hinweis darauf, dass Shoigu oder Gerassimow abtreten müssten. Es ist unklar, inwiefern Wagner in seiner bestehenden Form überlebt. Es ist ebenso unklar, wie genau es mit Prigoschin weitergeht. Allein, wenn die unbeliebten Personalien an der Spitze der Militärführung verbleiben, könnte Prigoschin kaum noch glaubwürdig von einem Sieg sprechen.
Womöglich ging es für den Söldnerchef also um Schadensbegrenzung, ein “erzwungener” Rückzug. Wie einige Beobachter berichten, darunter übrigens enttäuschte, wütende Anhänger, habe Prigoschin auf mehr Unterstützung gehofft: Schnelle Erfolge von Wagner sollten mehr Menschen, Soldaten und Eliten dazu bringen, sich gegen Putin zu richten. Das geschah allerdings nicht. Ein Gang ins Exil wäre sein bester Weg heraus aus einer kniffligen Lage – die exit ramp. Vielleicht behält er gar seine lukrativen Söldnergeschäfte in Afrika oder, unter russischen Oligarchen durchaus ein Luxus, sein Leben.
Oder Prigoschin hat doch, was er wollte. Er könnte vom Kreml Garantien erhalten haben, dass die Regierung nicht weiter gegen Wagner vorgeht, wie sie mit der Order vom 11. Juni begonnen hatte, und Prigoschin die Kontrolle behält. Selbst ein Verbleib von Shoigu und Gerassimow mag letzten Endes zweitrangig sein, immerhin behält Prigoschin so Feindbilder, an welchen er sich munter abarbeiten kann. In diesem Narrativ wäre Prigoschin auf einmal der starke Mann in Russland. Es gibt allerdings Ungereimtheiten: Unklar ist für die whathappened-Redaktion, wie der Gang nach Belarus in diesem Zusammenhang zu verstehen wäre. Zudem hat Prigoschin durch den Angriff seine wenigen Sympathisanten innerhalb der russischen Elite und “moderatere” Nationalisten eingebüßt, durch den plötzlichen Abzug wiederum seine Unterstützer bei den radikalsten Nationalisten und Wagner-Anhängern schockiert. Seine Machtbasis wirkt schwächer, nicht stärker. Und die Meldungen dazu, dass bestimmte Wagner-Soldaten bei der Armee anheuern dürfen, klingt nicht so, als hätte der Kreml seine “Verstaatlichung” Wagners aufgegeben. Zu guter Letzt wäre Prigoschin sicherlich nicht zu schüchtern gewesen, konkrete Erfolge statt blumiger Allgemeinposten zu nennen, wäre der Deal zu seinen Gunsten ausgegangen.
Wir halten das erste Szenario deswegen für wahrscheinlicher. Prigoschin hat die Kontrolle über Wagner aufgegeben und fällt als politischer Akteur in Russland vorerst raus. Seine Rebellion war vermutlich ein verzweifelter, aus der Alternativlosigkeit geborener Versuch, der Frist vom 1. Juli zuvorzukommen (zu welcher der Kreml Wagner “verstaatlichen” wollte) und seine politische Zukunft zu sichern. Als absehbar wurde, dass seine Rebellion nicht genügend Unterstützung erhielt, lenkte er ein, bevor der Rubikon vollends überschritten war – nämlich, bevor größere Kampfhandlungen hätten ausbrechen müssen.
Gut zu wissen: In der chinesischen Qin-Dynastie galt die Todesstrafe für Beamte, welche verspätet zu ihrer Arbeit erschienen. Als zwei Offiziere realisierten, dass sie aufgrund einer Überschwemmung zu spät kommen würden, entschlossen sie sich stattdessen zur offenen Rebellion: Sie führten einen Bauernaufstand an und versuchten, den Qin-Kaiser zu stürzen. Der Aufstand scheiterte letztlich, doch trug indirekt zum Aufstieg der bis heute wichtigen Han-Dynastie bei. Womöglich hatte auch Prigoschin das Gefühl, zur Rebellion gezwungen worden zu sein, um einen großen persönlichen Nachteil zu vermeiden.

Was bedeutet es für Putin?
Ein Desaster waren diese 24 Stunden in jedem Fall für Wladimir Putin. Noch nie schien sein Griff auf Russland so unsicher; noch nie war seine Lage so instabil. Eine wütende Söldnergruppe, angeführt von einem Dauerkritiker des Regimes, marschiert ungehindert in das Land ein, erobert die zehntgrößte Stadt mitsamt wichtiger Militärzentrale kampflos binnen Stunden, erobert eine zweite Stadt und marschiert auf die Hauptstadt zu. Selbst wenn Prigoschin erkennen musste, dass er nicht mehr weiterkäme, so war es bereits eine Katastrophe, dass er überhaupt so weitkam. Der russische Sicherheitsapparat rund um die Nationalgarde Rosgwardija scheiterte kolossal, den Feind beim Zug durch das Kernland zu stoppen; der Geheimdienstapparat um den Inlandsdienst FSB scheiterte darin, die Gefahr zu erkennen. Eine Säule der Putinschen Machtbasis ist der Eindruck von totaler politischer Kontrolle. Diese Säule ist nun erschüttert. Es hilft nicht, dass ausgerechnet Putins de-facto-Vasall Lukaschenko die politische Krise in Russland löste.
Das bedeutet nicht, dass Putins Regierung vor dem Kollaps stünde. Die Episode hat gezeigt, dass die Elite bereit ist, sich um den Präsidenten zu scharen. Und wenn Prigoschins Rückzug wie vermutet nicht freiwillig geschah und der Söldnerchef nun ins Exil geht, wäre der Kreml seinen derzeit lautstärksten Kritiker los. Wir wären zurück beim Status quo ante: Russland wirkt langfristig instabil (und jetzt umso mehr), doch akut sind keine kippenden Dominosteine zu erkennen. Gleichzeitig gilt bei vielen Revolutionen, dass zwischen dem ersten subtilen Stein und einer unaufhaltbaren Dynamik nur wenig Zeit vergeht. Russland und Putin sollten sich nicht in Sicherheit wiegen.
Was bedeutet es für die Ukraine?
Für die Ukraine war es ein aufregender Tag. Sie beobachtete wortwörtlich mit Popcorn in der Hand und viel Schadenfreude das Chaos im Nachbarland – und dürfte enttäuscht auf den plötzlichen Frieden blicken. Sie profitiert zweifelsohne von der Situation, allein schon, da der Kreml mehr mit sich selbst beschäftigt sein wird und langfristig beschädigt ist. Die unmittelbaren Effekte auf das Schlachtfeld dürften hingegen vernachlässigbar sein, denn die Lage in Russland dauerte kaum lang genug an, um sich auf die Truppen an der Front auszuwirken.
Der wichtigste Faktor für die Ukraine dürfte eher sein, dass sie sieht, was sie mit ihrem Widerstand anrichten kann. Die hartnäckige Verteidigung Bakhmuts (welche unter Militäranalysten in ihrer Sinnhaftigkeit umstritten war) hat zum jetzigen Nervenzusammenbruch beim Gegner fraglos beigetragen. Die Motivation, mit erfolgreichen Gegenoffensiven, psychologischen Operationen und Nadelstichen weiteres Chaos herzustellen, dürfte hoch sein. Der Krieg geht weiter und Russland merkt spätestens jetzt, dass es ihn auch zu spüren kriegen wird.