Massenproteste bedrohen eine Regierung, die seit 13 Jahren ihren Staat vereinnimmt.
23.03.2025
Vučić-System | Korruption | Massenprotest | Zukunft
(16 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Serbien erlebt derzeit die größten Massenproteste seiner Geschichte. Sie folgen auf eine Gebäudekatastrophe und richten sich gegen Korruption – gefährden damit aber auch die Regierung um Präsident Aleksandar Vučić.
- Dieser hat über 13 Jahre und dank starker demokratischer Mandate ein System aufgebaut, welches an der Verfassung und der Gewaltenteilung vorbei viel Macht auf ihn und seine Partei SNS konzentriert. Wahlen sind frei, aber nicht mehr fair.
- Serbien gilt damit als elektorale Autokratie. Außenpolitisch balanciert es zwischen Westen, China und – weniger als viele Beobachter annehmen würden – Russland.
- Die Proteste selbst sind relativ unpolitisch und nicht allzu konkret, doch erreichen damit zumindest ein sehr hohes Mobilisierungspotenzial.
- Die Regierung geht sehr robust gegen sie vor, vermeidet bislang aber eine offene Eskalation.
- Ein Rücktritt von Vučić zeichnet sich derzeit nicht ab, doch sein Apparat hat bereits erste Konzessionen machen müssen. Womöglich destabilisieren die Proteste das “Vučić-System” somit nachhaltig, auch wenn sie es nicht umgehend kippen.
Das Vučić-System_
(6 Minuten Lesezeit)
Viel los in der serbischen Politik
Am vergangenen Mittwoch ist der serbische Premierminister Miloš Vučević, ein Vertreter der Serbischen Fortschrittsspartei (SNS) und die Nummer zwei im Land hinter Präsident Aleksandar Vučić, zurückgetreten. Sein Rücktritt ist eine Reaktion auf eine beispiellose Reihe von Protesten, die in Serbien seit November 2024 so gut wie täglich stattfinden. Es ist die mit Abstand größte Protestbewegung in der Geschichte des Landes, die Teilnehmerschaft wuchs stetig – am 15. März gingen allein in der Hauptstadt Belgrad schätzungsweise über 300.000 Menschen gegen die Regierung auf die Straße. Der Abtritt des Premierministers ist das bislang größte Resultat der Unruhe im Land. Auf den ersten Blick erscheint es wie ein Sieg der Protestler.
Aus der Nähe betrachtet ist das Urteil weniger eindeutig. Erstens ist Präsident Vučić für viele Protestler das wahre Ziel, nicht der Premier, welcher als Erfüllungsgehilfe verstanden wird. Zweitens kam Vučevićs Rücktritt alles andere als überraschend, denn er hatte ihn bereits Ende Januar vor dem Parlament erklärt. Dieses musste dem Gesuch noch zustimmen und zögerte das möglichst lange heraus. Ziel dürfte es gewesen sein, Neuwahlen weiter in die Zukunft zu schieben, damit die SNS sich in der Zeit neu formieren und die Proteste abschwächen kann.
Der Weg zur Befriedung wird jedoch weit. Nicht nur auf den Straßen herrscht eine angespannte Stimmung, auch in der Nationalversammlung selbst kochte die Stimmung bereits über: Anfang März starteten Abgeordnete der Opposition während der regulären Sitzung eine Massenschlägerei, warfen Rauchbomben, Tränengas- und Blendgranaten in Richtung der Regierungsfraktion. Eine SNS-Abgeordnete erlitt dabei einen Schlaganfall.
Ein geläuterter Radikaler
Die Frustration in der Opposition richtet sich gegen deren zunehmende Marginalisierung und die Vereinnahmung des Staates durch die Regierungspartei SNS. Die serbische Verfassung sieht eigentlich eine parlamentarische Republik vor. Trotzdem ist der mächtigste Mann im Land nicht der Premierminister, sondern der Präsident: Aleksandar Vučić.
Vučić war einst ein Ultranationalist, welcher im jungen Alter der rechtsextremen Radikalen Partei beitrat. “Ihr tötet einen Serben und wir werden 100 Muslime töten”, so Vučić kurz nach dem Srebrenica-Massaker 1995. Nur drei Jahre später wurde er vom serbischen Autokraten Slobodan Milošević zum Informationsminister gemacht, als welcher er die Meinungsfreiheit im Land stark reglementierte, etwa mit Verboten gegen ausländische Medien und Geldstrafen für Regierungskritik. Schon knapp ein Jahr später stürzte die Regierung nach der NATO-Intervention im Kosovokrieg.
Nach einigen Jahren abseits der Spitzenpolitik kehrte Vučić “reformiert” zurück. Er schwor öffentlich seinem Ultranationalismus ab und war 2008 einer der Mitgründer der SNS, eine im Stil klar populistische, ideologisch aber nicht eindeutig verortbare Partei (außer tendenziell in der Wirtschaftspolitik, wo sie meist liberale Positionen einnimmt). Ein populärer Antikorruptionswahlkampf brachte der SNS 2012 den Parlamentssieg ein. Vučićs selbst wurde erst Vizepremier, dann 2014 Premierminister und zu guter Letzt 2017 Präsident.
Das Vučić-System
Seit 2017 hat Vučić das bis dato weitgehend zeremonielle Amt des Präsidenten zum wahren Zentrum der Macht im Staat gemacht. Eigentlich sollte er per Verfassung keinerlei legislative Macht besitzen, da sie vollständig bei der Regierung und dem Premier liegen müsste. Tatsächlich hat Vučić aber viele der Kompetenzen des Premiers einfach in sein neues Amt “umgezogen” und ein beachtliches Maß an Macht auf sich selbst konzentriert. Kritiker und einige Politikwissenschaftler nennen das informell das “Vučić-System”.
Das Vučić-System wurde in mehreren Stufen errichtet, so der ehemalige serbische Botschafter Jovan Jovanovic. Zwischen 2012 und 2014 konsolidierte Vučić – damals nur Vizepremier – seinen Einfluss über seine Partei sowie die Sicherheitsdienste, was ihm Informationen und Kompromat über politische Gegner brachte. Er übte Druck auf die Medien aus, um eine vorteilhafte Berichterstattung zu bezwecken. Und er besetzte die Führungsposten zahlreicher Staatsfirmen mit persönlichen Loyalisten, etwa seinen Trauzeugen Nikola Petrovic als CEO des Stromnetzanbieters Elektromreza Srbije.
In den Folgejahren nutzte Vučić seine größere Macht als Premier, um seinen Einfluss weiter zu vertiefen. Im Justizwesen hat er Schlüsselpositionen und alle wichtigen Gerichte mit Loyalisten besetzt, inklusive des Verfassungsgerichts, welches sich seit Jahren kaum noch zu Wort meldet. Im Umgang mit der Exekutive hat Vučić außerdem das Innenministerium umgangen und kommuniziert direkt mit der Polizeiführung – auch die ist ihm loyal und wird regelmäßig gegen Opposition und Proteste eingesetzt.
Seine Partei kontrolliert über verschiedene Teilhaberschaften und Geschäftsbeziehungen alle privaten Fernsehsender sowie den Staatsrundfunk. Diese erwähnten die Proteste gegen die Regierung demnach auch bis zuletzt beinahe überhaupt nicht. Massenmedien machen Wahlkampf für Vučić, während die Opposition, parlamentarisch oder nicht, so gut wie keine Sendezeit bekommt. Hinsichtlich der Pressefreiheit liegt Serbien mittlerweile auf Platz 98 weltweit im Index der NGO Reporter ohne Grenzen.
Das Vučić-System stellt Schritte dahingehend dar, die Strukturen des Staates durch die der eigenen Partei zu ersetzen. Die SNS wurde zum “Staat im Staate” und hat Einfluss weit über jenen hinaus, welcher in einer parlamentarischen Demokratie erwartet werden würde. Sie verwaltet im Grunde ein Klientelsystem, das sowohl den Zugang zum großen Staatsdienst als auch die Verteilung staatlicher Ressourcen in der Privatwirtschaft und im Sozialsystem kontrolliert. In einer GIZ-Umfrage 2018 sagten 92 Prozent der befragten serbischen Arbeitnehmer und 100 Prozent der Arbeitgeber (insgesamt 1.100 Befragte), dass Menschen in Serbien häufig wegen ihrer Parteizugehörigkeit eingestellt würden.
Mit knapp 700.000 Mitgliedern ist die SNS die größte Partei Europas und zählt fast jeden Neunten der knapp 6,6 Millionen Einwohner Serbiens zu ihren Mitgliedern. Zum Vergleich: Die CDU bindet mit 0,4 Prozent nicht nur einen weitaus kleineren Anteil der Deutschen an sich, sie hat selbst in absoluten Zahlen nur die Hälfte der Mitglieder der SNS. Der Präsident hat zwar offiziell keine Führungsposition in der Partei inne, ist aber dennoch ihr unangefochtener Anführer und stellt sicher, dass alle Entscheidungen durch sein Büro gehen. Die Parlamentsfraktion, der die SNS angehört, trägt sogar seinen Namen: “Aleksandar Vučić – Serbien darf nicht aufhören”.
Gut zu wissen: Die Idee, dass eine dominante Partei die staatlichen Strukturen übernehmen sollte, fand und findet sich vornehmlich in sozialistischen Staaten wie der Sowjetunion, China, der DDR oder Kuba. Alles von Politik über Arbeitsmarkt und Wirtschaft bis hin zu Kulturbetrieb und Wissenschaft hängt dort von der Partei (und der Position des Individuums zu ihr) ab. Auch in teilsozialistischen Systemen, etwa vielen arabischen Staaten ab den 1950ern, welche mitunter als “korporatistisch” bezeichnet wurden, geriet die Partei fast synonym zum Staat. Das “Vučić-System” in Serbien stellt in der Sache eine ähnliche Stoßrichtung dar, allerdings nicht im selben Ausmaß und vor allem völlig informell.
Ein starkes Mandat (und fragwürdige Wahlen)
Bei aller Machtkonzentration sind Vučić und seine Partei durchaus beliebt, oder waren es zumindest bis vor Kurzem. Holte die SNS 2012 noch 25 Prozent der Stimmen und musste in einer Koalition regieren, schaffte sie in den fünf Wahlen seitdem fast immer die absolute Mehrheit, zuletzt 2023 mit 48 Prozent Stimmenanteil (welche sich in 52 Prozent der Parlamentssitze übersetzten). Auch Vučić selbst schnitt stets gut ab; bei seiner letzten Wiederwahl 2022 erzielte er 60 Prozent. Unterstützer verweisen dementsprechend auf die starken Ergebnisse, welche Präsident und Partei erzielen. Das gebe ihnen das Mandat, hohe Kontrolle über den Staat auszuüben.
Die Wahlergebnisse werden allerdings mindestens in gewissem Maße durch die flächendeckende Kontrolle des Staatsapparats durch Vučić erklärt. Diese erlaubt es ihm, den demokratischen Prozess zu steuern, ohne ihn direkt manipulieren oder eskalative Gewalt einsetzen zu müssen. Die Wahlen in Serbien sind nach Ansicht heimischer und internationaler Wahlbeobachter durchaus frei, allerdings nicht fair. Eine OSZE-Beobachtermission bei den kombinierten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2022 stellte fest, dass die Grundfreiheiten im Wesentlichen zwar respektiert, das Ergebnis aber trotzdem durch Ungleichheiten in der Wahlkampffinanzierung, den Missbrauch von Staatsressourcen (z.B. direkte Werbung durch öffentliche Verwaltungen), Druck auf Beschäftigte im öffentlichen Sektor und Einfluss über die Medien beeinflusst worden sei.
Gut zu wissen: Laut Reporter ohne Grenzen erhielt Vučić beim Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl 2017 zehn Mal so viel Sprechzeit wie sämtliche anderen Kandidaten kombiniert, auch private Fernseh- und Radiokanäle einbezogen.
Serbien unter Vučić erfüllt damit kaum noch die Kriterien einer echten Demokratie, auch wenn es zugleich nicht mit Autokratien wie Russland gleichzusetzen ist. Im für Politikwissenschaftler tonangebenden Regimes of the World-Schema wird es als “Elektorale Autokratie” geführt. Ernstzunehmende Wahlen finden zwar statt und es existiert politischer Pluralismus, doch die machthabende Regierung besitzt weitreichende Kontrollmacht in sämtliche Staatsfunktionen hinein, hebelt die Gewaltenteilung aus und beeinflusst Wahlen maßgeblich und unredlich zu ihren Gunsten. Prominente Einträge in der Kategorie der elektoralen Autokratien sind Ungarn seit 2019 und Indien seit 2023. Serbien wird vom schwedischen V-DEM-Institut, welches viel Demokratieforschung betreibt, als autoritärer als beide diese Länder eingestuft; andere Institute wie Freedom House stimmen zu.
Korruption und Protest_
(7 Minuten Lesezeit)

Alles über den Präsidenten
In der Bevölkerung wird der Autoritarismus je nach Ansprechperson mit viel Unbehagen oder relativ entspannt betrachtet. Sehr verbreitet ist jedoch das Gefühl der Resignation. Die Wahlbeteiligung ist durchweg sehr niedrig, seit dem Jahr 2000 liegt sie im Schnitt bei etwa 53 Prozent, wenn auch mit Tendenz nach oben. Zum einen mag das an einem gewissen Fatalismus bei Vučić-Gegnern liegen: Die Opposition wird als ineffektiv, das Ergebnis als vorbestimmt empfunden. Zum anderen liegt es wohl auch an der Häufigkeit der Wahlen. Seit 2012 wurde die Nationalversammlung sechs Mal neu gewählt. Und sollte eine erneute Regierungsbildung innerhalb der nächsten 26 Tage misslingen (wir erinnern an den Rücktritt des Premiers, welchen wir eingangs erwähnten), gäbe es die dritten Neuwahlen innerhalb ebenso vieler Jahre.
Die politische Ernüchterung speist sich aber auch in hohem Maße aus der wahrgenommenen Korruption im Land. Vučićs Regierung ist geprägt von Staatsgeschäften, die informell und an demokratischen Strukturen vorbei abgehandelt werden.
Große Deals des Staates, zum Beispiel zur öffentlichen Infrastruktur, werden vor allem durch direkte Vertreter des Präsidenten eingefädelt und überwacht. Eigentlich hat Vučić laut Verfassung keinerlei Befugnisse hinsichtlich öffentlicher Projekte, sie werden aber trotzdem durch die sogenannte “Delivery Unit” des Präsidentenbüros abgewickelt, einer Gruppe von ernannten Beratern (im Stile Großbritanniens, wo sie aber dem Premier untersteht, welcher auch verfassungsgemäß die Regierungsmacht besitzen sollte). Ein solches Großprojekt ist das Kohlekraftwerk Kostolac sowie dessen Bahnanbindung, das durch chinesische Firmen finanziert und realisiert wird. Dabei wurden wohl kilometerlange Schienenwege zertifiziert, die nie gebaut wurden. Auch eine öffentliche Ausschreibung gab es nie. Laut dem internationalen Korruptionsindex steht Serbien auf dem 105. Rang weltweit – zwischen der Dominikanischen Republik und der Ukraine.
Die Vergabe von Projekten an chinesische Firmen, ohne Ausschreibungen oder Vergabeverfahren, zieht sich wie ein roter Faden durch Vučićs Amtszeit. Das unterstreicht auch eine Neuausrichtung in der Außenpolitik: die verstärkte Annäherung an China. Schon jetzt ist China der größte ausländische Investor in Serbien und es gibt ein Freihandelsabkommen zwischen beiden Ländern. Dadurch ist Serbien auch zu einem Hub der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) geworden, Pekings billionenschwerem Außenhandelsprojekt, mit welchem es Infrastrukturprojekte in aller Welt finanziert und politischen Einfluss hebelt. Serbien ist eine zentrale Säule der BRI im ansonsten skeptischen Europa, wie übrigens auch Ungarn.
Der Serbische Seiltänzer
Vučićs Regierung führt schon lange einen Balanceakt zwischen den globalen Mächten aus. Die aktuelle Annäherung an China ist das Nebenprodukt einer Abkühlung der Beziehungen zu Russland, das bis zur Invasion der Ukraine 2022 ein Hauptpartner Serbiens war. Russland bleibt zwar in großen Teilen der serbischen Bevölkerung sehr populär, die Regierung hat sich aber weitgehend von Putin abgewandt. 2023 verurteilte Vučić die russische Invasion und nannte Donbass und Krim ukrainisch. Serbien stimmt seitdem auch kontinuierlich für UN-Resolutionen gegen Russland und lässt tatenlos zu, dass serbische Munition an die Ukraine gelangt. Da Russland aber nun einmal im orthodoxen rechten Lager in Serbien beliebt ist und Vučić auch dieses bespielt (sowie sich als Stabilitätskandidat präsentiert), verweigert er direkte Sanktionen gegen Moskau und pflegt eine insgesamt freundliche Rhetorik gegenüber dem Kreml. Manchmal nimmt dieser Balanceakt eine skurrile Form an: Serbien stimmte der jüngsten UN-Resolution gegen Russland zu (jene, bei welcher Washington erstmals mit Moskau stimmte), nur um danach davon zu sprechen, dass das ein “Versehen” gewesen sei und sich bei Moskau zu entschuldigen. Dieses nahm die Entschuldigung wohlwollend an.
Belgrad schaut heute also weniger nach Moskau und mehr nach Peking, doch die EU ist weiterhin der wichtigste Partner. Rund 62 Prozent der Exporte des Landes gehen nach Europa; 56 Prozent der Importe stammen daher. Deutschland ist in beiden Kategorien der wichtigste Partner. China folgt zumindest bei den Importen auf Nummer 2. Russland spielt in der Handelsbilanz keine außerordentliche Rolle.
Außerdem ist Serbien weiterhin ein EU-Beitrittskandidat – ursprünglich wurde 2025 sogar einmal als mögliches Beitrittsjahr gehandelt. Davon ist das Land jetzt allerdings weit entfernt: aufgrund der hohen Korruption, der uneindeutigen Beziehungen zu Russland und der Erosion der demokratischen Institutionen im Land. Auch die weiterhin offene Frage zur Unabhängigkeit des Kosovo belastet die Beziehungen zur EU. Europäische Organisationen sind in Serbien aber sehr präsent, leisten Bildungs- und Entwicklungsarbeit und sorgen für einen soliden pro-EU-Block in der serbischen Bevölkerung – vor allem bei den Jüngeren. Das schafft für Vučić einen innenpolitischen Anreiz, die Nähe zur EU zu beschwören und auch tatsächlich zu suchen. Im Gegenzug erkennt die EU in Vučić einen berechenbaren, pragmatischen Partner, welcher auf westliche Signale und Anreize reagiert und nicht zu sehr in einen russischen Einflussbereich abgleitet.
Gut zu wissen: Unter Vučić ist der Kosovo Chefsache. Er vertritt zwar weiter die serbische Politik der Nichtanerkennung und sagt auch, dass Serbien einen unabhängigen Kosovo niemals anerkennen werde, lässt sich aber andererseits auf die Vermittlungsversuche der EU ein. Vučić balanciert bisher gekonnt die Forderungen serbischer Nationalisten mit internationalen Erwartungen einer normalisierten Beziehung zu dem Nachbarn. Wie in vielen anderen Themen ist Vučić in der Kosovo-Frage damit kein (erkennbarer) Ideologe, sondern Pragmatiker.

Die Katastrophe in Novi Sad
Es könnten ausgerechnet die jungen Beziehungen zu China sein, welche Vučić zum Verhängnis geraten. Denn es war ein durch China finanziertes Infrastrukturprojekt, die Renovierung des Bahnhofs in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad, das die momentane Protestwelle losgetreten hat.
Am 1. November 2024 stürzte das Betonvordach des Bahnhofs ein und fiel auf die darunterliegenden Bushaltestellen. 16 Menschen starben, wobei ein schwerverletzter Jugendlicher erst gestern und damit vier Monate nach dem Unfall an seinen Verletzungen verstarb. Das eingestürzte Gebäude war allerdings gerade erst weitreichend saniert worden: Über zwei Jahre hatte die serbische Regierung 65 Millionen Euro dafür ausgegeben, finanziert von chinesischen Staatsbetrieben. Der Bahnhof war ein Prestigeprojekt für den damaligen Bürgermeister von Novi Sad, welcher niemand anderes war als Miloš Vučević – der soeben zurückgetretene Premierminister.
Untersuchungen nach dem Unfall ergaben eine unzureichende Bauqualität sowie fehlende Sicherheitsinspektionen. Die Regierung hatte Warnungen hierzu ignoriert und mehrmals verweigert, Rechnungen und Renovierungspläne offenzulegen. Der öffentliche Aufschrei war groß – schließlich war die Stimmung ohnehin bereits aufgeheizt, da das Land erst Ende 2023 eine große Protestwelle nach zwei Amokläufen erlebt hatte.
Der Protest bricht aus
Proteste begannen sofort in Novi Sad und griffen schnell auf das ganze Land über. Die Protestbewegung wurde von Studenten initiiert, doch zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten, von Taxifahrern über Landwirte bis hin zu Militärangehörigen. Nominell ist sie dabei politisch relativ neutral und schart sich vor allem um eine Forderung: weniger Korruption.
Das ist eine intelligente Strategie, denn die Korruptionsbekämpfung mitsamt der Aufarbeitung der Bahnhofskatastrophe ist ein universell unterstütztes Ziel. Ihm kann sich die regierende SNS (die Antikorruption einst zu ihrem Hauptthema gemacht hatte) kommunikativ nicht gänzlich verweigern. Auch die Forderung, existierende Gesetze einzuhalten, ist nicht sonderlich kontrovers. Die Protestbewegung schafft es damit, sich kaum entlang ideologischer Trennlinien angreifbar und spaltbar zu machen und engt den kommunikativen Manövrierraum der Regierung ein. Da die Regierung von vielen Serben mit Korruption in Verbindung gebracht wird, nimmt die Bewegung einen Anti-Vučić-Charakter an – und viele Protestler, wenn auch nicht alle, fordern offen seinen Rücktritt.
Schon jetzt ist es die größte Protestbewegung in Serbiens Geschichte, größer auch als jene beim Fall Miloševićs im Jahr 2000. Beeindruckenderweise laufen die Proteste dabei seit November unentwegt und machen keine Anzeichen, sich abzuschwächen. Es handelt sich um die größte Bedrohung für Vučićs Machterhalt seit 13 Jahren.
Trotz, Repression, Schallkanonen
Die Regierung reagierte zunächst mit Trotz, dann mit Repressalien auf die Proteste. Da der Präsident die Protestbewegung nicht inhaltlich entlang ihrer Forderungen attackieren konnte, versuchte er es mit einer populistischen Ausweitung: Er unterstellte eine Rolle westlicher Agitatoren in Form von Geheimdiensten; es handele sich um eine fabrizierte “Farbrevolution” der europäischen Eliten (bezogen auf eine Reihe friedlicher Regimewechsel in postsowjetischen Ländern ab 2003). Beweise oder weiterführende Argumentation bot er keine. Die kontrollierten Medien spielten die Proteste herunter. Die Behörden ließen öffentliche Verkehrsmittel lahmlegen und die Polizei ging robust gegen Demonstranten vor.
Dabei setzte die Polizei wohl auch experimentelle Waffen wie eine “Schallkanone” ein, welche vermutlich der Grund war, warum bei einer Schweigeminute plötzlich Hunderte Menschen in Panik gerieten. Sie sprachen später von einem stechenden Geräusch und Dutzende klagten noch nach Tagen über Schäden. Erst dementierte die Regierung die Existenz einer solchen Schallwaffe; dann behauptete sie, dass die Waffen zwar existieren, aber unausgepackt in Kisten lägen – bis Fotos von den Protesten sie eindeutig ausgepackt und operabel an Polizeiautos angebracht zeigten. Also wechselte die Regierung auf die Linie, dass die Schallkanonen existieren, montiert und auch vor Ort waren, aber nicht eingesetzt worden seien. Der Einsatz von Schallwaffen ist in Serbien illegal.
Am 15. März wendete sich das Blatt und Vučić versuchte es mit handfesten Konzessionen. Über 300.000 Menschen kamen in Belgrad unter dem Motto „Der 15te für die 15“ zusammen, ein Verweis auf die damals bekannten 15 Todesopfer in Novi Sad. Vučić gab öffentlich zu, dass die Regierung sich ändern müsse. Premier Vučević trat einige Tage später zurück. Gleichzeitig lehnt Vučić aber einen eigenen Rücktritt oder die Bildung einer Übergangsregierung aufs Schärfste ab, man müsse ihn dafür schon “umbringen”. Stattdessen peilt er Neuwahlen am 8. Juni an, von welchen er sich eine Beruhigung der Stimmung und erneute demokratische Legitimierung verspricht – wie immer unterstützt von staatlicher Wahlbeeinflussung
Wie sieht die Zukunft aus?_
(4 Minuten Lesezeit)

Stärken und Schwächen
Ein Rücktritt von Vučić ist unwahrscheinlich. Der Druck gegen ihn ist zwar groß, doch die Ressourcen des Präsidenten und sein Wille zum Machterhalt ebenso. Zudem ist jene Stärke, die den Protesten eine so effektive Mobilisierungsfähigkeit verschafft, auch eine potenzielle Schwäche: Sie bleiben relativ unpolitisch und vage; “Antikorruption” und “Rechtsstaatlichkeit” sind hehre und universell unterstützte Ziele, doch sobald sie sich in konkretere politische Forderungen übersetzen müssen oder an (bzw. gegen) bestimmte Parteien geknüpft werden, könnte der breite Zusammenhalt der Protestbewegung kippen. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch Vučićs Wunsch nach einer Neuwahl zu sehen: Sie könnte eine Politisierung der Proteste erzwingen.
Ein “Werkzeug” in Vučićs Hand wäre die Provokation äußerer Konflikte, um von den Spannungen im Land selbst abzulenken. Das ist nicht ganz abwegig, denn Serbien ist aktiv an den Konflikten im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina beteiligt; sieht sich dort als Schutzmacht der ethnischen Serben. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich: Eine Krise im Ausland würde zugleich neue Probleme schaffen, die EU und NATO auf den Plan rufen und hätte keine Garantie, die Proteste zu befrieden.
Vom Westen scheint Vučić im aktuellen Zustand nicht allzu viel befürchten zu müssen. Die EU hat derzeit andere Prioritäten als die Demokratieförderung im Westbalkan und schätzt Vučić als relativ freundlichen Stabilitätsanker. Sie kritisiert sanft das Vorgehen der Behörden gegen die Proteste, doch ist insgesamt kaum präsent – was mit reichlich Enttäuschung bei den vielen prowestlichen Demonstranten wahrgenommen wird. Die USA haben noch keine offizielle Linie erkennen lassen, doch dürften unter der Trump-Regierung wohlwollend auf Vučić blicken. Indiz dafür ist nicht nur, dass Washington bisher in ganz Europa Rechtsaußenparteien unterstützt hat, von der AfD bis Reform UK: Die Trump-Familie baut in Belgrad derzeit außerdem ein großes Luxushotel, mit Unterstützung der serbischen Regierung, und Trump Jr. kopierte in einem Podcast mit Vučić dessen kommunikative Linie bezüglich der Proteste.
Gut zu wissen: Das Trumpsche Luxushotel in Belgrad soll ausgerechnet an jener Stelle entstehen, wo heute die Ruine des früheren Verteidigungsministeriums steht. Dieses wurde vor 26 Jahren von der NATO unter Führung der USA in Luftschlägen zerstört und die Ruine steht bis heute als Gedenkstätte mitten im Herzen von Belgrad. Kritiker beklagen somit auch die Symbolik, dass das Grundstück nun an einen amerikanischen Immobilieninvestor (und auch noch den Präsidenten selbst) gehen soll.
Gefahren und Chancen
Ohne echte Veränderungen werden sich die Proteste aber auch nicht so leicht befrieden lassen. Schon jetzt haben sie sich wiederholt eskalativen Schritten der Behörden widersetzt und sind lediglich stärker geworden. Auch deshalb fürchten einige Beobachter eine mögliche Eskalation der Gewalt. Die Demonstranten sind bislang landesweit bemerkenswert friedlich geblieben, doch das könnte sich ändern. Vučić könnte eine Eskalation außerdem selbst provozieren, um die Proteste zu diskreditieren und ein noch härteres Vorgehen zu rechtfertigen. Schon jetzt warnte er mehrfach vor gewaltsamen Umsturzplänen der Demonstranten und drohte mit Gegengewalt.
Eine “Belarusisierung” der Proteste ist denkbar: Die Regierung dort saß schwere Massenproteste 2020 einige Monate lang aus, doch als sie nur stärker wurden, setzte sie auf eskalative Gewalt. Das erhöhte die Kosten für die Protestler massiv: Konnten sie vorher relativ unbehelligt an den Demonstrationen teilnehmen, so bedeutete das nun mögliche Gewalt, Verhaftungen und Strafmaßnahmen für Staatsbedienstete und Mitarbeiter von Staatsfirmen. Die Proteste verloren schnell an Zulauf und versandeten binnen weniger Monate. Belarus fand sich in einem neuen, weitaus autoritäreren Gleichgewichtszustand wieder, der bis heute herrscht. Eine ähnliche Eskalationsdynamik könnte die so langlebigen Proteste in Serbien zerbrechen, vor allem, da ihnen – anders als in Belarus – auch noch ein klarer ideologische “Klebstoff” fehlt.
Eine andere Parallele zu Belarus könnte das Verhältnis zu Russland sein. Wie Vučić betrieb auch Alexander Lukaschenko in Minsk einen auffälligen Balanceakt zwischen EU und Russland. Die regimegefährdenden Proteste und die westlichen Sympathien für diese bewegten ihn klar ins russische Lager; es war wohl nur die Intervention Moskaus, die Lukaschenko im Amt stabilisierte. Serbien ist keinesfalls so nah an Russland wie es Belarus vor 2020 war, doch ein Schwenk könnte dennoch einsetzen. Russische Geheimdienstler unterstützen die Regierung jedenfalls offenbar schon jetzt bei der Unterdrückung der Demonstrationen. Die Quelle dazu ist niemand weniger als der serbische Vizepremier, welcher das dankend bei einem Interview mit Russlands Staatssender RIA erklärte.
Die whathappened-Redaktion blickt skeptisch auf die Aussichten auf einen Vučić-Rücktrittund sie zieht Parallelen zu eskalativen Dynamiken anderswo. Für Freunde eines Wandels in Serbien muss das Fazit aber nicht so pessimistisch ausfallen. Serbien hat noch nie Proteste von solcher Qualität erlebt. Neue oder bestehende politische und zivilgesellschaftliche Organisationen könnten Auftrieb erfahren. Bislang subtile Fraktionsstreits innerhalb des Regierungslagers könnten vergrößert werden, vor allem, wenn das Ergebnis bei etwaigen Neuwahlen auffällig schwach wird. Auch wenn der Präsident selbst weiter im Amt bleibt, ist das Vučić-System schon jetzt angeschlagen.
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