Südkoreas Politik gerät zur Farce

Korruption, Kriegsrecht und Präsidenten im Gefängnis.
19.01.2025


Yoon | Südkoreas Pfad | Militärdiktatur | Demokratie
(18 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Südkorea erlebt derzeit seine tiefste politische Krise seit wohl knapp 45 Jahren: Präsident Yoon versuchte im Dezember wohl einen Selbstputsch; seitdem läuft die Aufarbeitung. Mitte Januar wurde er verhaftet.
  • Hintergrund ist die streitbare südkoreanische Politik, in welcher sich Yoons Konservativen und die liberale Opposition gegenseitig scharf angreifen.
  • Dazu kommen häufige Skandale, welche in der Bevölkerung zu Resignation mit der Parteienpolitik führen, und Yoons niedrige Beliebtheit.
  • Das Kriegsrecht ist für Südkorea dabei nichts Neues, sondern wurde bis 1981 regelmäßig ausgerufen und eingesetzt, vor allem gegen Proteste.
  • Südkorea wurde nach der Dekolonialisierung 1945 und dem Koreakrieg 1951-53 autoritär regiert, dann ab 1961 durch eine noch repressivere (aber auch wirtschaftlich erfolgreiche) Militärregierung unter Park Chung-hee.
  • Nach dessen Ermordung 1979 folgte eine politische Krise, welche allerdings auch eine Phase der Demokratisierung anstieß. 1987 gab es erstmals ernstzunehmende demokratische Wahlen.
  • Seitdem ist Südkorea trotz aller Schwierigkeiten stabil demokratisch und die Bevölkerung hoch politisiert – was wohl auch dazu verhalf, Yoons Selbstputschversuch zu stoppen.

Ein unfreiwilliger Abtritt_

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Der amtierende Präsident Südkoreas Yoon Suk-Yeol ist diesen Mittwoch festgenommen worden – das nächste Kapitel im politischen Chaos, das seit Anfang Dezember in Südkorea herrscht. Schon Anfang des Monats hatte das Koreanische Investigativbüro für Korruption erstmals versucht, seinen Haftbefehl gegen Yoon durchzusetzen: Die 80 Polizisten und Ermittler gelangten damals zwar auf das Gelände des sogenannten Blauen Hauses, des Amtssitzes des Präsidenten, wurden dort aber von einer Menschenkette aus rund 200 Soldaten und Yoons persönlichem Sicherheitsteam für mehrere Stunden gestoppt.

Yoon hatte die aktuelle Krise ausgelöst, als er am 3. Dezember überraschend das Kriegsrecht ausrief und die Armee das Parlament blockieren ließ. Das verfeindete Nordkorea habe den Staat infiltriert und destabilisiere ihn nun mittels der Opposition, so Yoons Begründung. Tatsächlich sah das Manöver allerdings stark nach einem Selbstputsch aus, mit welchem Yoon gegen das missliebige Parlament mit dessen Oppositionsmehrheit vorgehen und seine Macht in Anbetracht niedriger Beliebtheitswerte verteidigen wollte. Nach nur sechs Stunden und inmitten von Massenprotesten gelang es dem Parlament jedoch, das Kriegsrecht aufzuheben und Yoon musste öffentlich akzeptieren, dass das Manöver gescheitert war.  

Bis jetzt hatte der Präsident sich wiederholt geweigert, freiwilligen Vorladungen der Ermittlungsbehörde Folge zu leisten. Stattdessen hatte er sich im Präsidentenpalast umringt von seiner persönlichen Leibgarde verschanzt. Am 15. Januar lenkte er also ein und ging freiwillig mit den Ermittlern – jedenfalls nachdem rund 1.000 Polizisten das Gelände belagert hatten und schließlich mit Feuerwehrleitern über den Zaun geklettert waren.

Der Präsident verzockt sich

Dass Yoon dort gut einen Monat nach seinem eklatant gescheiterten Versuch der Machtübernahme ausharren konnte, ist vor allem der extremen Spaltungen in der koreanischen Politik geschuldet. Das Rechtssystem lässt sich nur bedingt als unabhängig und überparteilich bezeichnen. Stattdessen unterstehen verschiedene fragmentierte Sicherheits- und Justizbehörden verschiedenen politischen Ämtern und sind ihnen meist individuell verpflichtet. Der Sicherheitsdienst des Präsidenten zum Beispiel hat nur dessen Verteidigung zum Ziel, darf bei der Ausübung dieser Mission selbst militärische Gewalt anwenden und unabhängig Territorien besetzen. Genau das taten Yoons Bodyguards im Blauen Haus. 

Yoon ist zwar noch Präsident, wurde aber bereits am 14. Dezember von allen Befugnissen des Amtes suspendiert, da ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Noch gibt es keine konkreten Anklagen gegen ihn, er wurde lediglich zur Befragung verhaftet. Die Tatbestände, zu denen er befragt werden soll, reichen jedoch von geheimen Absprachen und Amtsmissbrauch bis zu Hochverrat und Rebellion – er ist der erste amtierende Präsident in Südkorea, dem Hochverrat vorgeworfen wird. Darauf stehen dort lebenslange Haft und sogar die Todesstrafe. Zudem ist Yoon der erste verhaftete amtierende Präsident.

In einer vor seiner Verhaftung aufgenommenen Videobotschaft lehnt Yoon die Ermittlungen gegen ihn als illegal ab. Die Rechtsstaatlichkeit in Südkorea sei kollabiert, die Anti-Korruptionsbehörde habe überhaupt keine Jurisdiktion über ihn und seine Kollaboration sei keine Eingeständnis ihrer Zuständigkeit, sondern lediglich sein Versuch – als guter Präsident – ein Blutvergießen zu vermeiden. Trotz des aus seiner Botschaft sprühenden Kampfgeistes ist seine Verhaftung nun ein Eingeständnis seiner vorläufigen Niederlage. Ein Einspruch seiner Anwälte, wonach seine Festnahme illegal sei, wurde am Donnerstag gerichtlich abgewiesen. Yoon erwartet momentan einen Gerichtsbeschluss zur Verlängerung seiner Haft, die eigentlich nur bis Freitag galt.

Der Kampf um die Stabilität_

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Der Standoff vor den Toren des Präsidentenpalasts. Quelle: VoiceOfSeoul, wikimedia

Yoons Ausnahmezustand Anfang Dezember und seine jetzt erfolgte Verhaftung haben Südkorea in seine wahrscheinlich größte politische Krise der letzten Jahrzehnte gestürzt. Dabei liegt die Latte dort schon sehr hoch: Die südkoreanische Innenpolitik wird seit der Staatsgründung 1948 von Extremen gekennzeichnet, es gab Krieg, Militärdiktaturen, einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung, halsbrecherische kulturelle Liberalisierung und nicht nur zuletzt viel Korruption, Rücktritte und Amtsenthebungen.

Seit Jahrzehnten versucht das Land, etwas politische Stabilität zurückzugewinnen. Die Kandidatur des relativen Politußenseiters Yoon Suk-Yeol wurde anfangs auch als Schritt in diese Richtung präsentiert. Er war zunächst Staatsanwalt, dann Leiter der Korruptionsermittlungen gegen die 2017 des Amtes enthobene Präsidentin Park Geun-Hye, wurde daraufhin zum Generalstaatsanwalt befördert und zwang durch weitere Korruptionsermittlungen den Justizminister Cho Kuk zum Rücktritt, bevor er nach Streitereien mit dessen Nachfolgerin selbst von seinem Amt zurücktrat. Yoon galt vor seinem Amtsantritt 2022 daher als eine rechtschaffene Alternative zur korruptionsgeplagten Politikerelite des Landes; seine Partei versprach eine versöhnende Politik des großen Zeltes.

Gut zu wissen: Als “großes Zelt” (big tent) bezeichnet man eine lagerübergreifende Politik, welche wie ein großes Zelt viele Fraktionen und Interessen in einer Partei oder einer politischen Plattform bündelt.

Von der Hoffnung zum Spalter

Sehr schnell wurde klar, dass Yoons Politik ebenso kontrovers und spaltend sein würde, wie die seiner Rivalen: Er führte einen aggressiven Wahlkampf, in dem er die Militärdiktatur verherrlichte und massiv an die reaktionäre antifeministische Stimmung im Land anknüpfte. Einige Kommentatoren sahen Yoons explizite Selbstpositionierung als Antifeminist sogar als den entscheidenden Faktor seines Wahlsiegs. Als Präsident fuhr er eine ultraliberale Wirtschaftspolitik, die schnell zu Protesten führte, stellte die Entspannungspolitik gegenüber Nordkorea ein, suchte stattdessen mehr Nähe zu den USA und sogar zu Japan, und gebrauchte das Justizsystem um die Opposition zu drangsalieren. Gleichzeitig kam es zu einer ganzen Reihe persönlicher Skandale, vor allem um seine Frau Kim Keon-Hee.  Schon Ende 2022 gab es erstmals Massenproteste, in welchen Yoons Rücktritt gefordert wurde.

Yoons Zustimmungswerte wurden im Laufe seiner Amtsperiode dabei durchweg schlechter. Kurz vor seinem Kriegsrecht-Manöver im Dezember lagen sie bei gerade mal 19 Prozent, eine der schlechtesten Ziffern unter den OECD-Ländern. Der Präsident hatte ein Beliebtheitsproblem und wenig Aussichten, bei der nächsten Wahl 2027 im Amt zu bleiben.

Seine politischen Gegenspieler von der Demokratischen Partei leisteten dazu ihren Beitrag. Durch ihre Mehrheit im Parlament konnten sie die Politik des Präsidenten schon seit dessen Amtsantritt immer wieder blockieren. Gleichzeitig strengte die Opposition mehr als zwanzig Amtsenthebungsverfahren gegen Yoons politische Verbündete an. Vor diesem Hintergrund ist Yoons mutmaßlicher Selbstputsch zu verstehen. Trotzdem kam er für Beobachter im Inland und Ausland extrem überraschend; Yoon hatte anscheinend nicht einmal seine engsten Verbündeten, die USA, über seinen Plan informiert. Zugleich stand der Schritt doch ganz in der politischen Tradition Südkoreas.

Eine Tradition der Krise: Südkoreas Geschichte_

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Oben: Kim Il-Sung und sein Sohn Kim Jong-il; unten: General Douglas MacArthur und Rhee Syng-man. Quelle: flickr, wikimedia

Ein schwieriger Anfang

Das politische System Südkoreas stand von Anfang an auf wackligen Beinen, wie in so vielen Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach langen Perioden der Fremdherrschaft plötzlich unabhängig wurden. In 40 Jahren japanischer Besatzung waren einheimische Regierungsstrukturen größtenteils zerstört worden: Japan machte die Halbinsel 1905 zunächst zum Protektorat; 1910 besetzte und annektierte es sie vollständig, löste die traditionelle Verwaltung auf, unterdrückte die koreanische Sprache und Kultur und setzte eine ausschließlich japanische Regierung ein. Hunderttausende japanische Siedler kamen ins Land. Langfristig war das Ziel eine komplette Zwangsassimilierung Koreas.

Diese Unterdrückung endete mit der Kapitulation Japans im August 1945 abrupt. Obwohl es während des Krieges kaum Gefechte auf koreanischem Boden gegeben hatte, war das Land verarmt. Industrie existierte praktisch nicht und die meisten Koreaner lebten in Subsistenzlandwirtschaft. Die Japaner hatten Halbinsel ganz im Sinne des Kolonialismus verwaltet, mit einem Fokus auf die Extraktion von Rohstoffen und billiger, größtenteils ungebildeter Arbeitskraft. Und noch bevor sich nach Tokios Kapitulation eine erneute koreanische Selbstverwaltung etablieren konnte, wurde die Halbinsel in den beginnenden Kalten Krieg gezogen und zwischen einer US-amerikanischen und einer sowjetischen Einflusszone aufgeteilt.

Gut zu wissen: Die Teilung Koreas wurde sehr überstürzt und beinahe willkürlich beschlossen. Mit dem Eintritt der Sowjetunion in den Pazifikkrieg und dem schnellen Vorrücken ihrer Truppen fürchteten die USA, die Sowjets könnten die ganze Halbinsel besetzen. Zwei junge US-Offiziere unter Zeitdruck und ohne Ortskenntnisse wurden mit der Abgrenzung der amerikanischen Besatzungszone betraut. Nur mit einer Karte aus dem Magazin National Geographic bewaffnet legten sie den 38. Breitengrad als Grenze fest, da er das Land ungefähr zur Hälfte teilte und die Hauptstadt Seoul so in die US-Zone fiel. Die Sowjetunion akzeptierte diese Einteilung sofort, obwohl es dem US-Militär wohl unmöglich gewesen wäre, die Grenze beizeiten zu erreichen.

Auf dieser Grundlage entfaltete sich der Kalte Krieg in Korea. Die Anfangs als temporär geplante Teilung verhärtete sich ähnlich wie in Deutschland. Im Norden wurden zunehmend sozialistische Strukturen geschaffen und Maßnahmen getroffen, darunter eine Landreform, im Süden wuchs die US-Militärpräsenz. 1948 wurden, ebenso wie in Deutschland, zwei unabhängige Staaten ausgerufen. Zunächst im Süden unter dem militanten Antikommunisten Rhee Syng-man, und etwas später im Norden unter dem kommunistischen Partisanenführer Kim Il-Sung. 

Beide Anführer waren ihren Gönnerstaaten eng verbunden. Rhee war zum christlichen Methodismus übergetreten, hatte als politischer Flüchtling lange in den USA gelebt, dort promoviert und war anschließend Vorsitzender der koreanischen Exilregierung in Shanghai geworden; Kim hatte in seiner Jugend in China und Russland gelebt und kämpfte seit den 30er-Jahren von Russland aus gegen die Japaner.

Der Krieg und die Teilung

Der Koreakrieg 1950-53 machte die Teilung permanent. Bestärkt durch den Rückhalt Chinas und der Sowjetunion versuchte Kim, eine Wiedervereinigung zu erzwingen. US-Truppen und deren UN-Verbündete griffen auf Seiten des Südens ein, doch der Norden eroberte zunächst die gesamte Halbinsel bis auf einen kleinen Brückenkopf um Busan. Die inzwischen verstärkten UN-Truppen gingen daraufhin in die Gegenoffensive und drängten ihrerseits den Norden beinahe bis zur chinesischen Grenze zurück; die nordkoreanische Armee wurde größtenteils zerschlagen. China wiederum wollte ein US-dominiertes Korea nicht akzeptieren und griff ebenfalls mit Bodentruppen in den Konflikt ein – chinesische und amerikanische Soldaten bekämpften einander zum ersten und bislang letzten Mal direkt.

Die Frontlinie erstarrte schließlich grob entlang des 38. Breitengrades – aus keinem bestimmten Grund dort – und der offene Schlagabtausch endete im Juli 1953 mit einem Waffenstillstandsabkommen. Rund 4 Millionen Menschen waren im Krieg getötet worden und Korea durch die pendelnde Frontlinie und das massive Luftbombardement großflächig verwüstet. Der Kriegszustand ist bis heute offiziell nicht beendet. Sowohl der Süden als auch der Norden litten nach dem Krieg wirtschaftlich und waren von ihren Gönnerstaaten zutiefst abhängig. Dabei ging es dem Süden lange schlechter: Noch bis in die 1970er lag das BIP pro Kopf hinter jenem des Nordens zurück; die Wachstumsraten Südkoreas fingen erst ab 1965 an, höher zu sein. 

Gut zu wissen:  General Douglas MacArthur, der US-Militärgouverneur Japans und Oberkommandant der UN-Streitkräfte in Korea, verlangte nach der Intervention Chinas und dem schnellen Vorrücken chinesischer Truppen einen Schlag gegen die bis dato von den USA nicht anerkannte Volksrepublik – unter anderem mit dem massiven Einsatz von Atomwaffen. 34 Bomben sollten auf chinesische Städte abgeworfen werden, während eine umfangreiche Seeblockade eine Invasion nationalchinesischer Truppen aus Taiwan decken sollte. Die Truman-Regierung lehnte den Plan ab; MacArthur wurde später aufgrund seiner eskalativen Haltung gegenüber China aus seinen Ämtern entlassen.

Dieses GIF müsste dir den Verlauf des Koreakriegs von Juni 1950 bis Juli 1952 dynamisch zeigen.
Rot: Nordkorea und China; Grün: Südkorea, USA und UN-Truppen. Quelle: Leomonaci98, wikimedia

Eine Armee mit Staat

Die Notwendigkeit, den labilen Status quo zu sichern, bewirkte einen massiven Aufbau des Militärs sowie eine Militarisierung der südkoreanischen Gesellschaft. Die Wehrpflicht wurde 1957 eingeführt, sie gilt für alle Männer bis 31 Jahre und dauert zwischen anderthalb und zwei Jahren. Ausnahmen gibt es kaum, selbst für die größten Idole des K-Pop. Infolgedessen hat Südkorea heute eine der größten Streitkräfte weltweit, mit etwa 500.000 aktiven Soldaten und 3,1 Millionen Reservisten.

Es ist also kein Wunder, dass das Militär in der südkoreanischen Nachkriegsgeschichte eine der stärksten Kräfte in der Gesellschaft war. Die Erste Republik unter Rhee Syng-Man stand und fiel mit dem Militär, auch die zentrale Rolle des Kriegsrechts im Land findet hier seinen Ursprung. Schon 1952, noch während des Krieges, zementierte Rhee seine Position, indem er mehrere Verfassungsänderungen einführte, die die Macht des Präsidenten stärkten und das Parlament schwächten. Um die Änderungen im Parlament verabschiedet zu bekommen, rief Rhee das Kriegsrecht aus und ließ einfach diejenigen Nationalratsmitglieder verhaften, die wohl gegen seine Pläne gestimmt hätten. 

Die Diktatur beginnt


1954 wurde Rhee mit großer Mehrheit wiedergewählt und kontrollierte jetzt auch das Parlament – unmittelbar ließ er einen Verfassungszusatz verabschieden, der die Amtszeitbeschränkung des Präsidenten aufhob. Seine zunehmende Machtaneignung wurde jedoch unpopulär. Dazu kam eine Reihe von suspekten Ereignissen: Bei den Präsidentschaftswahlen 1956 verstarb Rhees größter Rivale plötzlich im Wahlkampf; und bei der Wahl 1960 verstarb ein Gegenkandidat bei einem Herzinfarkt während einer Magen-OP in den USA und ein zweiter wurde von Rhee beschuldigt, Kommunist zu sein, woraufhin er binnen einem Monat zum Tode verurteilt wurde.

Die Bevölkerung begann, am Zufall dieser Ereignisse zu zweifeln und witterte bei den Wahlen 1960 Betrug. Studentenproteste in der Hafenstadt Masan griffen nach dem Tod eines Demonstranten auf Seoul über, wo mehr als 100.000 Studenten vor das Blaue Haus zogen. Die Polizei eröffnete das Feuer und tötete rund 180 Demonstranten. Rhee rief wieder einmal das Kriegsrecht aus, um die Proteste zu unterdrücken – doch bei noch größeren Protesten eine Woche später weigerten sich Polizei und Militär, zu schießen. Der Präsident trat daraufhin zurück und ging ins Exil nach Hawaii.

Dabei spielte auch die große Schutzmacht USA eine wichtige Rolle. Hochrangige US-Vertreter sprachen sich deutlich für eine Demokratisierung Koreas und für Neuwahlen aus; sympathisierten offen mit den Forderungen der Demonstranten. Zudem war ihnen die wachsende Instabilität unter Rhee ein Dorn im Auge, denn Südkorea war ein wichtiger Verbündeter und wurde als Bastion gegen den Kommunismus in Asien empfunden. Washington drohte schlussendlich sogar, die Unterstützung zurückzuziehen, sollte Rhee nicht zurücktreten.

Das Militär an der Macht_

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Park Chung-hees Gesicht, geformt durch die Menge bei einer Militärparade 1973. Quelle: Baek Jong-sik, wikimedia
 

Auf Rhees Rücktritt folgten acht Monate der Unsicherheit, die größtenteils ineffektive Zweite Republik, die parlamentarisch anstatt präsidentiell war – dann übernahm das Militär selbst das Kommando. Unter Führung des Generals Park Chung-hee putschten am 16. Mai 1961 nur etwa 1.500 Soldaten in Seoul. Mit einer feurigen Rede, die versprach, die Ordnung im Land wiederherzustellen, überzeugte Park die Garnison der Hauptstadt, sich ihm anzuschließen. Die zivile Regierung kollabierte und wurde durch eine Militärjunta ersetzt; wieder einmal wurde das Kriegsrecht ausgerufen.

Die USA verhielten sich gegenüber dem Putsch zunächst skeptisch und auch Park erwartete von ihnen keine Unterstützung. Sie akzeptierten die neue Situation aber schnell und übergaben die operative Kontrolle über die militärische Situation in Korea an Parks Junta. Zugleich übten sie Druck auf Park aus und zwangen ihn, Säuberungsaktionen in Regierung und Streitkräften zu beenden. Ihre Reaktion war pragmatisch, gerichtet auf die Stabilität im Land und ein Bekenntnis der Militärregierung zum Kampf gegen den Kommunismus – trotzdem zwangen sie Park dazu, Wahlen abzuhalten, indem sie drohten, andernfalls die dringend benötigte Entwicklungshilfe einzustellen.

Das Wunder am Han

1963 wurde Park offiziell zum Präsidenten der inzwischen Dritten Republik gewählt. Unter ihm blühte die Wirtschaft auf, doch zugleich agierte die Militärregierung immer repressiver und autoritärer. Park versicherte zwar, dass die Demokratie die beste Regierungsform sei, konstatierte aber, dass Südkorea erst dann eine stabile Demokratie werden könne, wenn es zuvor wirtschaftlich stark geworden sei. In seiner Wirtschaftspolitik wurde er wohl auch von Westdeutschland beeinflusst: Inspiriert durch das dortige Wirtschaftswunder richtete Park alles auf den Aufbau einer Exportwirtschaft mit einem Fokus auf die Schwerindustrie. Die Militärregierung baute die Petrochemie, den Schiffsbau und die Stahlindustrie aktiv mit auf – die sehr niedrigen Arbeitskosten im Land halfen dabei enorm.

Mit einem BIP von knapp über 1.000 Dollar war Südkorea 1960 das ärmste Land der Region und pro Kopf ärmer als Haiti, Jemen oder Indien – heute ist es die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Unter der Ägide von Präsident Park, zwischen 1962 und 1979, betrug das jährliche Wirtschaftswachstum im Durchschnitt über 9 Prozent, das stärkste Langzeitwachstum in der modernen Geschichte. Das BIP pro Kopf vervierfachte sich somit unter Park und der Lebensstandard der meisten Koreaner verbesserte sich dramatisch. Auf der anderen Seite stand eine schwache Menschenrechtslage sowie politischer Autoritarismus..

Gut zu wissen: Park setzte sich auch energisch für eine Entspannungspolitik gegenüber Japan ein, dem anderen großen US-Verbündeten in der Region. 1965 wurde sogar ein Normalisierungsvertrag abgeschlossen, der diplomatische Beziehungen und Reparationen an Südkorea etablierte. Mehr zur Geschichte des Verhältnisses zwischen Japan und Südkorea findest du in unserem Explainer “Japan und Südkorea in einer sich verändernden Welt” aus Mai 2023. 

Ein echter Diktator

Die Militärdiktatur war nicht wirtschaftlich recht erfolgreich, sondern auch politisch sehr stabil. Das lag nicht nur an der Armee und der Loyalität der Bevölkerung, welche insgesamt mit Wohlwollen auf Park blickte, sondern auch an der Unterstützung der USA. Unter Park beteiligte sich Südkorea zwischen 1964 und 1973 mit insgesamt rund 350.000 Soldaten am Vietnamkrieg, dafür revanchierten die USA sich mit massiven Hilfszahlungen und Investitionen, die in den Wirtschaftserfolg und somit die politische Stabilität zurück einzahlten.

Diese Stabilität und äußere Sicherheit nutzte Park, um seine Macht weiter zu festigen. 1972 wurde per Volksabstimmung eine neue Verfassung verabschiedet, die Park vollends zum Diktator der nunmehr Vierten Republik machte. Beinahe alle Macht wurde im Präsidentenamt vereint, der Präsident konnte nun unbefristet wiedergewählt werden. Die Medien wurden zunehmend zensiert, Fernseh- und Radiosender in staatseigenen Medienkonglomeraten zusammengeführt und die Opposition konnte immer heftiger bekämpft werden.

Ein Tyrann stirbt

Bei allen Erfolgen führte Parks autokratischer Regierungsstil zu immer mehr Unzufriedenheit womöglich auch, weil die wirtschaftliche Dynamik zu mehr politischem Wirkungsbedürfnis der Südkoreaner geführt hatte. Park gewann bis 1976 sämtliche Wahlen, doch bei den Parlamentswahlen 1978 war plötzlich die Opposition die Siegerin. Zumindest an den Wahlurnen, denn da ein Drittel aller Parlamentssitze durch den Präsident ernannt werden durften, behielt Parks Demokratisch-Republikanische Partei ihre Mehrheit. Das führte zu Studentenprotesten, die schnell anwuchsen und Park zum erneuten Ausrufen des Kriegsrechts veranlasste. Er ließ mehr als 1.000 Demonstranten verhaften und oftmals nach Kriegsrecht aburteilen. Die Armee wurde gegen die Proteste mobilisiert. Bevor die Situation weiter ausarten konnte, wurde Park allerdings am 26. Oktober von seinem Geheimdienstchef beim Abendessen erschossen. Bis heute wird die Tat kontrovers diskutiert, das Motiv ist unklar, da der Täter Kim Jae-gyu postwendend hingerichtet wurde.

Nach den Ereignissen von 1978/79 wurde wieder einmal der Ausnahmezustand ausgerufen, der bis 1981 anhielt. Das Militär blieb an der Macht, allerdings kämpften intern verschiedene Gruppen um die Vorherrschaft. Wieder einmal kam es zu einem Putsch, der General Chun Do-hwan setzte am 17. Mai 1980 eine neue Junta ein. Schon am Tag darauf kam es zu neuen Massenprotesten, dem sogenannten Gwangju-Aufstand, die erneut unter dem Kriegsrecht brutal unterdrückt wurden; schätzungsweise starben rund 600 Demonstranten.

Die Demokratie kommt auf_

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Protest gegen die Militärdiktatur in Gwangjun, 1987. Quelle: National Museum of Contemporary Korean History, wikimedia

General Chun gewann zwar unangefochten die Präsidentschaftswahl 1980, der Gwangju-Aufstand zementierte aber eine Bewegung für Demokratie im Land, die sich nicht auslöschen ließ. Im Februar 1981 wurde das Kriegsrecht aufgehoben und eine neue Verfassung der nunmehr Fünften Republik verabschiedet, die weniger autoritär als die der Vierten auskam, aber immer noch sehr viel Macht für den Präsidenten vorbehielt. Sie beschränkte Chun allerdings auf eine einzige, siebenjährige Legislaturperiode.

Mit Ablauf der sieben Jahre kam es 1987 wieder zu einer Protestwelle, da die Bevölkerung fürchtete, Chun könne sich der Verfassung widersetzen. Der Demokratieaktivist Park Jong-chul wurde bei einer dieser Demonstrationen festgenommen und starb später aufgrund von Folter durch die Polizei. Beim darauffolgenden Protest starb ein weiterer Demonstrant durch Polizeigewalt. Die Proteste eskalierten und Chun gab der Forderung nach direkten Wahlen nach, auch da das Militär kurz vor den Olympischen Spielen in Seoul 1988 keinen Skandal verursachen wollte.

Die letzte Republik

Im Dezember 1987 gewann Roh Tae-wu die ersten demokratischen Wahlen in Südkorea in über zwanzig Jahren. Obwohl Roh selbst auch General war, endete die Militärdiktatur mit einer neuen Verfassung, die in die bis heute andauernde Sechste Republik führte. 1981 blieb damit das letzte Mal, dass das Kriegsrecht ausgerufen wurde – bis zum vergangenen Dezember.

Die sechste Republik ist für südkoreanische Verhältnisse relativ liberal und sehr stabil. In ihr vollzog sich der Wandel des Landes zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt; die “Korean Wave” mit einer weltweiten Popularität koreanischer Filme, Serien und Musik; sowie eine erstmalige vorsichtige Annäherung an den Feind im Norden. Es bildete sich ein recht solides Zweiparteiensystem heraus, mit Konservativen auf der einen und Liberalen auf der anderen Seite, unter immer wieder wechselnden Namen. Die zwei relevanten Parteien heute sind die konservative People Power Party (PPP) und die liberale Democratic Party (DP). Beides sind Sammelparteien, die verschiedene ideologische Strömungen vereinen, von moderaten bis hin zu populistischeren und radikaleren Kräften. Nur linke Kräfte gibt es in beiden Lagern kaum.

Seit 1988 gibt es außerdem eine direkte Zusammenarbeit zwischen den zwei Koreas. Die Beziehung ist zwar weiterhin oft angespannt und antagonistisch, vor allem hinsichtlich Nordkoreas Atomprogramm, es gab jedoch auch echte Durchbrüche. Anfang der 90er-Jahre sendete der Süden dem Norden wirtschaftliche Unterstützung in der Krise; 1998 kam es zum ersten Treffen der Staatschefs beider Länder unter der sogenannten „Sonnenscheinpolitik“. Zugleich ist das Verhältnis bis heute von Wellen an Tauwetter und Eiszeit geprägt: Die Sonnenscheinpolitik wurde 2010 bis 2018 wieder ausgesetzt; 2018/19 wurde die Beziehung der Koreas kurz wieder wärmer, als US-Präsident Donald Trump sich mit Kim Jong-un in Singapur und Hanoi traf. Danach wurde es wieder finsterer um die Zusammenarbeit, und spätestens seit der Wahl des nationalkonservativen Yoon Suk-yeol 2022 fror die Beziehung gänzlich ein. Anfang 2024 erklärte Kim, dass eine Wiedervereinigung nicht mehr möglich sei. Ob Trump seine Mission der Verständigung wiederaufnehmen wird, bleibt abzuwarten.

Gut zu wissen: Das Wirtschaftswachstum Südkoreas geht bis heute immer weiter – das Land konnte also die sogenannte „Middle Income Trap“ vermeiden. Dieser Effekt erfasst oft schnell wachsende Volkswirtschaften, die sich auf Industrie und Export stützen: Mit den Lebensstandards steigen die Arbeitskosten, sodass Exporte weniger kompetitiv werden und das Wachstum schlussendlich stagniert. Südkorea hat das durch eine zeitige Transition von der Schwerindustrie zur Hochtechnologie vermieden, angetrieben durch eine clevere Wirtschaftspolitik und die große Macht der Chaebol genannten Industriekonglomerate wie etwa Samsung.

Park Geun-hye. Quelle: Korea.net / Korean Culture and Information Service, wikimedia

Auf Instabilität folgt Ernüchterung

Trotz ihrer relativen Stabilität ist die sechste Republik weiterhin gezeichnet von politischen Skandalen; die Amtsenthebung Yoons ist davon nur einer. Südkoreas erster Präsident Roh wurde 1996 für Verbrechen während der Militärdiktatur sowie wegen Korruption (er hatte über 650 Millionen USD gestohlen) zu 22,5 Jahren Haft verurteilt.

Der wohl größte Skandal bis zu Yoons kürzlichem Abenteuer war aber der um Ex-Präsidentin Park Geun-hye: Die Tochter des Diktators Park war von 2013 bis 2017 Präsidentin, bevor sie des Amtes enthoben und wegen Korruption und anderer Verbrechen zu rund 24 Jahren Haft verurteilt wurde. Sie hatte der befreundeten Unternehmerin und mutmaßlichen traditionellen Schamanin Choi Soon-sil Zugang zu Staatsgeheimnissen und lukrativen Aufträgen verschafft. Choi wurde in ihrem Einfluss auf Park und deren Politik von Medien gar mit dem  russischen Mönch Rasputin verglichen.

Seit ungefähr 2016 herrscht in weiten Teilen der Gesellschaft darum eine allgemeine Ernüchterung über das politische System. Die politische Elite war scheinbar permanent in Skandale verwickelt; Massenproteste wurden zur Regelmäßigkeit. Gleichzeitig blockieren sich die verfeindeten Parteien gegenseitig und rücken die Skandale des jeweils anderen in den Blick der Öffentlichkeit. Seit 2023 verbringen die zwei großen Parteien die meiste Zeit damit, sich gegenseitig zu bekämpfen und verschieben Reformen. So strengte Yoon zum Beispiel Ermittlungen gegen den Vorsitzenden der Demokratischen Partei an, unter anderem wegen angeblicher illegaler Zahlungen nach Nordkorea.

Wahnsinn, aber logisch

Während all dessen steckt Südkorea in einer sozialen Krise. Das Land hat mittlerweile die niedrigste Geburtenrate der Welt – auch dafür machte Yoon den Feminismus im Land verantwortlich –, die Löhne stagnieren und die Lebenshaltungskosten steigen rasant. In der nahen Zukunft könnte diese Situation zu einer Stagnation wie der in Japan führen. In Zufriedenheitsrankings schneidet Südkorea meist schlecht ab, etwa auf Platz 31 von 38 aller OECD-Länder im World Happiness Report, und bei der Suizidrate ist es auf Platz 12 aller Länder in der globalen Spitzenklasse dabei (Japan: Platz 49).

Yoons Ausnahmezustand muss daher auch vor diesem Licht betrachtet werden. Er steht im Kontext einer eskalierenden Pattsituation mit der Opposition der Demokratischen Partei im Parlament, einer Vielzahl von Korruptionsverfahren und Skandale auf allen Seiten, einer Eiszeit im Verhältnis mit Nordkorea und einer demographischen und kulturellen Krise. Das Kriegsrecht, welches in Südkoreas Geschichte zumindest bis 1981 mehr Regel als Ausnahme war, folgt damit einer gewissen Logik.

Der Skandal um Yoon zeigt, wie fragil die Demokratie dort noch immer ist. Er zeigt aber paradoxerweise zugleich, wie wehrhaft sie ist: Als Yoon am 3. Dezember den ersten Ausnahmezustand seit der Militärdiktatur ausrief, zog das Militär zwar mit, die Koreaner ließen sich aber nicht mehr einschüchtern. Tausende Videos zeigten, wie Bürger sich resolut gegen die Armee stellten, sie selbst daran hinderten, das Parlament zu stürmen und Abgeordnete festzunehmen. Schlussendlich ist Yoons versuchter Staatsstreich an nichts anderem gescheitert als dem demokratischen Selbstbewusstsein der Koreaner. Nach 25 Jahren konsolidierter Demokratie hat sich das Blatt gewendet und das bisherige Allheilmittel der Macht, der Ausnahmezustand, funktioniert nicht mehr.

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