Nach 13 Jahren Krieg ist die Ära Assad zu Ende. Der Weg voraus ist riskant.
08.12.2024
Ursprünge | Der Krieg | Internationalisierung | Eskalation | Ausblick
(20 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Baschar al-Assad hat Syrien verlassen; Damaskus ist unter Kontrolle der Rebellen. Das Militär scheint den Kampf einzustellen.
- Damit endet der bald 14-jährige syrische Bürgerkrieg mit einem Sieg für die Opposition.
- Sie besteht neben dem Kurdengebiet Rojava aus einem losen Bündnis von Anti-Assad-Gruppen, heute dominiert von der aus Islamistengruppen hervorgegangenen HTS.
- Der Bürgerkrieg war im Zuge des “Arabischen Frühlings” 2011 ausgebrochen. Nach anfänglichen Erfolgen der Rebellen konsolidierte sich die Assad-Regierung bis 2020.
- Dazu verhalf die Intervention Russlands und Irans zugunsten Assads. Auf der anderen Seite unterstützten die USA die Kurden und kleinere Gruppen; und die Türkei besetzte in drei Invasionen Teile Nordsyriens.
- Im November 2024 starteten die HTS und protürkische Milizen einen Großangriff gegen die Assad-Regierung. Vor allem die derzeitige Schwäche Irans, Russlands und der Hisbollah dürften sie motiviert haben.
- Die Offensive war bemerkenswert erfolgreich: Binnen 1,5 Wochen eroberte sie weite Teile des Landes; am Wochenende zerfiel die Regierung gänzlich. Assad floh Sonntagfrüh aus der Hauptstadt.
- Die Türkei geht als zentrale Kraft hervor, doch was genau die Machtverhältnisse im neuen Syrien sein werden, ist noch schwer zu sagen – und auch, wie stabil es sein wird.
Die Ära Assad ist zu Ende. Baschar al-Assad ist nach 24 Jahren autoritärer Herrschaft aus Syrien geflohen, wie erst meist gut informierte Oppositionsgruppen verlautbarten, doch inzwischen auch die Armeeführung bekanntgegeben hat. Syrische Rebellengruppen waren kurz zuvor – oder war es kurz danach? – in die Hauptstadt Damaskus einmarschiert. Der Syrische Bürgerkrieg lief 13 Jahre lang und verbrachte die letzten vier davon weitestgehend eingefroren. Als er wieder anlief, dauerte es nur anderthalb Wochen, bis die Regierung zerfiel.
Wie es in Syrien weitergeht, ist schwierig vorherzusagen. Hier ein Blick darauf, wie es so weit kommen konnte.
Die Ursprünge_
(4,5 Minuten Lesezeit)
Der Arabische Frühling
Als sich im Dezember 2010 der tunesische Straßenverkäufer Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid selbst verbrannte, im Frust über und als Protest gegen die Schikanen einer hochgradig korrupten Polizei, löste das einen Flächenbrand aus. Der “Arabische Frühling” veränderte das Antlitz des Nahen Ostens und Nordafrikas. In Tunesien führte er zu (unlängst reversiertem) demokratischem Wandel, in Bahrain zu einer ausländischen Militärintervention und in Ägypten zu einer Revolution, welche in einem Militärputsch mündete. Fast jedes Land der Region war in der einen oder anderen Form erfasst. Die heftigsten Auswirkungen hatte der “Frühling” in Syrien: Aus Massenprotesten erwuchs ein Bürgerkrieg, welcher noch 13 Jahre später anhält.
Syriens Bürgerkrieg ist nicht per se einzigartig, denn auch in Libyen, im Jemen und im Irak brachen schwere bewaffnete Konflikte aus. Auch die Ursprünge ähneln jenen anderer Schauplätze des Arabischen Frühlings. Wie anderswo ging es in Syrien um eine langlebige und zutiefst unbeliebte autoritäre Regierung, die mit dem geballten Unmut einer jungen, abgehängten Generation – bewaffnet mit Social Media und der Aufmerksamkeit der Welt – konfrontiert wurde.
Der Gentleman
Syriens Machthaber war schon damals Baschar al-Assad, genauer seit dem Jahr 2000. Wie andere Autokraten in der Region war die Absicherung des Regimes seine oberste Priorität. Für Eindruck sorgte bei ihm vor allem die Absetzung Saddam Husseins im benachbarten Irak durch eine westliche “Koalition der Willigen” im Jahr 2003 (sowie dessen Hinrichtung drei Jahre später). Assad und Hussein einte vieles: Beide waren Diktatoren aus einer religiösen Minderheit, welche Regierung und Armee monopolisiert hatten und sogar derselben Bewegung angehörten: dem Ba’athismus.
Gut zu wissen: Die Ba’ath-Partei (“Arabische Sozialistische Partei der Erneuerung”) war einst eine der stärksten politischen Kräfte in der arabischen Welt. Sie verband in den 1940er Jahren den aufstrebenden Panarabismus – die Idee, dass die Araber in einem gemeinsamen Staat vereinigt werden sollten – mit einem säkularen Nationalismus und einem arabischen Sozialismus. Das setzte dem traditionell islamischen Selbstverständnis der meisten Araber eine starke und moderne Alternative entgegen, welche die Ba’ath-Ideologie mit bestehenden Regierungen kollidieren ließ.
Wie Saddam Hussein pflegte auch Assad lange ein ambivalentes Verhältnis zum Westen, doch der syrische Präsident musste ab 2003 erkennen, wie schnell aus einem Zweckbündnispartner ein Feind werden konnte. Er setzte auf zwei Mittel, um sein Regime gegen den Westen abzusichern: Erstens, eine Charmeoffensive. Zweitens, Islamismus.
Was zurückblickend unwahrscheinlich wirken mag, ist, dass Assad vor 2011 in den westlichen Hauptstädten und auch bei den Medien außerordentlich beliebt war – allermindestens für einen nahöstlichen Autokraten. Er gab sich im Westen als eleganter, gar progressiver Herrscher, sprach oft in perfektem Englisch und ließ die Medien in sein Privatleben blicken. Seine Frau Asma, in Großbritannien geboren, war ein medialer Liebling. Noch im Februar 2011, als die Sicherheitskräfte in Syrien bereits robust gegen erste Proteste vorgingen, widmete die Vogue Asma ein Feature und bezeichnete sie als Fashion-Ikone und ihre Familie als “wahnsinnig demokratisch” (der Artikel ist schon seit 2012 online nicht mehr auffindbar). Selbstverständlich steckte hinter der Selbstdarstellung Strategie: Assad beauftragte etwa die britische PR-Firma Bell Pottinger und die amerikanische Lobbyingfirma Brown Lloyd James, um sein Bild in Europa und Nordamerika zu pflegen.
Den Islamisten helfen
Die zweite große Säule war die Instrumentalisierung des Islamismus. Der Islamismus und islamistisch motivierter Terrorismus waren seit 2001 große Schreckgespenster im Westen. Assad präsentierte sich als starke Hand, welche islamistische Strömungen im eigenen Land eindämmen könne. Das stand im scharfen Kontrast zur Lage im benachbarten Irak, wo spätestens seit 2006 ein Bürgerkrieg unter Teilnahme sunnitischer und schiitischer Gruppen herrschte. Bei westlichen Beobachtern schuf das den Eindruck eines religiösen Konflikts, welcher in den globalen Terrorismus einwirken könnte. Vor diesem Hintergrund wurde selbst die Entmachtung Saddam Husseins immer öfter als Fehler gesehen. Syrien wirkte daneben wie eine Bastion der Stabilität.
Assad hatte an der Entstehung dieser Situation aktiv mitgearbeitet. Sein Regime unterstützte sunnitische Islamisten strategisch und logistisch, vor allem die al-Qaeda im Irak, solange sie nicht in Syrien selbst aktiv wurden. Sein Geheimdienst schickte sunnitische Kämpfer über den Grenzübergang Deir az-Zor direkt in den Irak, ließ sie in Syrien in Flüchtlingslagern und Gefängnissen rekrutieren, und unterstützte sogar ihr Training. Nach außen das Bollwerk gegen den Islamismus in Syrien, sorgte Assad in Wirklichkeit dafür, dass islamistische Gruppen im Ausland umso stärker werden konnten. Auch im Libanon baute Assad das sporadische, taktische Bündnis mit der schiitischen Hisbollah zu einer ausgewachsenen strategischen Allianz aus. Syrien wurde seit 2005 neben dem Iran zum Hauptversorger der Hisbollah mit Waffen und Munition und erlaubte es der Miliz, auf syrischem Territorium zu operieren. Seit 2011 unterstützt die Hisbollah ihn dann auch direkt im Kampf um die Macht in Syrien, sein Investment zahlte sich also aus.
Das Massaker von Hama
In seiner Instrumentalisierung des Islamismus‘ konnte Baschar sich auf die Erfahrungen seines Vaters stützen: Schon Hafez al-Assad, Syriens Machthaber von 1970 bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 2000, hatte sich öffentlichkeitswirksam als Brandmauer gegen den Islamismus positioniert. 1976 begab sich die Muslimbruderschaft, eine große sunnitische Bewegung, in den offenen Aufstand gegen die säkulare ba’athistische Regierung. Hafez ging mit äußerster Brutalität gegen den Aufstand vor – die bloße Mitgliedschaft in der Bruderschaft wurde 1980 unter die Todesstrafe gesetzt, hunderte Zivilisten wurden verhaftet, gefoltert und getötet. Als sich die Muslimbrüder 1982 in ihre Hochburg Hama zurückzogen, ließ Hafez die viertgrößte Stadt Syriens abriegeln und drei Wochen lang unter Artilleriebeschuss nehmen. Ein Großteil des historischen Zentrums der Sunniten wurde zerstört und Zehntausende Menschen wurden getötet.
Auf den Aufstand folgte ein Klima der Angst, welches gepaart mit einem effektiven Sicherheitsapparat dafür sorgte, dass es in Syrien in den 30 Jahren bis zum Arabischen Frühling keine signifikanten Proteste mehr gab. Die internationale Reaktion auf das Massaker von Hama fiel spärlich aus, wohl vor allem, weil es Assad gelang, kaum Informationen darüber außer Landes zu lassen. Allein die Sowjetunion engagierte sich und unterstützte die Regierung in der Niederschlagung des Aufstands.
Der Syrische Bürgerkrieg beginnt_
(3 Minuten Lesezeit)
Der Krieg beginnt
Als im März 2011 die Proteste in Syrien zu Massenprotesten erwuchsen, wandte Baschar an, was er unter seinem Vater gelernt hatte. Er ließ die Sicherheitskräfte robust und alsbald brutal gegen die Demonstrationen vorgehen. Zunächst nur den Geheimdienst, ab April dann auch die reguläre Syrische Armee – und zwar mit scharfer Munition. Dabei versuchte er auch, einen wahrgenommenen Fehler in Tunesien und Ägypten zu vermeiden, wo die Präsidenten zögerlich auf die Proteste reagiert und schnell die Kontrolle verloren hatten. Assad unterschätzte die Dynamik der Proteste allerdings und eskalierte sie in einen Bürgerkrieg.
Die syrische Opposition war eine Querfront gegen die Assad-Regierung, keine vereinigte Bewegung. Sie bestand zu Beginn des Krieges aus verschiedensten Gruppen mit weit auseinandergehenden Ideologien, Zielen und Unterstützern. Grob lässt sich die Opposition im syrischen Bürgerkrieg bis heute in drei Kategorien einteilen: lokale Gruppen, die oft Minderheiten vertreten, die säkulare politische Opposition und islamistische Gruppen. In der ersten Phase des Krieges zogen sie zunächst größtenteils an einem Strang gegen die verhasste Assad-Regierung. Später bekriegten sie einander, koexistierten unruhig oder waren lose politisch verbunden, aber militärisch separiert.
Der Aufstieg der Islamisten
Zunächst wurde der Bürgerkrieg vor allem von desertierten Einheiten der Syrischen Armee vorangetragen – bis Mitte 2012 verlor die Truppe rund 60.000 Soldaten durch Fahnenflucht. Die große Mehrheit der Deserteure schloss sich unter dem Banner der Freien Syrischen Armee (FSA) zusammen, die bis Mitte 2013 überraschende Erfolge erzielte. Sie eroberte weite Teile des Landes, vorrangig im Norden und Osten. Assad schien angezählt. Doch der FSA gelang es nicht, in den eroberten Gebieten auch eine zivile Ordnung aufzubauen. Islamische und islamistische Gruppen füllten das Machtvakuum – viele von ihnen, nicht zuletzt die Muslimbruderschaft, hatten schon vor dem Krieg starke soziale und zivile Strukturen aufgebaut, die sie nun zur Versorgung der Bevölkerung in den befreiten Gebieten einsetzen konnten. Allein durch diesen Prozess wurde der Charakter der syrischen Opposition zunehmend “islamischer”, was auch mit Unruhe im Westen wahrgenommen wurde.
Assad bemühte sich, die Opposition durch die strategische Stärkung islamistischer Kräfte zu unterminieren. Schon im Mai 2011 erließ er eine Generalamnestie für politische Gefangene, scheinbar als Zugeständnis an die Protestbewegung. Tatsächlich wurde diese Amnestie aber sehr selektiv angewandt: Während politische Feinde und Oppositionspolitiker in Gefangenschaft blieben, entließ Assads Geheimdienst zahlreiche Islamisten und Jihadis. Der syrische Geheimdienst unterstützte mutmaßlich gar die entlassenen Kämpfer beim Aufbau von Kampfeinheiten. Der Plan ging auf; die Opposition radikalisierte sich.
Der Islamische Staat
Ab 2013 ging der Bürgerkrieg in eine neue Phase über, definiert durch eine neue, weltweit gefürchtete Fraktion: Da’esh, den sogenannten Islamischen Staat. Der IS war etwa 2004 als Splittergruppe der al-Qaeda im Irak entstanden und überquerte 2011 in den ersten Wirren des Bürgerkrieges die Grenze nach Syrien. Auch viele der von Assad freigelassenen Jihadisten schlossen sich der Organisation an.
Der Höhenflug des IS begann 2013, als er mit der Eroberung von namhaftem Territorium begann. Im Folgejahr überrannte er handstreichartig die Großstadt Mossul im Irak und Raqqa in Syrien – letzteres bis dahin von der syrischen Opposition kontrolliert. Raqqa wurde zur Hauptstadt des wenig später ausgerufenen Kalifats. Auf seinem Höhepunkt 2015 kontrollierte der IS rund 30 Prozent Syriens und 40 Prozent des Iraks als “Staatsgebiet”.
Der Angriff durch den IS war für Assad ein Geschenk. Die Gruppe attackierte zwar die syrische Armee, doch die Opposition ebenso. Sie lenkte die internationale Aufmerksamkeit von Assad ab und ließ ihn im Vergleich sogar wieder wie eine Option für Stabilität im Nahen Osten wirken. Die zunehmend von Islamisten dominierte syrische Opposition wirkte für eine vom IS “verbrannte” Weltöffentlichkeit dagegen immer weniger tragbar. Zu guter Letzt führte der IS direkt in die Internationalisierung des Bürgerkriegs, welche Assad half.
Der Krieg wird international_
(6 Minuten Lesezeit)
Syrien ist das Paradebeispiel für einen internationalisierten Bürgerkrieg. Je nachdem, wie man zählt, gibt es in Syrien heute vier oder fünf ausländische Präsenzen. Russland und Iran aufseiten der Assad-Regierung und die Türkei sowie die USA (mit deutlich divergenten Interessen) gegen selbige. Dazu kommt Israel, welches weder eine offizielle Präsenz noch Bodentruppen im Land besitzt, die Situation aber penibel aus der Luft überwacht und regelmäßig Angriffe gegen die Hisbollah sowie iranische Militärinfrastruktur im Land durchführt. Der Syrische Bürgerkrieg ist also längst kein rein syrischer Bürgerkrieg mehr.
Die USA
Angespornt durch die Gefahr des IS eskalierten die USA und ihre NATO-Verbündeten als erstes die internationale Intervention in Syrien. Sie begannen im September 2014 intensive Luftangriffe gegen Da’esh in Syrien und im Irak. Die Gruppe konnte dem wenig entgegensetzen. Als 2015 auch Spezialeinheiten der US-Streitkräfte zu operieren begannen, brach Da’esh schnell zusammen. Bis 2017 fiel Mossul zurück an die irakische Zentralregierung und in Syrien nahm die Kurdische Syrische Demokratische Armee (SDA) die IS-Hauptstadt Raqqa ein.
Die USA operierten vor allem gegen Da’esh, aber auch gegen Assad. Direkte Schläge waren selten, etwa als die Trump-Regierung 2017 als Bestrafung für einen Giftgasangriff eine syrische Luftbasis bombardierte. Stattdessen arbeiteten die USA eng mit den kurdischen Selbstverteidigungsstreitkräften zusammen, allen voran der SDA. Als Resultat konnte sich in den von den USA befreiten Gebieten in Nordost-Syrien eine kurdische Autonomieverwaltung etablieren, die de facto unabhängig bis heute die Teile Syriens östlich des Euphrat beherrscht. Die USA unterhalten dort Militärstützpunkte und sichern dadurch die Stabilität der sogenannten “Autonomen Administration von Nord- und Ost-Syrien”, die auch als Rojava (zu Deutsch Westkurdistan) bekannt ist. Die Regierung Rojavas ist nicht unumstritten, doch gilt den meisten Beobachtern heute als demokratischstes, rechtsstaatlichstes und liberalstes Gebiet in Syrien.
Gut zu wissen: Bei der Schlacht von Khasham griffen syrische Soldaten und russische Wagner-Söldner Stellungen der USA und der Kurden nahe der Großstadt Deir ez-Zor an. Es dürfte sich um den ersten bewaffneten Konflikt mit Todesfolge zwischen amerikanischen und (irregulären) russischen Truppen seit zumindest dem Ende des Kalten Krieges gehandelt haben. Von den rund 40 amerikanischen Soldaten wurde keiner verletzt oder getötet; russische Quellen sprechen von 80-100 getöteten und 200 verletzten Russen.
Darüber hinaus unterstützten die USA die Freie Syrische Armee (FSA). Nach ihren anfänglichen Erfolgen wurde sie alsbald von Assads Armee zurückgedrängt. Mithilfe der USA sicherte die FSA, inzwischen zur Revolutionären Kommandoarmee umbenannt, einen Landstrich rund um die Militärbasis al-Tanf, direkt am wichtigen Damaskus-Bagdad-Highway gelegen. Bis heute wird diese Basis von US-Soldaten kontrolliert, ungeachtet von Angriffen durch den IS, die Syrische Armee und sogar Russland im Verlaufe der Jahre.
Die Türkei
Die Errichtung eines de facto unabhängigen kurdischen Staates im Zuge des Bürgerkriegs rief die Türkei auf den Plan. Ankara führt seit den 80er Jahren aktiv Krieg gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung im eigenen Land; diese wird durch die PKK angeführt, welche in der Türkei und der EU als Terrororganisation eingestuft wird. Ein kurdischer Staat an der türkischen Grenze versprach, nicht nur die kurdischen Kämpfer in der Türkei zu beflügeln, sondern ihnen auch wichtige logistische und militärische Unterstützung zu leisten. Da Rojava einen langen und unwegsamen Grenzstreifen zur Türkei kontrollierte, konnte diese das Eindringen kurdischer Kräfte nicht verhindern.
Gleichzeitig ist der Strom syrischer Geflüchteter in der Türkei ein großes Thema. Mehr als 3,5 Millionen vertriebene Syrer leben dort mittlerweile, das ist über die Hälfte aller syrischen Flüchtlinge im Ausland. Der Flüchtlingsstrom ist für die Türkei eine große Belastung, sowohl ökonomisch als auch gesellschaftlich und politisch. Daher ist eine Kontrolle der Grenze für sie von höchster Wichtigkeit.
Zwischen August 2016 und März 2017 starteten türkische Truppen eine erste von drei Invasionen. Sie übernahmen gemeinsam mit verbündeten Elementen der syrischen Opposition in der Operation “Schutzschild Euphrat” die Kontrolle über die von den Kurden gehaltene Grenzregion westlich des Euphrat. 2018 eroberten die Türkei und verbündete Milizen die Region Afrin im äußersten Nordwesten; 2019 einen weiteren Grenzstreifen östlich des Euphrat.
Heute kontrolliert die Türkei große Teile Nordsyriens in einer Besatzung, welche sich als völkerrechtswidriger Angriffskrieg werten ließe. Weil sie dabei aber auf die Unterstützung von Teilen der syrischen Opposition angewiesen ist, wurde die türkische Besatzungszone auch zum Rückzugsort für die Opposition. Der war nötig, denn parallel zu den US-amerikanischen Operationen gegen den IS schalteten sich auch der Iran und Russland ein – auf Seiten Assads.
Iran und Russland
Für Moskau und Teheran ist das Überleben der Assad-Regierung von hoher strategischer Bedeutung. Beide sind seit langem eng mit Assad verbündet und gebrauchen dieses Bündnis als Quelle ihres Einflusses in der Region. Im Bürgerkrieg stellten sie sich hinter den Präsidenten und bekämpften die Oppositionsgruppen, völlig egal ob säkular, Islamisten oder Kurden.
Die Ziele des Iran sind dabei etwas praktischer als die Russlands: Irans größter Machtfaktor in der Region ist die Hisbollah im Libanon, welche es in hohem Maße kontrolliert. Syrien ist das geografische Bindeglied zwischen Iran, den proiranischen Milizen im Irak und der Hisbollah. Zudem hat sich Assad als langjähriger Unterstützer der schiitischen Miliz bewiesen. Auch Syriens Nachbarschaft zum verfeindeten Israel ist für Teheran nützlich, um Jerusalem zu umkreisen. Und zu guter Letzt baut es mit seinem Einfluss auf Damaskus seine Regionalmachtambitionen gegenüber Saudi-Arabien und der Türkei aus. Also beauftragte Iran die Hisbollah damit, Assad aktiv zu unterstützen und hilft dem Regime materiell, diplomatisch sowie durch das Entsenden eigener Revolutionsgardisten.
Russland unterstützte Assad vornehmlich durch die eigene Luftwaffe. Lufthoheit ist im modernen Krieg unbezahlbar, im Kampf gegen irreguläre Truppen allerdings schwierig zu erzielen. Seit September 2015 führten russische Flugzeuge über 45.000 Einsätze durch, auf dem Höhepunkt der Mission im November 2015 waren es rund 140 am Tag. Dabei kamen schätzungsweise 20.000 Menschen ums leben. Russland behauptete zwar, seine Präsenz in Syrien sei genau wie die des Westens gegen den IS gerichtet, aber 80 Prozent seiner Luftschläge trafen Oppositionsgruppen.
Tatsächlich war Russland schon lange vor dem Bürgerkrieg in Syrien präsent. Bereits die Sowjetunion bemühte sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges um Einfluss im Nahen Osten. Der kühlte mit der Zeit zwar ab, doch die russische und syrische Skepsis gegenüber den USA rückte beide in den 2000ern wieder aneinander. Syrien bot Moskau Zugang zu einer Luftbasis in Latakia und einer Marinebasis in Tartus, beide am Mittelmeer gelegen; Russland half Damaskus mit Rüstungsgütern.
Der Ausbruch des Bürgerkriegs versetzte Russland dann auch in Alarmbereitschaft. Wladimir Putin nahm wohl persönlich die Sache Assads auf, nachdem ihn die Tötung von Libyens Machthaber Muammar Gaddafi, eines weiteren langjährigen Freundes Russlands, tief verstört hatte. Also brachte Russland seine Luftwaffe, die Militärpolizei, Ausbilder, die eng mit dem Verteidigungsministerium verbandelte Söldnergruppe Wagner und viel schweres Gerät wie Antiluftsysteme und Artillerie – alles, was für die Zerstörung der Opposition und die Sicherung zurückeroberter Gebiete vonnöten war. Es war kein reiner (strategischer) Altruismus: Russland nutzte den Konflikt auch, um seine Waffensysteme, Taktiken und Offiziere zu testen, auch mit Hinblick auf den Krieg mit der Ukraine.
Assads Comeback und der Waffenstillstand
Dank der Unterstützung Russlands waren die Rebellen bis 2020 so gut wie besiegt. Assad hatte sich weitestgehend konsolidiert und kontrollierte erneut große Teile des Landes. Die Kurden im Nordosten wurden durch ihre gute Organisation und die Hilfe der USA gesichert und im Nordwesten verhinderte die Türkei die vollständige Niederlage der Oppositionskräfte.
Die Konstellation der Parteien führte dabei zu unangenehmen Momenten: Assad und Russland drängten die Oppositionskräfte im Norden bis in einen kleinen Kessel rund um die Stadt Idlib zusammen. Dort waren allerdings auch türkische Truppen stationiert. Das Resultat waren rund 60 tote türkische Soldaten bei einem syrischen Großangriff im März 2020. Also schlug die Türkei zurück. Das drohte, die NATO-Macht Türkei mit Russland in direkte militärische Konfrontation zu führen. Die Präsidenten Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan trafen sich und handelten binnen nur sechs Stunden eine Waffenruhe aus – zu groß war der Anreiz, eine Eskalation zu vermeiden.
Eskalation_
(3 Minute Lesezeit)
Der Waffenstillstand hielt bis vor anderthalb Wochen, den 27. November 2024. Die Fronten waren bis dahin weitestgehend stabil geblieben: Assad kontrollierte etwa 60 Prozent Syriens, das kurdische Rojava 30 Prozent und die Türkei und ihre syrischen Verbündeten den Rest (dazu hielten die USA besagte Militärbasis im Süden und Israel besetzt seit fast 60 Jahren die Golanhöhen). Das war vor allem für Assad eine gute Nachricht: Er wirkte unüberwindbar und wurde wieder auf dem internationalen Parkett angenommen. Die Arabische Liga empfing ihn 2023 zum ersten Mal seit zehn Jahren; der Westen erwog, mit ihm zu sprechen. Ein sanfter Tourismus ins Land lief wieder an. Und der Schmuggel mit Waffen und der Droge Captagon (Fenetyllin) brachte Umsätze in die Staatskasse.
Die November-Offensive
Umso überraschender kam die erneute Eskalation des Konfliktes in den letzten zwei Wochen und der überraschend schnelle Vormarsch der totgeglaubten syrischen Opposition. Wie bereits eingangs erwähnt, ist Assad inzwischen aus dem Land geflohen. Die Hauptstadt Damaskus ist an Rebellen gefallen.
Eine kurze Chronologie der anderthalb Wochen: Erst brachen die Oppositionstruppen aus der Region Idlib aus und eroberten in rasender Schnelle die Metropole Aleppo – wirtschaftlich, kulturell und historisch hoch bedeutsam. Regierungstruppen wurden aufgerieben oder zogen sich zurück. Die Rebellen rückten weiter gen Süden vor und eroberten nach fünf Tagen Gefecht die viertgrößte Stadt Hama. Umgehend zogen sie weiter nach Homs, welches Damaskus mit der Mittelmeerküste und Russlands Militärbasen in Latakia und Tartus verbindet.
Gleichzeitig eröffneten sich im Süden neue Fronten. Die ehemalige Freie Syrische Armee (FSA) strömte aus dem Gebiet um die US-Basis al-Tanf aus, durchquerte die Wüste zur historisch wichtigen Stadt Palmyra und marschierte dann auf Damaskus vor. Noch weiter südlich verbanden sich lokale bewaffnete Oppositionsgruppen sowie Stämme der Drusen zum “Southern Operations Room” (SOR). Sie übernahmen erst Daraa – symbolisch bedeutsam, da dort 2011 die Massenproteste gegen Assad begonnen hatten – dann große Teile des Südens. Im Anschluss marschierten sie ebenfalls auf Damaskus, wo sie etwa zeitgleich zur FSA einrückten.
Viel Erfahrung (und ein bisschen Türkei)
Wie kann es sein, dass die Rebellen jetzt so viel schneller und erfolgreicher vorankommen als in 13 Jahren Bürgerkrieg? Erstens sind die Oppositionsgruppen diesmal besser vorbereitet. 2011 entstand ihr Aufstand spontan und wurde anfangs von desertierten Soldaten Assads getragen; Organisation, Bewaffnung und Taktik mussten ebenfalls spontan aufgestellt werden. Nach 13 Jahren Krieg sind die Strukturen der Rebellen erprobt und die Kämpfer erfahren. Dabei bekamen sie entscheidende Unterstützung durch die Türkei.
Der Vorstoß wurde von zwei Gruppen angeführt, bevor sich FSA und SOR im Süden anschlossen: Der Syrischen Nationalen Armee (SNA) und dem Bündnis Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), das “Komitee zur Befreiung der Levante”. Beide werden von der Türkei unterstützt, ihre Kämpfer sogar in der Türkei ausgebildet. Die SNA ist ein Zusammenschluss verbleibender Gruppierungen der säkularen Opposition. Sie ist im Wesentlichen eine Stellvertretermiliz der Türkei und an diese weitgehend weisungsgebunden. HTS dagegen ist eine Allianz verschiedener islamistischer Milizen, die unabhängiger agieren als die SNA. Sie ist ganz auf den Kampf gegen Assad gerichtet, während die SNA sich auch auf den Kampf gegen die Kurden richtet.
Der andere Faktor ist, dass Assad weitaus schwächer dastand, als es den Anschein machte. Nicht unähnlich zu Afghanistan war die syrische Armee auf dem Papier stärker als in der Realität, wo grassierende Korruption und mangelnde Motivation den ersten intensiven Feindkontakt zur Loyalitätsprobe machten. Noch dramatischer war die fehlende Unterstützung durch die Verbündeten: Die Hisbollah ist durch Israel dezimiert und konzentriert sich auf die Heimatverteidigung; Iran ist ebenfalls mit sich selbst und Israel beschäftigt und die Kapazitäten in Syrien wurden durch den jüdischen Staat zerrüttet. Und Russland ist durch den Ukrainekrieg zu sehr abgelenkt und kann immer weniger Artilleriemunition, Bomben oder Raketen entbehren. Die Rebellen verstanden, dass der Moment für einen Schlag günstig war. Womöglich rechneten sie selbst nicht damit, dass er dermaßen final ausfallen würde.
Wie es weiter geht_
(3 Minuten Lesezeit)
Kein Assad mehr
Die islamistische Ausrichtung der HTS sorgt dabei für reichlich Skepsis im Ausland. Sie ist eine Nachfolgeorganisation der gesichert terroristischen al-Nusrah-Front, dem einstweiligen Arm der al-Qaeda in Syrien. Von den USA wird sie seit 2018 als Terrororganisation eingestuft. In den letzten Jahren hat sich die Gruppe aber gemäßigt. Sie operiert in der Region Idlib in de facto staatlicher Funktion und erlaubt dort weitgehende Freiheiten, darunter sogar das Demonstrationsrecht. Ihr Anführer Abu Muhammad al-Jolani gibt sich betont moderat, selbst progressiv, und verurteilt die Einstufung der HTS als islamistisch. Westliche Reporter erleben die von der HTS befreiten Städte als ruhig und angstfrei; das öffentliche Leben geht dort normal weiter. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die moderate Ausrichtung nur eine vorübergehende Taktik ist.
Auch lässt sich nicht ausschließen, dass die Fraktionen gegeneinander vorgehen werden. Schon jetzt kommt es zu kleineren Gefechten zwischen der protürkischen SNA und dem kurdischen Rojava. Die SNA ließ verlauten, die Kurden aus dem Gebiet Manbij weit im Norden vertreiben zu wollen – inwieweit sie dieses Ziel im Moment aktiv verfolgt, ist unklar. Auch in den kurdisch gehaltenen Dörfern im Norden von Aleppo stieg die Spannung zunächst, und Rojava verlegte Berichten zufolge Verstärkungen in die westlichen Gebiete. Trotzdem ist es bis jetzt außer einer Handvoll kleinerer Scharmützel nicht zu einem offenen Ausbruch von Gewalt zwischen Kurden und SNA gekommen. Womöglich ändert sich das, nun da der Kampf gegen Assad abgeschlossen ist.
Ein Grund zur Freude?
Das Ende des Kapitels Assad wird von vielen Syrern und Arabern bejubelt. Womöglich stellt es für die syrischen Flüchtlinge in aller Welt eine Gelegenheit zur Rückkehr dar. Auch für die meisten westlichen Beobachter dürfte die Flucht des Autokraten, welcher gravierende Menschenrechtsverletzungen und wohl Hunderttausende Tote zu verantworten hat, erst einmal zu begrüßen sein. Ob die neue Lage für Syrien tatsächlich eine Verbesserung darstellen wird, wird sich jedoch erst in den kommenden Monaten zeigen. In Libyen führte das Ende Gaddafis – ebenfalls militärisch herbeigeführt – zu einem schweren Bürgerkrieg und einer Entzweiteilung des Landes.
Insbesondere die Rolle der HTS und der nun dominierenden Türkei werden über Syriens nahe Zukunft entscheiden. Wichtig ist auch die Frage, wie die verschiedenen Rebellenfraktionen innerhalb der nicht-kurdischen Opposition miteinander umgehen werden. Positiv ist, dass sich die Rebellenfraktionen bereits 2017 zu einer Gegenregierung namens Syrian Salvation Government (SSG) zusammengeschlossen hatten, was zumindest etwas mehr Chance auf eine funktionierende Zusammenarbeit bietet, wenn auch längst keine Garantie. Weiterhin positiv ist es für das Land, dass die Zahl der ausländischen Kräfte abgenommen hat: Iran und vor allem Russland werden tendenziell kein Faktor mehr sein.
Syrien, insofern es als persönliches Königreich von Baschar al-Assad und militärisches Testlabor Russlands verstanden wird, ist zerfallen. Die Gefahr ist real, dass das neue Syrien direkt im nächsten Bürgerkrieg versinkt. Nach 13 Jahren Krieg verdient es allerdings eindeutig eine Alternative.
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