TikTok: Gefahr oder Schreckgespenst?


Für manche die Welt, für andere ein trojanisches Pferd.

26.01.2025

Wie TikTok funktioniert | ByteDance | Nationale Sicherheit
(15 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • TikTok ist heute eine der beliebtesten Social-Media-Apps der Welt und nach durchschnittlicher Verweildauer sogar die Nummer 1.
  • Dazu verhilft ein hocheffektiver Algorithmus, welcher Nutzern Content ausspielt. Zudem war TikTok der erste große Player im Format der vertikalen Kurzvideos und legt bisher einen ausgesprochenen Fokus auf das Nutzererlebnis an den Tag.
  • TikTok ist eine Tochterfirma von ByteDance, einem chinesischen Techkonzern, welcher inzwischen einen KI-Fokus aufweist.
  • Unklarheiten über ByteDances Nähe zur Regierung in Peking – und TikToks operativer Verwicklung mit ByteDance – wecken Sorgen bei Regierungen und Geheimdiensten weltweit. Fragwürdige Elemente finden sich in der Eigentumsstruktur und in früheren Aussagen des Gründers.
  • Dazu kommen Sorgen über die Datensicherheit, über die Effekte auf die mentale Gesundheit der Nutzer und über Desinformation sowie politische Einflussnahme.
  • Entsprechend ist TikTok in einigen Ländern bereits (quasi) verboten und noch mehr Länder erwägen solche Schritte.
  • Die Firma beteuert derweil ihre Unabhängigkeit von China und versucht, europäisch-amerikanische Sorgen mit großen Anpassungen in der Datenverarbeitung zu zerstreuen.
  • Ob ByteDance allerdings daran vorbeikommt, TikTok in den USA zu verkaufen, ist derzeit nicht klar: Auch die neue US-Regierung macht dahingehend Druck.

Wie (und warum) TikTok funktioniert_ 

(6,5 Minuten Lesezeit)

Am 19. Januar 2025 schien die Social-Media-App TikTok in den USA vor dem Aus zu stehen. Eine gesetzliche Frist war verstrichen, binnen derer der chinesische Eigentümer ByteDance die App an einen amerikanischen Käufer hätte verkaufen müssen. Der Supreme Court lehnte einen Einspruch ab und TikTok schaltete sich für US-Nutzer tatsächlich ab. Die Ära TikTok schien in einem ihrer wichtigsten Märkte zu Ende, nur einige Jahre, nachdem sie ernsthaft begonnen hatte – wäre da nicht die Amtseinführung eines neuen Präsidenten gewesen.
 
Das Verbot hielt nur 12 Stunden, bevor Präsident Donald Trump es per Dekret bis auf Weiteres aussetzte. Weitere 75 Tage lang dürfe ein amerikanischer Käufer gefunden werden; Trump deutete außerdem an, dass seine Regierung beteiligt sein sollte. Hatte Trump noch 2020 versucht, TikTok per Dekret zu verbieten, so erklärte er nun, eine “Schwäche” für die App entwickelt zu haben, welcher er im Wahlkampf 2024 erstmals beigetreten war. Er hat dort mittlerweile 15 Millionen Abonnenten.

An TikToks amerikanischen Nutzern, nach eigenen Angaben rund 170 Millionen an der Zahl, ging die Episode nicht schmerzlos vorbei. Die App hatte sich für sie zeitweise inaktiv geschaltet und eine Sperrnachricht verwies auf das Gesetz, aber auch auf Bestrebungen, das Verbot rückgängig zu machen. Die Reaktionen unter den Nutzern waren hochgradig emotional und reichten ins Skurrile: Professionelle Influencer beklagten, dass ihr Lebensunterhalt einbreche und hielten emotionale Abschiede bis hin zu symbolischen “Beerdigungen” ab; reguläre Nutzer, darunter viele Teenager, fürchteten, dass sie nun von der Welt abgeschottet würden, ihre einzige Nachrichtenquelle verlören und praktisch von ihrer Wahlfamilie getrennt würden. Einige griffen auf Verschwörungstheorien zurück, etwa, dass die US-Regierung den Zugang zu unparteiischen Nachrichten blockieren wolle; mindestens ein Kongressabgeordneter wurde Ziel einer Attacke durch einen wütenden Teenager. Trumps Dekret war für sie die Rettung.

Diese Botschaft schockte am Montag Millionen US-Amerikaner. Quelle: Wikimedia.

Too Big to Ban

Es ist wohl die schiere Popularität der App, die TikTok heute und in der Vergangenheit vor dem Verbot bewahrt hat. Der Kongress blickt seit Jahren mit viel Skepsis auf die chinesische App, doch je schneller sie wuchs, umso vorsichtiger wurde er mit einem schnellen Verbot oder einer Devestitionaufforderung gegen ByteDance (also, dass dieses TikTok abtrennen müsse). Erst Anfang 2024 rang der Kongress sich zu beidem durch, mit Stichtag Mitte Januar 2025. Trump sah dann womöglich aufgrund TikToks hoher Beliebtheit einen politischen Anreiz, die Plattform zu retten. Doch warum ist TikTok dermaßen erfolgreich? Wie konnte es nahezu “Too Big to Ban” werden?

Gut zu wissen: TikTok setzt seine Beliebtheit strategisch ein. Als der Kongress über Sanktionen diskutierte, mobilisierte TikTok seine stark aktivierbare Nutzerbasis dagegen. Als das Verbot in Kraft trat, hätte TikTok seinen Dienst gar nicht unbedingt für Bestandsnutzer abschalten müssen; die App-Stores hätten die App einfach nur nicht mehr zum Download oder für Updates verfügbar machen dürfen (was sie langfristig de-facto nutzlos gemacht hätte). TikTok übererfüllte die Bestimmungen, und zwar vermutlich, um seine Nutzer dazu zu bewegen, Druck zu machen.

Tatsächlich ist die Nutzerbindung der App ziemlich einzigartig. Unter allen Social-Media-Plattformen hat sie die längste durchschnittliche Bildschirmzeit; der Durchschnittsuser verbringt über eine Stunde am Tag in der App (womit das Verbot für viele Nutzer eben auch einen signifikanten Teil ihres Alltags betraf). TikToks Anziehungskraft besteht nicht allein aus den Inhalten – kurze Videos, die User selbst hochladen – sondern vor allem auch aus der Art und Weise, auf die diese an den Nutzer gebracht werden. TikToks Feed ist dank eines hauseigenen KI-Algorithmus vollständig auf jeden Nutzer zugeschnitten. Tritt ein neuer Nutzer der Plattform bei, wird ihm ein individuelles Nutzerprofil zugewiesen, das kontinuierlich individuelle Daten über Interaktionen mit den Inhalten der App sammelt und so mit der Zeit immer besser zugeschnittene Inhalte liefert. Das ist nicht per se anders als bei Angeboten wie YouTube, Netflix oder Instagram, doch TikToks Algorithmus funktioniert so schnell und genau (und wird durch das aktive Abfragen von Nutzerfeedback komplementiert), dass Nutzer ihn nicht selten als Gedankenlesen erfahren. Gepaart mit einem intuitiven, einladenden User-Interface entwickelt TikTok einen starken Sog.

Ein deutliches Profil

TikTok besitzt dabei ein sehr klares Profil: Kurzer, extrem niedrigschwelliger Videocontent, welcher vor allem auf Entertainment abzielt, auch wenn die Politik schnell ebenfalls Einzug fand. Befragt man Nutzer in den USA, wird Facebook eher als alterndes Adressbuch empfunden, Instagram als Fotoalbum und Kontakt zu Freunden, X als (mitunter toxische) Quelle für Nachrichten sowie Meinungen und YouTube als längeres Format für Entertainment- und Lerninhalte. TikTok nimmt für viele Nutzer die Rolle als wichtigste Entertainment-App ein, welche aber auch schnell in andere Bereiche ausstrahlt: Hobbyideen, Nachrichten, politische Meinungsbildung und vieles mehr. Damit fühlt es sich für Nutzer schnell wie der zentrale Marktplatz für den Umgang mit der Welt an – obwohl sie selbst nur bedingte Kontrolle darüber haben, was sie zu Gesicht bekommen.
 
Mit ihrem Fokus auf niedrigschwellige Unterhaltung wurde die App vor allem während der Lockdowns sehr erfolgreich. Nutzer konnten Stunden ihrer unverhofften Freizeit auf TikTok verbringen. Gleichzeitig sorgte der soziale Aspekt der Inhalte – mitsamt Kommentarspalten, stets wechselnder Memes und sehr nutzerfreundlicher Wege, um mit Content-Schöpfern in Kontakt zu treten – für ein Gefühl der Gemeinschaft in Zeiten der sozialen Distanz. Von 315 Millionen Downloads Anfang 2020 sprang TikTok auf 2,6 Milliarden im Dezember. Keine andere Plattform wuchs schneller. Stand 2025 wurde TikTok 4,92 Milliarden Mal downgeloadet.

Die neue Generation der Sozialen Medien

TikTok ist inzwischen eine der größten Social-Media-Plattformen der Welt. Und während die USA in den letzten Wochen die Debatte über die App dominiert haben, so ist sie eben doch ausdrücklich global. TikTok hatte 2024 im Schnitt 1,6 Milliarden aktive Nutzer in aller Welt, so die Analyseplattform Soax, was es zur fünftgrößten App der Welt macht. Und während TikTok weiterhin kräftig wächst, bewegen sich die Nutzerzahlen älterer Social-Media-Plattformen eher seitwärts oder nur sanft aufwärts. 

Dabei fallen die “Älteren” nach Ansicht einiger Beobachter immer mehr einer sogenannten “Enshittification zum Opfer. Das ist ein etwas salopp gemeinter Name für den empfundenen Prozess der Qualitätsminderung auf Online-Plattformen. Nachdem diese anfangs ihre Nutzer und deren Erlebnis priorisieren, verschieben sie ihren Fokus mit einiger Zeit auf Werbetreibende und andere kommerzielle Nutzer. Zuletzt gehen sie dazu über, möglichst viel Wert (sprich, Profit) für sich selbst zu erobern. Die Erfahrung für Endnutzer und auch für Geschäftskunden leidet zunehmend, die Plattform verliert an Zulauf und stirbt allmählich.

Der Qualitätsverlust der Social-Media-Plattformen ist in hohem Maße eine subjektive Frage, doch anekdotisch sind Klagen über Facebook, Instagram oder X keine Seltenheit. Nicht kontrovers ist außerdem, dass bezahlte Posts, Werbung, Posts mit kommerzieller Absicht sowie nicht-reale Nutzer (Bots) auf vielen Plattformen stärker vordringen und “realen” Nutzercontent verdrängen. Künstliche Intelligenz trägt dazu noch bei, da sie die massenhafte Verbreitung von original wirkendem Content oder real wirkende, hochaktive Bots ermöglicht. Selbst Meta-CEO Mark Zuckerberg wurde bereits durch KI-generierte Posts verwirrt.

Der wahrgenommene oder reale Qualitätsverlust ist für Plattformen relevant, da sie von Netzwerkeffekten leben. Eine Social-Media-Plattform ist nur nützlich, wenn sie groß genug ist, um mit ausreichend Content befüllt zu werden – egal, ob der “Content” nun Kurzvideos oder die Präsenz von Nutzerprofilen ist. Stellt sich eine Dynamik ein, in welcher Nutzer eine Plattform in Scharen verlassen oder eine neue Generation sie nicht mehr nutzt, das Netzwerk also an Stärke verliert, kann ein selbstverstärkender Teufelskreis einsetzen. MySpace und StudiVZ existieren aus diesem Grund nicht mehr.

Gut zu wissen: “Entshittifcation” ist praktisch das Social-Media-Pendant zur Disziplin der Makrogeschichtswissenschaft. Ein Versuch, große und wiederkehrende Langfristdynamiken im Lebenszyklus von Social-Media-Plattformen zu beschreiben.

Produkt gut, alles gut

TikTok hingegen kann seine Nutzer offensichtlich weiter hinreichend einbinden, um organisches Wachstum beizubehalten. Es gibt dort zwar auch viel Werbung, aber der Unterhaltungswert leidet darunter anscheinend kaum. Die Promotionsstruktur der App lässt weiterhin auch nicht beworbene Posts große Reichweite erlangen; der Anteil originaler nutzergenerierter Inhalte bleibt dadurch hoch. Zudem profitiert die App davon, dass sie die erste war, welche den Fokus auf vertikal scrollbare Kurzvideos legte. Konkurrenten wie Instagram (Reels) und YouTube (Shorts) waren Nachzügler. Viel TikTok-Content fand (und findet bis heute) seinen Weg auf die Plattformen, was die chinesische App wie das Original und näher am Zahn der Zeit wirken lässt.
 
Das allein hält TikTok für professionelle Content Creators und Influencer verlässlich interessantAußerdem bietet die App ihnen recht machtvolle Editingmöglichkeiten, die die Eintrittshürden für technisch weniger begabte Content Creators senken, und viele Möglichkeiten zur “Cross-Content-Interaction”, also etwa “Stitches”, bei denen ein Video über ein vorheriges Video gelegt wird. TikToks starker Fokus auf Nischencontent schafft zudem Anreize für viel Inhaltsdiversität. Und TikTok bezahlt Creators direkt aus einem Creator Fund. TikTok ist bei (Semi-)Professionellen mittlerweile so populär, dass Konkurrent Meta ihnen zuletzt 5.000 USD bot; nicht einmal, um sie abzuwerben, sondern nur damit sie auch auf Facebook und Instagram posten.
 
Der unbestreitbare Erfolg hinter TikTok hängt dabei auch mit seiner Struktur zusammen. Die App entstammt dem chinesischen Techkonzern ByteDance, welcher früher vor allem ein Pionier der KI-Entwicklung war.

ByteDance zwischen Pioniergeist und Politik_ 

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Zhang Yiming auf dem Cover des Magazins CEO, chinesische Edition, 2021. Quelle: wikimedia
 

Bytedance gibt es bereits seit 2012, vier Jahre bevor die Firma TikTok veröffentlichte. Gegründet wurde sie von Zhang Yiming, einem chinesischen Softwareentwickler, der heute mit einem Vermögen von rund 45 Milliarden USD zu den reichsten Menschen der Welt gehört. Zhang hatte kurz für Microsoft gearbeitet, fühlte sich im Corporate-Umfeld des Softwaregiganten aber nicht wohl und gründete nach Stationen bei einigen Startups seinen eigenen Giganten.

Gut zu wissen: Heute hat ByteDance einen ungefähren Marktwert von beachtlichen 300 Milliarden USD. Da es in manchen Rankings als Startup gelistet wird (der Begriff besitzt keine exakte Definition), gilt ByteDance mitunter als wertvollstes Startup der Welt. Wäre es ein börsennotiertes Unternehmen, so wäre es unter den 35 wertvollsten der Welt.

ByteDances Werdegang

ByteDance war die Reaktion auf eine Lücke im Markt, welche Zhang erkannt hatte: Nachrichtenwebsites waren nicht für Smartphones optimiert, die gerade in China dominant wurden, und der Suchmaschinenriese Baidu – das einheimische Pendant zu Google – verfälschte Suchergebnisse mit undeklarierten Werbeanzeigen. Zhang veröffentlichte Toutiao, einen Nachrichtenaggregator, der seinen Nutzern mithilfe von KI personalisierte Nachrichteninhalte lieferte.

Der Erfolg von Toutiao war beachtlich, aber limitiert – rund 13 Millionen Nutzer fand die spezialisierte App bis 2014. Sehr erfolgreich hingegen wurde ByteDances erste Social Media-Plattform Neihan Duanzi, zu Deutsch “Tiefgehende Witze”. Die App voller Memes und Insiderwitze wurde ab 2012 extrem populär und trat eine wahre Massenbewegung in China los, mit bis zu 200 Millionen Nutzern. Sie war vor allem bei weniger gebildeten Gruppen beliebt. 2018 wurde die Plattform verboten, offiziell wegen vulgärer Inhalte, doch das Verbot war Teil einer zunehmenden Maßregelung von Online-Inhalten in China.

Der Fokus aufs Smartphone, auf individuell sowie algorithmisch kuratierte Inhalte und auf das Gefühl von Gemeinschaft ist im Prinzip auch die Idee von TikTok – oder Douyin, wie es in China heißt. Douyin entstand bereits 2016, ein Jahr später folgte TikTok als internationale Version. 2018 kaufte ByteDance das ebenfalls chinesische Musical.ly für 1 Milliarde USD auf, eine Kurzvideoapp, die vor allem auf jene Lipsyncing- und Tanzvideos fokussiert war, für welche TikTok berühmt werden sollte. Mit der Verschmelzung mit Musical.ly ging das “moderne” TikTok hervor und der Erfolg nahm seinen Lauf. TikTok traf schnell auf das Interesse internationaler Investoren und zählt heute prominente Wagniskapitalgeber wie Sequoia und SoftBank zu seinen Anteilseignern.

Unterhaltungsfirma oder KI-Firma

ByteDance lenkte seinen Fokus intern derweil auf die Künstliche Intelligenz und wurde zum KI-Unternehmen. Schon 2016 gründete die Firma ein eigenes “AI Lab”. Bis heute hat sie über 15 KI-gestütze Produkte herausgebracht, darunter den Chatbot Doubao und den Text-zu-Video-Generator Jimeng. Auch bei TikTok ist KI zentral und steuert nicht nur die Personalisierung von Inhalten, sondern auch deren Moderation.
 
Die Ambitionen der Firma gehen im Bereich KI noch weiter. Sie will 2025 rund 20 Milliarden USD in die Entwicklung von KI investieren und hat sogar ein Programm zur Entwicklung von Artificial General Intelligence aufgesetzt, also futuristisch anmutender “menschenäquivalenter” KI. Ein großer Vorteil von ByteDance ist dabei, dass es durch TikToks enorme Nutzerbasis Zugang zu extrem großen Mengen Daten hat, die es zum Training von KI nutzen kann.

Eine Frage der nationalen Sicherheit_

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Ein Datenzentrum in China – der Albtraum aller nationalen Sicherheitsberater. Quelle: Charlie fong, wikimedia
 

Wo liegt das Problem?

Im Feld der ohnehin kontroversen sozialen Medien ist TikTok heute eine der umstrittensten. Und das nicht nur in den USA, sondern in aller Welt. Schon seit Juni 2020 ist die Plattform in Indien verboten, zusammen mit einer Reihe anderer chinesischer Apps. Der Grund war damals ein direkter Grenzkonflikt mit China, die Apps seien darum ein Risiko für die nationale Sicherheit. Die indische Regierung ging hierüber nicht weiter ins Detail. TikTok hatte dort damals etwa 200 Millionen Nutzer.
 
Auch in Kuba, Venezuela, Nordkorea und Iran ist TikTok verboten. Syrien, Jordanien und Afghanistan haben die Nutzung de facto abgeschafft. In Russland kann die App nicht mehr neu heruntergeladen werden. In zahlreichen westlichen Ländern dürfen Regierungsmitarbeiter die App nicht auf ihren Arbeitsgeräten downloaden. Darüber hinaus gab und gibt es in verschiedenen Ländern Vorstöße zu Verboten und Regularien, auch in Europa. Besonders der französische Präsident Emmanuel Macron macht sich dafür stark, bis jetzt gibt es aber außer vagen Absichtsbekundungen keine gesonderten Regeln in Europa.
 
Bei der Skepsis geht es vor allem um zwei Faktoren: Zum einen um die enorme Menge an Nutzerdaten, die die App erfasst und speichert, zum anderen darum, dass es sich um eine chinesische Firma handelt. Die Kombination beider Faktoren sorgt laut verschiedenen Sicherheitsbehörden für eine überaus gefährliche Situation.

Gut zu wissen: Ein weiterer Kritikpunkt an TikTok sowie ähnlichen Formaten ist seine Auswirkung auf die mentale Gesundheit insbesondere junger Nutzer. Unser Explainer beleuchtet diesen Aspekt nicht tiefer, doch Studien erkennen mehrheitlich negative Effekte bei Jugendlichen wie niedrigere Lebenszufriedenheit, die “Ansteckung” psychischer Probleme und suchtähnliches Verhalten.

Der Blick nach Peking

Die Daten, die TikTok sammelt reichen von Nutzerprofilen, demographischen Daten und Engagement-Metriken bis hin zu Standortdaten, Informationen über die benutzten Endgeräte und sogar biometrische Daten der Nutzer wie Gesichts- und Stimmabdrücke. Das ist im Grunde vergleichbar zu den Daten, die andere Social Media-Anwendungen sammeln, und war bislang zumindest für Verbote selten Anlass. Die Problematik liegt nicht so sehr darin, dass, sondern wo diese Daten gespeichert werden.
 
Die enorme Datenmenge, die TikTok verarbeitet, könnte für Nachrichtendienste relevant sein. In China gibt es recht starke Gesetze, die Unternehmen dazu verpflichten, auf Anfrage mit chinesischen Geheim- und Nachrichtendiensten zusammenzuarbeiten. Die Sorge ist also, dass TikTok der chinesischen Regierung die enormen Mengen an Daten ausländischer Nutzer zur Verfügung stellen könnte. Es gibt bisher zwar keine öffentlich bekannten Beweise, dass das jemals geschehen ist, selbst in den prominenten Dissidentenfällen, allerdings bleibt es aufgrund der Rechtslage immer eine Möglichkeit. Es geht hier also um hypothetischen, zukünftigen Datenmissbrauch, nicht um erwiesene Fälle davon.

Gut zu wissen: TikTok wurde bisher schon einmal für den fehlerhaften Umgang mit den Daten von Kindern in der EU belangt und musste eine Strafe von über 350 Millionen Euro zahlen.

ByteDance und TikTok dementieren die Nähe zu Peking, geschweige denn eine Weisungsbefugnis der Regierung. Die Firmenstruktur scheint ihnen zuzustimmen: TikTok wurde als Tochterfirma auf den Cayman Islands gegründet und hat seine Hauptsitze in Singapur sowie Los Angeles. Zu Mutterkonzern ByteDance besteht theoretisch organisationale Distanz. ByteDance selbst ist zudem ein relativ internationaler Konzern, welcher seine Produkte weltweit anbietet und viel weniger als andere chinesische Techriesen auf den Heimatmarkt angewiesen ist. Und circa 60 Prozent der Anteile gehören nicht-chinesischen Investoren.

So einfach ist das allerdings nicht, denn in der Struktur findet sich auch Dubioses. Mitarbeiter berichten, dass die Distanz zwischen TikTok und ByteDance eher kosmetischer Natur sei und die Social-Media-App eher auf ihre chinesische Mutter als auf ihre amerikanisch-singapurische Geschäftsführung höre. Und Chinas staatlicher China Internet Investment Fund hält seit 2021 zwar nur 1 Prozent an ByteDances China-Tochter, allerdings in Form einer seltenen “goldenen Aktie“, mit welcher unter Umständen sämtliche anderen Investoren überstimmt werden können. Damit übernahm die Regierung einen von drei Sitzen im Verwaltungsrat, mitsamt Vetorecht. Dass ausgerechnet Wu Shugang, einst von der Kommunistischen Partei mit Propaganda beauftragt, als Direktor ausgewählt wurde, entging Beobachtern nicht.

Wenn es um ByteDances mutmaßliche Hörigkeit gegenüber Peking geht, mag es zwar keine “smoking gun”, keine eindeutigen Beweise, geben, aber Verdachtsmomente allemal. Nach dem Verbot von Neihan Duanzi in China 2018 äußerte sich CEO Zhang erstmals zum Verhältnis seiner Firma zur chinesischen Regierung: Er entschuldigte sich dafür, Duanzi jemals online gestellt zu haben, die Seite sei mit sozialistischen Werten inkompatibel gewesen und habe die Gedanken Xi Jinpings unzureichend verbreitet. Er kündigte damals auch an, dass ByteDance in Zukunft enger mit der Regierung und der Kommunistischen Partei Chinas zusammenarbeiten werde, um deren Politik besser zu fördern. Es war ein Einknicken auf ganzer Linie.

Was ist schon Wahrheit

Darüber hinaus gibt es seitens Beobachtern Bedenken hinsichtlich möglicher politischer Einflussnahme. So wie alle sozialen Medien hat TikTok potenziell großen Einfluss auf den politischen Prozess. Online-Plattformen sind mittlerweile das Hauptmedium für Wahlwerbung und andere direkte politische Kommunikation, aber auch Meinungsbildung und Informationsbeschaffung. Es mehren sich Fälle, in welchen TikTok mutmaßlich für wahltaktische Manöver, Einflussoperationen oder klassische Desinformation genutzt worden ist.

Das geschah beispielsweise vor der Wahl in Großbritannien letztes Jahr. Dort brach eine Welle von KI-generierten, irreführenden und beleidigenden Inhalten über die Kandidaten und den Wahlprozess nieder. Auch in Rumänien gab es Ende 2024 so einen Fall: Dort wurden kurz vor der Präsidentschaftswahl plötzlich 25.000 Accounts aktiviert, die einen Kandidaten der extremen Rechten unterstützten, welcher aus dem Stand heraus die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewann. In Umfragen zuvor war er monatelang nur unter “Sonstige” aufgetaucht, war national praktisch unbekannt. Bukarest und die EU witterten russische Einflussnahme, die Wahl wurde vom Verfassungsgericht annulliert. Russland ist auch ansonsten oft ein Verdächtiger. So habe der Kreml 2022 Influencer dafür bezahlt, prorussische Narrative über den Ukrainekrieg zu verbreiten und tat mutmaßlich dasselbe mittels einer Scheinfirma 2024 mit amerikanischen Influencern aus dem rechten Spektrum.

Diese Fälle sind erst einmal nicht TikTok-spezifisch, immerhin existiert Desinformation auch anderswo, und sie wurden auch nicht von TikTok oder ByteDance selbst durchgeführt.  Es waren stets mehr oder weniger bekannte dritte Parteien; oftmals völlig reguläre Nutzer, hin und wieder mutmaßlich staatliche Akteure. Die TikTok-spezifische Sorge ist damit zum einen, wie effektiv der Algorithmus ist, der die Desinformation dann durch die App bewegt; zum anderen, dass China den Algorithmus gezielt manipulieren könnte.

Gut zu wissen: Eine Studie kam 2022 zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent aller TikTok-Videos zu aktuellen Nachrichtenthemen Falschinformationen beinhalteten.

TikToks versuchte Befreiungsschläge

Das Unternehmen versucht laut eigenen Angaben, aktiv gegen mögliche Einflussnahmen und Desinformation vorzugehen. So weigert sich TikTok, die Inhalte politischer Kandidaten unterschiedlich zu behandeln und investiert massiv in die Bekämpfung von Desinformation, wo es KI-Filter und menschliche Content-Moderatoren einsetzt. In regelmäßigen Berichten dokumentiert die Firma ihre Mühen und Fortschritte. 2024 seien demnach 97 Prozent aller regelverstoßenden Videos “proaktiv” gelöscht worden, bevor ein Nutzer sie melden konnte; 80 Prozent sogar noch, bevor sie von überhaupt jemandem gesehen werden konnten. Im selben Jahr seien außerdem drei “verdeckte Einflussnetzwerke” mit Bezug auf den Ukrainekrieg entfernt worden sowie zwei solche Netzwerke mit Bezug auf den Israel-Hamas-Krieg. Die App verbot außerdem das Anpreisen der Hamas und entfernte diesbezüglich über 775.000 Videos. 

Dann wäre da noch das Problem der Datensicherheit. Die ist auch ein Hauptaugenmerk der Spionageängste, denn solange TikTok seine Nutzerdaten in China speichert, sind diese potentiell angreifbar und durch chinesische Geheimdienste nutzbar. Sowohl in den USA als auch in der EU soll TikTok daher Lösungen implementieren, damit keine personalisierten Daten mehr nach oder über China fließen. Das Unternehmen hat zahlreiche Rechenzentren auf der ganzen Welt, es ist also längst nicht so, als wären alle Daten in China zentralisiert; trotzdem fordern verschiedene Datenschutzgesetze jetzt bestimmte Speicherstrukturen.

TikToks Lösung hierbei sind die Projekte “Texas” und “Clover”. Hierbei sollen jeweils die persönlichen Daten amerikanischer und europäischer Nutzer in den USA und in Europa aufbewahrt werden. Projekt Texas soll US-Daten auf ein Oracle-System migrieren, das dann nicht TikTok selbst, sondern der US-Aufsichtsbehörde CFIUS untersteht. Projekt Clover soll etwas Ähnliches für Europa tun, denn die Daten wären in Irland unter irischer Behördenaufsicht gelagert.

Bei beiden Projekten handelt es sich um eine fundamentale Umstrukturierung der Datenflüsse des Unternehmens. Eine solche geografische “Einzäunung” dürfte tatsächlich erhöhte Datensicherheit bedeuten, womöglich genug, um die Bedenken europäischer und amerikanischer Regierungen zu zerstreuen. Dabei scheint TikTok mehr tun zu müssen als zum Beispiel Meta oder Google, welche ebenfalls Nutzerdaten international speichern, aber eben nicht einem chinesischen Eigentümer gehören.

In den USA muss TikTok nun an eine einheimische Muttergesellschaft verkauft werden, und zwar binnen etwas mehr als zwei Monaten. Schon jetzt ist fraglich, ob das überhaupt gelingen kann. Berichten zufolge finden selbst republikanische Abgeordnete Trumps Last-Minute-Plan rund um ein Joint Venture und einen staatlichen 50-Prozent-Anteil verwirrend und möglicherweise illegal. Solange es aber eine Verbindung zu China gibt, wird TikTok kontrovers bleiben, denn die unklare, doch zumindest nicht negierbare Assoziation mit Peking sorgt für Unruhe in westlichen Hauptstädten. Doch selbst wenn diese Verbindung komplett gekappt wäre, bliebe mit mentaler Gesundheit, Desinformation und Einflusskampagnen genug, um noch auf Jahre über die Causa TikTok zu sprechen.

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