Unser kurzer Explainer: Was war 2019 los, wie schätzen wir die Lage ein, was ist der Hintergrund?
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Was war 2019 los?
Ende Januar entschied Juan Guaidó, dass er lange genug nur Präsident der venezolanischen Nationalversammlung war. Stattdessen sei er von nun an Staatspräsident, zumindest übergangsweise. Amtsinhaber Maduro müsse abtreten. Guaidós Argument: Die Wahlen im Mai 2018, in welchen Präsident Maduro wiedergewählt wurde, seien manipuliert und unfair gewesen, wodurch dieser nicht mehr legitimer Staatschef sei. Der Manipulationsvorwurf wird von internationalen Beobachtern gestützt.
Also rief sich Guaidó zum Interimspräsidenten Venezuelas aus, um eine Übergangsperiode von Maduro zu einer stabilen demokratischen Regierung anzuführen. Das löste eine Staatskrise aus, denn Maduro & Freunde waren alles andere als begeistert.
Aus der Ferne wirkte das Ganze in den Monaten darauf wie ein diffuses chicken game, denn anfangs tat sich recht wenig. Das Maduro-Lager zischte gegen das Guaidó-Lager, welches mit gelegentlichen Massendemonstrationen seinen Einfluss zeigte.
Hinter den Kulissen geschah allerdings so einiges. Guaidó warb im Ausland intensiv um Unterstützung und konnte über 50 Staaten für sich gewinnen, darunter den Großteil Südamerikas und Europas sowie die USA. Gerade letztere schraubten die Daumenschrauben für die Maduro-Regierung enger, wohlklingendes Stichwort „Maximum Pressure“ (bereits im Album „Die Mullahs aus Teheran treiben“ ein Tophit).
Russland und China unterstützten hingegen Maduro, genau wie die sozialistischen Bruderstaaten auf dem eigenen Kontinent (vor allem Kuba und Bolivien, Ecuador ist inzwischen das schwarze Schaf unter Südamerikas Sozialisten).
Gut zu wissen: Die USA sanktionieren den Kauf von venezolanischem Öl, eine wichtige Einnahmequelle für das Land. Außerdem wurden Maduro-Funktionäre mit Sanktionen belegt.
Am 30. April kam es dann zur Eskalation. Guaidó rief zum Militärputsch auf und behauptete, die Armee auf seiner Seite zu haben. Dem war offenbar auch so, nur wechselten die Generäle in letzter Sekunde zurück zu Maduro. Dieser war Insidern zufolge drauf und dran, aus dem Land zu fliehen (so drauf und dran, dass er sich angeblich bereits auf der Flugzeug-Startbahn befand), bevor Russland ihn überzeugte, doch zu bleiben. Der Putschversuch verpuffte ereignislos und die Welt stellte ihr Popcorn zurück in den Schrank.
Seitdem befindet sich das Land in einem unruhigen Gleichgewicht. Die Maduro-Regierung hält sich de facto an der Macht, kriegt die Guaidó-Opposition aber nicht zerschlagen; diese besitzt wiederum nicht die Stärke, Maduro ins Wanken zu bringen.
Sofort nach dem Putschversuch begannen Gespräche zwischen beiden Parteien, mit Norwegen als Mediator. Resultate gab es bislang allerdings keine. In Venezuela geht das Leben mehr oder weniger gewohnt weiter. Außer für Guaidó und seinen engen Kreis: Sie müssen offenbar regelmäßig ihre safe houses wechseln, viele Oppositionelle haben das Land bereits verlassen.
Unsere Einschätzung
2020 wird für Venezuela ein verlorenes Jahr (so wie mehr oder weniger jedes Jahr seit 2013). Die Maduro-Regierung und das Guaidó-Lager besitzen denkbar unvereinbare Verhandlungspositionen („Maduro muss abtreten“, „Seid ihr verrückt?“) und keiner von beiden hat die Fähigkeit, den anderen endgültig zu besiegen.
Die USA sprechen scheinbar mit Russland darüber, gemeinsam Druck auf Maduro aufzubauen, um einen Kompromiss zu erzwingen. Sollte Russland nicht interessiert sein, bliebe den USA wenig an Optionen. Dass Washington im Wahljahr 2020 eine hochriskante Eskalation in Venezuela (mit Folgen für ganz Südamerika) riskiert, können wir quasi ausschließen. Nichts macht so wenig Spaß, wie bei einer TV-Debatte erklären zu müssen, warum man einen gesamten Kontinent zur Neuauflage des Nahen Ostens gemacht hat. Ein Militärschlag ist also raus.
Die EU droht für den Fall gescheiterter Gespräche mit eigenen Sanktionen – und zwar gezielt gegen den innersten Kreis von Präsident Maduro. Das wird zwar unangenehm, aber vermutlich nicht ausreichend sein. Denn wenn Maduro auch nur ein bisschen Macht abgibt, riskiert er, eine gefährliche Eigendynamik zu kreieren.
Wenn von außen nichts kommt, vielleicht dann von Innen? Unwahrscheinlich. Die venezolanische Wirtschaft läuft katastrophal, wenn das Ziel ist, eine Bevölkerung zu ernähren; hält sich aber ganz stabil, wenn es nur darum geht, eine Armee loyal zu halten. Die USA sanktionieren zwar Venezuelas Öl, doch das ist Russlands Rosneft und einigen anderen Käufern egal. Für Edelsteine und Drogen gibt es auch genügend Abnehmer. Die Einnahmen sprudeln direkt in die Koffer der Regierung, welche sie strategisch einsetzt, um ihre Macht zu sichern.
Ironischerweise haben die Sanktionen außerdem den Effekt, dass die venezolanische Elite ihr Geld mehr zuhause investieren und ausgeben muss. Das bindet sie noch stärker an das Überleben der Maduro-Regierung und verschiebt die Interessen von Generälen und Co. zu Ungunsten von Guaidó.
Noch ironischer führen die Sanktionen dazu, dass immer mehr sozialistische Elemente in der Wirtschaft aufgegeben werden: Die Regierung hat zahlreiche Preiskontrollen abgeschafft und diktiert nicht länger den Wechselkurs. Das macht die Wirtschaft flexibler und widerstandsfähiger. Allerdings nicht genug, um sie aus ihrer unterirdischen Lage zu ziehen. Beispiel: Die Inflationsrate ist zwischen Januar und November von 3.000.000% auf 13.475% gesunken. Relativ betrachtet ist das eine unglaubliche Verbesserung, absolut betrachtet aber noch immer furchtbar. Vergleich: Die Türkei hat rund 16% Inflation und das lässt bereits die Alarmglocken bei Ökonomen läuten.
Das kühle Gleichgewicht der letzten Monate dürfte also auch im nächsten Jahr Bestand haben, während im Hintergrund verhandelt und taktiert wird. Nicht zu vergessen, dass rund vier Millionen Venezolaner das Land verlassen haben. Wenn die Stimmung in den anderen Ländern Südamerikas kippt oder noch mehr Menschen sich zur Flucht entschließen, könnte das zu neuem Ärger führen.
Na gut, etwas Optimismus zum Abschluss: Wenn es USA und EU gelingt, auf die Maduro-Regierung Druck aufzubauen, könnte sie dazu gezwungen werden, sich auf einen allmählichen Übergang einzulassen. Nicht mit Guaidó an der Spitze, sondern mit einer Drittfigur, auf die sich Regierung und Opposition (und das Militär) zähneknirschend einigen können. Unmöglich ist das nicht. Nur vermutlich wird sich erst der nächste US-Präsident dessen annehmen.
Hintergrund
Venezuela steckt in einer Krise. Das Land wählte 1999 Hugo Chávez, politischer Ziehvater von Nicolas Maduro, und entschied sich für ein ganzes Stückchen Realsozialismus: Preiskontrollen, Devisenkontrollen, Produktionsquoten etc. Das lief eine ganze Zeit lang in Ordnung, vor allem da die Öleinnahmen prächtig sprudelten und weitreichende Sozialprogramme finanzierten.
Bis es irgendwann nicht mehr in Ordnung lief. Der Wunsch, beim Chavismus zu bleiben, führte zur Wahl von Nicolas Maduro im Jahr 2013. Das Land wurde immer autoritärer, während der Privatsektor kollabierte und die Versorgung mit grundlegenden Gütern verknappte. Bilder von venezolanischen Supermärkten, in denen eine einsame Rolle Klopapier auf den Regalen ausharrt, haben gewissermaßen Kultstatus erreicht. Für die Venezolaner ist die memeability ihrer Versorgungssituation ein schwacher Trost, denn die UN schätzt, dass rund sieben Millionen Menschen im Land dringend humanitäre Hilfe benötigen.
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