Was es mit der Schuldenbremse auf sich hat

Die Heils- oder Unheilsbringerin des deutschen Wohlstands, je nach Betrachter.
01.12.2024

Funktion | Vorteile | Nachteile | Was denken Ökonomen?

(16 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Die Schuldenbremse limitiert seit 2016 die deutsche Verschuldung pro Jahr auf 0,35% des BIP, plus “Konjunkturkomponente”.
  • Sie ist zum Politikum geraten: Vor allem SPD und Grüne verlangen eine Lockerung oder, seltener, Abschaffung. Mehrheitlich hält die Bevölkerung aber an ihr fest.
  • Unter Ökonomen sind ein “Status quo“- und ein “Reformer“-Lager ungefähr gleich groß.
  • Unterstützer der Bremse verweisen auf Generationengerechtigkeit durch weniger Schuldenaufnahme und geringere Risikoprämien; bessere Ausgabenanreize für die Politik; und das Argument, dass es kein Geld-, sondern ein Effizienzproblem gäbe.
  • Gegner erkennen in mangelnden Investitionen das wahre Generationenproblem. Dazu kommen Schwächen in der Krisenreaktion und beim Anfeuern der Konjunktur. Und die Sorge, dass die Schuldenbremse zu politischer Instabilität beitrage.
  • Eine knifflige Frage ist, was exakt eine “Investition” darstellt. Sollen Investitionen aus der Schuldenbremse ausgeklammert werden, muss das beantwortet werden.
  • Letzten Endes läuft die Meinung über die Schuldenbremse darauf hinaus, mit wie viel Vertrauen auf die Ausgabenentscheidungen der Regierung geblickt wird.

Die Schuldenbremse_

(2 Minuten Lesezeit)

An der Schuldenbremse scheiden sich die Geister. Beispiel? Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) nennt die Schuldenbremse eine “Bedrohung für die Demokratie”. Ganz anders das libertäre Cato-Institut in den USA, welches neidisch nach Deutschland herüberblickt und die Bremse einen “durchschlagenden Erfolg” bezeichnet.

Fragt man die deutsche Bevölkerung, möchten 56 Prozent keine Lockerung (geschweige denn eine Aufgabe) und 40 Prozent sind für eine Lockerung, so das ZDF-Politbarometer im Juni 2024. Andere Umfragen fallen ähnlich aus. Nach Parteipräferenz aufgeschlüsselt möchten Anhänger sämtlicher großer Parteien an der Schuldenbremse grundsätzlich festhalten, auch wenn sich bei Grünen und der SPD (und womöglich den Linken, welche nicht mehr in allen Umfragen auftauchen) kräftige Mehrheiten für eine Lockerung finden. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, eine arbeitgebernahe Lobbygruppe, und das Meinungsforschungsinstitut INSA kamen im Dezember 2023 aber sogar noch zu dem Ergebnis, dass auch bei SPD und Grünen eine Pluralität die “aktuelle Ausgestaltung” der Schuldenbremse befürwortet habe.

Der jüngste Stimmungswandel wäre nicht überraschend, denn die Schuldenbremse ist in den letzten Monaten zum Politikum geworden, intensiver noch als in den meisten Vorjahren. Der Grund ist einfach erklärt: Der Verteilungskonflikt im Bundeshaushalt ist inmitten einer ideologisch diversen Koalition, einer schwachen Konjunktur und einer durchaus hohen Liste an politischen Prioritäten besonders schwerwiegend gewesen. Die Schuldenbremse schien der Lösung im Weg zu stehen. Am Ende könnte sie sogar die Koalition zum Zerbrechen gebracht haben.

Doch wie genau funktioniert die Schuldenbremse – und weshalb gibt es sie?

Was die Schuldenbremse ausmacht

Die Schuldenbremse wurde 2009 per Zweidrittelmehrheit im Bundestag beschlossen und ins Grundgesetz geschrieben, um die Staatsverschuldung durch Bund und Länder einzuschränken. Konkret limitiert sie seit 2016 die jährliche Verschuldung auf 0,35 Prozent des nominellen (also nicht inflationsbereinigten) BIP. Aktuell entspräche das knapp unter 15 Milliarden EUR. Für Naturkatastrophen und andere Krisenereignisse gibt es Ausnahmeregelungen, für welche konkrete Tilgungspläne vorgelegt werden müssen, und die Möglichkeit, die Schuldenbremse außergewöhnlich auszusetzen.

Und um auf die Konjunktur reagieren zu können – also das gewöhnliche Auf und Ab in der Volkswirtschaft –, gibt es einen “konjunkturellen Finanzierungssaldo”. Läuft es derzeit gut, wird die Schuldenbremse restriktiver; läuft es schlecht, erlaubt sie etwas mehr an Schulden, um auf die Lage reagieren zu können. Die 0,35 Prozent beziehen sich also auf die “strukturelle” oder konjunkturunabhängige Verschuldung.

In den Jahren 2020, 2021 und 2022 war die Schuldenbremse ausgesetzt. Grund war erst die Covid-Pandemie, dann die unmittelbaren Folgen der Ukraine-Invasion und der Energiekrise. Die Regierung nutzte also besagte Ausnahmeregel gemäß Art. 109 GG, welcher zusammen mit 115 GG jener Paragraf im Grundgesetz ist, welcher die Schuldenbremse verankert. 

Die Vorteile der Schuldenbremse_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Tickt gnadenlos: Die Schuldenuhr des Bunds der Steuerzahler. Quelle: Deutsches Steuerzahlerinstitut, wikimedia

Die Schuldenbremse stammt aus einer Zeit, in welcher sich die europäischen Länder gerade immer tiefer verschuldet hatten. Länder wie Griechenland nutzten in den frühen 2000ern geringere Finanzierungskosten dank der neuen Eurozone, um sich viel Geld zu leihen. Deutschland hatte soeben seine Phase als “kranker Mann Europas” mit schwachem Wachstum und viel strukturellen Problemen durchlebt, nicht unähnlich zu heute. Viele Herausforderungen und wenige Steuereinnahmen hatten viel Schuldenaufnahme bedeutet. Dazu kam die Finanzkrise 2008 als großer Schock, welche mehr Fokus auf fiskalische Disziplin (und mit ihr Finanzmarktstabilität) lenken würde. Also führte Deutschland 2009 die Schuldenbremse ein.

Es gibt im Grunde fünf Argumente für die Schuldenbremse.

Die Schulden im Griff behalten

Erstens: Die Schuldenbremse verhindert, dass die Schulden und die Schuldenquote zu hoch steigen. Das betrifft einen intergenerationalen Fairnessaspekt: Was heute an Schulden aufgenommen wird, muss eines Tages zurückgezahlt werden – in der Zukunft, durch eine jüngere Generation. Das mag für manche Betrachter vereinfacht klingen (eventuell ein wenig nach Stammtisch)Ein Fazit, ist aber grundsätzlich richtig – auch wenn wir es später mit Argumenten gegen die Schuldenbremse verfeinern müssen.

Kredite müssen eines Tages getilgt und auf dem Weg dorthin vereinbarte Zinsen bezahlt werden. Nicht nur das: Je höher die Schuldenquote, umso höher das Risiko, dass das Land seine Schulden nicht bedient und umso höher die Risikoprämie, welche Gläubiger verlangen. Diese Logik gilt selbst für die Bundesrepublik, welche eine dermaßen sichere Reputation besitzt, dass sie als Benchmark für risikofreie Anleihen dient. Die heutige Schuldenaufnahme muss also nicht nur zukünftig bedient werden, sondern verteuert auch die Finanzierungskosten in der Zukunft: Neue Schulden werden teurer, je höher der Schuldenberg ist. Das in der Vergangenheit eingesetzte Geld fehlt für die Ausgabenprioritäten der Zukunft.

Schon jetzt lässt sich dieser “intertemporale” Konflikt spüren: 2024 mussten 8,4 Prozent des deutschen Haushalts für die Deckung der “Bundesschuld” aufgebracht werden; 2020 waren es nur 3,3 Prozent. Die 5 Prozentpunkte machen fast 24 Milliarden EUR aus, welche anderswo gefehlt haben – die Summe hätte genügt, um die langen Diskussionen um den Haushalt 2024 schlagartig zu beenden.

Gut zu wissen: Warum kann ein Land die Schuldenrückzahlung nicht einfach ignorieren? Kann es – und tun Länder immer wieder mal, entweder weil sie nicht zahlen können oder nicht zahlen wollen. Allein Argentinien ist inzwischen 9 Mal bankrott gegangen. Ein Land zur Zahlung zwingen geht praktisch nicht, es sei denn durch militärischen, diplomatischen oder wirtschaftlichen Druck.

Ein Staatsbankrott ist aber keineswegs “kostenlos”: Das Land verliert meist einige Jahre lang den Zugang zum Finanzmarkt, da ihm niemand mehr etwas leihen möchte. Erhält es wieder Zugang, steigen die Risikoprämien kräftig, neue Schulden werden also sehr teuer. Vermutlich kann es sich nichts mehr in der eigenen Währung leihen, sondern nur noch in US-Dollar, Euro und Co. – sollte die eigene Währung nun aber an Wert verlieren oder die Auslandswährung an Wert gewinnen, steigt die eigene Schuldenlast, ohne dass das Land irgendetwas getan hätte (zur Illustration: Wenn Schulden in Höhe von 100 USD eben noch 100 Peso “gekostet” haben, so kosten sie nach einer Aufwertung des USD plötzlich 200 Peso).

Zu guter Letzt: Ein Staatsbankrott kann auch das Bankensystem und die eigene Währung in die Schuldenkrise mit hineinziehen. Geschieht das, droht dem Land eine Doppel- oder Dreifachkrise mit womöglich desaströsen Folgen für die Realwirtschaft. Die verfügbare Forschung deutet an, dass ein reiner Bankrott für ein Land glimpflich ausgehen kann; kommt es aber zu einer Doppel- oder Dreifachkrise, wird es auf Jahre und Jahrzehnte schmerzhaft.

Unser Explainer “Die Welt in der Schuldenkrise” aus April 2022 erklärt das Thema Staatsbankrott tiefgehender.

Der Musterschüler

Zweitens erzwingt die Schuldenbremse fiskalische Disziplin und verhilft damit zu niedrigen Risikoprämien, heute und in der Zukunft. Das folgt der eben beschriebenen Logik: Wenn ein Land geringfügig verschuldet ist und eine glaubwürdige Schuldenbremse einsetzt, ist es ein recht risikoarmer Schuldner. Also können sich Bund, Länder und auch Unternehmen vergleichsweise günstig Geld leihen, um es einzusetzen. Panikartige Marktreaktionen mit ihren Folgen auf die FInanzmarktstabilität, den Währungsmarkt, die Realwirtschaft und schlussendlich die politische Stabilität sind unwahrscheinlich.

Dass das nicht trivial ist, zeigte das Beispiel Großbritannien: Der Haushaltsplan der Regierung von Premier Liz Truss war dermaßen unausgeglichen (sprich, setzte dermaßen stark auf Neuverschuldung), dass Investoren extrem negativ reagierten. Die britischen Finanzierungskosten stiegen in die Höhe und die Währung verlor stark an Wert, was Importe verteuerte, die Inflation anzuheizen drohte, die Schulden in Auslandswährung erhöhte und die Finanzmarktstabilität gefährdete. Truss hielt nach öffentlichem Druck kaum eine Woche länger aus und gab nach insgesamt 49 Tagen das Amt des Premiers auf.

Prioritäten setzen

Drittens vermeidet die Schuldenbremse politische Exzesse: Eine Regierung könnte kurz vor der Wahl versuchen, mit Geschenken um sich zu werfen – aus politischem, nicht aus wirtschaftlichem Kalkül. Die Schuldenbremse sorgt dafür, dass sie nur im Rahmen ihrer Einnahmen nach Geschenken suchen kann. Andersherum muss die Regierung sich genauer überlegen, wo sie ihr Geld einsetzt – womöglich kann die Schuldenbremse also bessere Ausgabenentscheidungen herbeiführen.

Diese ältere whathappened-Grafik bezieht sich nur auf F&E-Investitionen (Forschung und Entwicklung), doch zeigt das Größenverhältnis zwischen Privatsektor- und öffentlichen Investitionen auf.

Kein Geld-, sondern ein Effizienzproblem

Viertens erkennen Unterstützer der Schuldenbremse Hinweise darauf, dass neue Investitionen gar nicht unbedingt an der Bremse scheitern. Tatsächlich bleiben große Teile staatlicher Fördertöpfe mit verfügbar gemachtem Geld ungenutzt, weil es etwa an Projekten oder Bewerbern mangelt oder, anekdotisch meistens der Grund, weil Verwaltungsprozesse den Geldeinsatz ausbremsen. Würde man also mehr Geld freimachen, würde davon ein ordentlicher Teil versanden. Und selbst wenn der Staat am Ende doch etwas weniger investieren kann: Er macht nur rund 12 Prozent der gesamtstaatlichen Investitionen aus – ein Großteil des Rests wird vom Privatsektor investiert. Dort steckt also ein viel größerer Hebel für Investitionen.

Ein ähnliches Argument ist, dass der Bund gar nicht allzu viel seines Geldes tatsächlich “investiert”, sondern den Großteil “konsumtiv” einsetzt. Das berührt die Frage, wie intelligent bzw. wie langfristig der Staat seine Gelder verwendet. Dazu später mehr.

Die Nachteile der Schuldenbremse_

(3,5 Minuten Lesezeit)

Eine gute alte Investition. Oder etwa nicht? Quelle: CCNull

Der größte Nachteil der Schuldenbremse ist der intuitivste: Sie schränkt die Fähigkeit eines Landes ein, Schulden aufzunehmen. An Schulden ist nichts per se schlecht: Sie erlauben es, Geld aus der Zukunft ins Heute vorzuziehen – haben also auch eine “intertemporale” Funktion. Problematisch wird es erst, wenn ein Land zu viele Schulden aufnimmt, doch wo das anfängt, ist debattierbar. Genauso ist es ein Problem, wenn ein Land zu wenig Schulden aufnimmt: Dann lässt es akutes und langfristiges Wachstumspotenzial liegen.

Auf Krisen reagieren

Im Kern geht es um drei Aspekte, bei welchen die Schuldenbremse Limitationen aufwirft. Erstens, die Fähigkeit eines Landes, auf akute Krisen zu reagieren. Die einzige Lösung, welche die Schuldenbremse hier bietet, ist, sie auszusetzen. Der Prozess dahin, inklusive der benötigten Zustimmung durch den Bundestag, kann die Krisenreaktion verlangsamen. Dazu kommt, dass die Aussetzung vor Gericht anfechtbar sein könnte – das schafft Unsicherheit über den Haushalt und könnte davor abschrecken, aktiv genug gegen eine Krise vorzugehen. Erschwerend wirkt, dass die Schuldenbremse jährlich greift. Krisen halten sich allerdings nicht an Kalenderjahre. Die Politik muss sich also womöglich mehrfach mit der Aussetzung beschäftigen.

Nichts mit antizyklisch

Zweitens, das Geld für konjunkturbedingte Ausgaben fehlt. Schwächelt die Wirtschaft, könnte der Staat sie mit mehr Ausgaben anzukurbeln versuchen – eine sogenannte “antizyklische” Finanzpolitik. Das gilt vor allem für eine nachfrageseitige Krise, also wenn sich Konsumenten zurückhalten – hier ist “Geld draufwerfen” tatsächlich eine valide Lösung (Deutschland erlebt derzeit eine Mischung aus nachfrage- und angebotsseitiger Krise, tendenziell mit Schlagseite zu zweiterem). Die Schuldenbremse besitzt zwar einen konjunkturellen Flexibilitätsmechanismus, doch er könnte nicht genügen, um der Lage beizukommen. Die aktuelle Situation in Deutschland lässt sich als Indiz dafür heranziehen.

Gegner der Schuldenbremse argumentieren auch, dass die höhere Schuldenaufnahme paradoxerweise zu niedrigeren Schulden führen könnte: Nämlich dann, wenn das neue Geld zu mehr Wirtschaftswachstum führt und das die Fähigkeit zur Tilgung erhöht. Und wenn es um die Schuldenquote geht, bedeutet ein höheres BIP automatisch eine geringere Quote, da es im Nenner steht.

Die Investitionen-Frage

Drittens, das Geld für langfristige Investitionen fehlt. Die Schuldenbremse stellt Investitionen nicht einmal dediziert heraus und macht für sie keinerlei Ausnahmen: Alles, was der Staat nicht mit seinen Einnahmen finanzieren kann, muss er mit 0,35 Prozent vom BIP Neuverschuldung und eventuell ein wenig Konjunkturanpassung schaffen. Gerade, wenn von strukturellen Problemen die Rede ist, sind Investitionen allerdings unabdingbar: Sei es in die physische Infrastruktur in Deutschland, die Digitalinfrastruktur, die Bildung, in einen effizienteren Bürokratieapparat oder vieles mehr – hier geht es um die Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik und ihren langfristigen Wohlstand. Teilweise nicht einmal das: Der Kapitalstock eines Landes schrumpft von Jahr zu Jahr (buchhalterisch mittels Abschreibungen repräsentiert). Gewisse Investitionen sind also allein schon dafür vonnöten, um den Status quo zu erhalten. Gegner der Schuldenbremse erkennen in ihr also viel mehr ein Problem für die Generationengerechtigkeit als einen Schutzschild für diese.

Regierungsinstabilität und Creative Accounting

Die Einschränkungen durch die Schuldenbremse verschärfen Verteilungskonflikte im Haushalt. Das zeigt sich insbesondere in einer ideologisch diversen Koalition wie der Ampelkoalition. Alle drei Parteien besaßen teure Flaggschiffprojekte: Die FDP wollte Steuern senken, die Grünen verteilten Subventionen und erhöhten Sozialausgaben und die SPD setzte mit dem Rentenpaket II eines der teuersten Projekte in der Geschichte der Bundesrepublik durch (auch wenn der Koalitionsbruch das Paket stoppte). Ohne Schuldenbremse hätten die Parteien Kredite nutzen können, um den Kompromissraum zu vergrößern. So geriet es zum “Zero sum”-Spiel: Wo neues Geld hin sollte, musste es anderswo weg. Das dürfte am Ende zum Koalitionsbruch beigetragen haben.

Eine Reaktion auf diese Ausgabenlimitationen und die Verteilungskonflikte ist ein weiterer Nachteil der Schuldenbremse: Sie regt zu “kreativer Buchhaltung” an. Die Bundesregierung setzte auf zahlreiche Nebenhaushalte und Sondervermögen, welche praktisch am Haushalt und damit an der Schuldenbremse vorbei existierten. Der Begriff “Schattenhaushalt” deutet vermutlich bereits an, dass diese Praxis Intransparenz schafft und die tatsächliche Finanzlage des Staats schwieriger durchschaubar macht. Das prominente Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Ende 2023 schränkte diese Praxis in hohem Maße ein und verpasste dem Verteilungskonflikt der Ampelkoalition Adrenalin.

Hier zeigt sich auch, warum das WBZ die Schuldenbremse als “Bedrohung für die Demokratie” bezeichnet. Verteilungskonflikte innerhalb einer Koalition höhlen vermutlich ihr Vertrauen bei der Bevölkerung aus; Verteilungskonflikte innerhalb der Wirtschaft führen vermutlich zu Wohlstandsverlusten, Ärger und politischer Polarisierung.

Gut zu wissen: Ein exotischeres Problem der Schuldenbremse würde entstehen, wenn sie allzu erfolgreich wäre. Brächte sie die deutsche Staatsverschuldung etwa bis auf knapp 10 Prozent des BIP herunter, könnte es an den Finanzmärkten schlicht und ergreifend an deutschen Staatsanleihen mangeln, um die Nachfrage nach sicheren Anlagen zu decken. Das könnte Investoren in riskantere Anlagen drücken und damit eine ineffiziente, riskantere Kapitalallokation herbeiführen.

Was Ökonomen denken_

(5 Minuten Lesezeit)

Entzweigeteilt

Wie stehen Ökonomen zur Schuldenbremse? Ähnlich entzweit wie die Bevölkerung. Ein Leiter des eher rechten ifo-Instituts erklärt etwa in einem Gastbeitrag im Handelsblatt Die Vorteile der Schuldenbremse“; das eher linke DIW fordert dagegen eine “grundlegende Reform“. Im Dezember 2023 befragte das ifo-Institut 187 deutsche VWL-Professoren. 48 Prozent möchten die Schuldenbremse in heutiger Form beibehalten, 44 Prozent wollen sie reformieren und 6 Prozent möchten sie abschaffen. Die Argumente für Unterstützer und Gegner sind überwiegend jene, welche wir oben genannt haben. Beide Seiten berufen sich auf Empirie; verweisen etwa auf Studien, laut welchen Fiskalregeln mal zu mehr Wachstum führen, mal zu weniger. Noch nicht einmal bei der Frage, ob eine Schuldenbremse denn zu mehr oder weniger Schulden führt, besteht Einigkeit.

Was ist eine Investition?

Eine große Frage bei der Schuldenbremse und wohl auch eher ein Argument für die Gegner ist, dass nicht ganz klar ist, was genau eine “Investition” darstellt. Im engeren Sinne ist eine Investition etwas, das einen langfristigen Nutzen abwirft. Sie ist abzugrenzen von einer “konsumtiven” Ausgabe, welche lediglich kurzfristig wirkt. Sozialausgaben werden klassisch als konsumtive Ausgabe gewertet; eine neue Brücke ist dagegen ein Beispiel für eine Investition. Der Bund hat 2024 nach eigenen Angaben nur 14,8 Prozent seines Haushalts für Investitionen in diesem Sinne aufgebracht – die übrigen 85 Prozent sind konsumtiv. 

Im politischen Diskurs gibt es aber viel mehr Freiraum dafür, was eine “Investition” darstellt. Wenn etwa vonseiten der Grünen gefordert wird, die Schuldenbremse zu lockern, um mehr Investitionen zu ermöglichen, so könnte das aus ihrer Sicht auch die Kindergrundsicherung mitmeinen. Das sozialpolitische Flaggschiffprojekt der Partei sollte die Sozialleistungen an Kinder erhöhen und den Behördenapparat drumherum effizienter aufstellen (auch wenn Experten exakt das Gegenteil befürchteten). Aus Ökonomensicht wäre das eine Erhöhung konsumtiver Ausgaben par excellence. Nicht-Ökonomen könnten aber argumentieren, dass es keine bessere Investition gäbe, als in die Zukunft von Kindern. Und das Bürgergeld? Definitiv eine Sozialausgabe und konsumtiv. Es braucht aber nicht allzu viel Kreativität, um auch die Ausgaben für Arbeitslose und Arbeitssuchende als “Investition” zu interpretieren. Andersherum: Ist der Ausbau einer Autobahn eine sinnvolle Zukunftsinvestition oder pure Geldverschwendung? Der Begriff der Investition verliert im politischen Betrieb und im gesellschaftlichen Diskurs schnell jegliche Bedeutung und wird in erster Linie ideologisch genutzt. Alles kann eine Investition sein.

Zinsen vs. Nutzen

Die Frage danach, was eine Investition ist, ist nicht trivial. Als wir oben schrieben, dass an Schulden nichts inhärent schlecht sei, bedarf das einer Ergänzung: An Schulden ist nichts verkehrt, solange die Kosten – der Zins – nicht höher sind als der Nutzen. Schulden müssen also intelligent eingesetzt werden: Für Investitionen und auch “Investitionen”, die es tatsächlich wert sind. An einigen Stellen mag das einfach sein, etwa, wenn die Rendite einer neuen Digitalinvestition oder von besser in den Arbeitsmarkt integrierten Migranten leicht nachweisbar über dem Zinssatz liegen würde; an anderen Stellen schwieriger, etwa, wenn bewertet werden müsste, wie viel zusätzlichen sozialen Zusammenhalt eine neue Sozialleistung tatsächlich bringt und wie sich das monetär übersetzen ließe.

Gut zu wissen: Erschwerend kommt hinzu, dass der zukünftige Zinspfad nicht vorhersehbar ist. Hätte der Bund 2010 viel Geld aufgenommen, hätte er rund zehn Jahre an niedrigen Zinsen genießen können. Hätte er 2019 viel Geld aufgenommen, würde er heute in einer Phase sehr hoher Zinsen an die Refinanzierung gehen müssen – also neue Schulden aufnehmen, um die alten Schulden zu decken. Das wäre teuer geworden.

Vertraust du dem Staat?

Im Grunde ist das zentrale Argument für und gegen die Schuldenbremse damit ein Vertrauens- und MisstrauensargumentWer dem Staat eher misstraut, richtige Ausgabenentscheidungen zu treffen, der ist mit der Schuldenbremse gut bedient. Sie verhindert politische Exzesse und erzwingt genaue Abwägung; sie hält die Schuldenquote und die Risikoprämien (vermutlich) relativ niedrig; und sie lindert die Generationenungerechtigkeit, schließlich hätten die staatlichen Ausgaben der Zukunft nur höhere Schulden, aber wenig Nutzen bereitet. Sicher, sie schränkt die Handlungsfähigkeit des Staats ein, aber das ist für diesen Beobachter wünschenswert. Ließe man den Staat gewähren, würde er sich zu sehr verschulden; das Geld in schlechte Investitionen stecken; es einfach gar nicht in Investitionen, sondern in Konsum stecken; oder sich im Zinspfad verschätzen und so versehentlich überlasten, sobald die Zinsen stärker als erwartet anziehen. Da, wo es nötig ist, bieten Krisen- und Konjunkturmechanismen etwas Flexibilität. Und am Ende des Tages macht die Regierung ohnehin nur ein Achtel der Investitionen im Land aus.

Wer dem Staat zutraut, richtige Ausgabenentscheidungen zu treffen, kann sich dagegen mit Fug und Recht eine Abschaffung der Schuldenbremse wünschen. Sie schränkt Bund und Länder darin ein, Investitionen zu tätigen, deren Nutzen höher als ihre Kosten sind. Das schadet zukünftigen Generationen – und dem Hier und Jetzt – mehr als es etwaige höhere Risikoprämien und Zinszahlungen könnten. Krisen und Konjunkturschwächen werden unnötig in die Länge gezogen, weil der Staat nicht einspringen kann. Wachstum und Wohlstand bleiben künstlich hinter ihrem Potenzial zurück; mit den entsprechenden Folgen auf Lebensstandards und politische Stabilität

Viele Beobachter (genauer: schätzungsweise 40 Prozent) dürften sich irgendwo dazwischen einordnen. Sie vertrauen dem Staat genug, um die Schuldenbremse für etwas zu restriktiv zu erachten, wollen ihre Funktion als “Leitplanke” aber auch nicht vollständig aufgeben. Das wäre das “Reformlager”. 

Was wünschen sich die “Reformer”? Die ifo-Umfrage unter VWL-Professoren hat die meisten Best-ofs zu bieten: 62 Prozent jener Hälfte, welche die Schuldenbremse verändern möchten, wollen eine ausdrückliche Ausnahmeregel für Investitionen festschreiben (siehe Grafik oben). 36 Prozent möchten die Konjunkturkomponente großzügiger gestalten, der Schuldenbremse also mehr Ausschlag verpassen: In der Krise erhält der Staat mehr Freiraum; im Wirtschaftsboom muss er stärker sparen. 30 Prozent wollen bestimmte Ausgabenkategorien völlig ausnehmen, etwa Klima und Verteidigung. 18 Prozent möchten ganz einfach das aktuelle 0,35-Prozent-Limit anheben. 12 Prozent der Hälfte wollen die Schuldenbremse gänzlich aufgeben.

Das sind alles valide Vorschläge. Bei Ausnahmen für Investitionen und für bestimmte Ausgabenkategorien beginnt allerdings wieder die Definitionssuche: Was darf als Investition gelten? Was ist eine ausreichend wichtige Ausgabenkategorie? Verteidigung und Klima ja; Bildung nein? Sollten Projekte zur Demokratieförderung oder für den Kampf gegen Rechtsextremismus ausgenommen sein? Alles ist für irgendjemanden wichtig – am Ende muss aber irgendwie entschieden werden, was eine Ausnahme verdient.

Gut zu wissen: Im Ausland wird mehrheitlich (wenn auch nicht immer) mit Irritation auf die deutsche Schuldenbremse geblickt. Selbst der britische Economist, meist einer wirtschaftsliberalen Linie nahe, rät zu einer vollständigen Abschaffung.

Ein Fazit_

(1 Minute Lesezeit)

Lockerung voraus?

Allen Herausforderungen und Nachteilen zum Trotz könnte Deutschland auf eine Reform der Schuldenbremse zusteuern. Die Argumente dafür sind gut, auch wenn jene dagegen keineswegs schlecht sind. Immer mehr Ökonomen sind offen für Reformen, längst nicht mehr nur solche aus dem linken Lager. Es ist praktisch jedem Beobachter bewusst, dass Deutschland mehr Investitionen benötigt und das vermutlich auch mehr öffentliche Investitionen verlangt. Es müsste zwar sichergestellt werden, dass es die richtigen Investitionen sind; doch der Bedarf könnte inzwischen so hoch sein, dass Ineffizienz nicht mehr das größere Risiko darstellt, sondern Inaktivität.

Dazu kommt, dass der politische Anreiz für eine Lockerung so hoch wie noch nie ist. Die Konjunktur ist schwach und hat mehrere erhoffte Zeiträume für Comebacks verfehlt. Die “fixen” Ausgaben, an denen die Regierung gesetzlich nicht vorbeikommt, etwa für das Bürgergeld oder die Rentenkassen, sind hoch. Neuartige Anforderungen, z.B. für die Verteidigung, machen Druck. Und die bisherige Praxis, Nebenhaushalte und Sondervermögen einzusetzen, wird künftig nicht mehr im selben Maße funktionieren.

Es war also keine riesengroße Überraschung, als CDU-Chef Friedrich Merz vor einigen Wochen eine Reform der Schuldenbremse in den Bereich des Möglichen rückte: “Man kann über die Schuldenbremse reden”, erklärte er, “aber nicht, indem man nur die Ausgaben einfach erhöht, weil alle anderen Probleme nicht gelöst werden”. Er argumentiert zwar, dass der Bund erst bei den Ausgaben ansetzen müsse, bereits jetzt genug an Schulden aufnehmen könne und in erster Linie privates Kapital mobilisiert werden solle. Doch für eine zukünftige Merz-Regierung wäre es sehr verlockend, die Schuldenbremse etwas zu lockern.

Weiterlesen: 

Zu Wirtschaftsthemen

Zu Schulden
Die Welt in der Schuldenkrise (2022)
Der sinnlose, sinnlose Schuldenstreit in den USA (2022)
Worum es in der US-Wahl geht: Die Wirtschaft (2024)

Wirtschaftsrückblicke
Jahresreview 2021
Jahresreview 2022
Jahresreview 2023

Zu Deutschlands Wirtschaft
Das Ende der Atomenergie (2023)
Deutschland wagt die Wärmewende (2023)
Deutschlands Strukturkrise: Strom (2023)
Deutschlands Strukturkrise: Bürokratie (2023)
Deutschlands Strukturkrise: Fachkräftemangel (2023)
Die Lage mit LNG in Deutschland und Europa (2022)
Die kritische Infrastruktur in Deutschland und Europa (2022)

Zur “Polykrise” 2021/22
Die Energiekrise, in zwei Teilen (2022)
Die Welt in der Schuldenkrise (2022)
Die Welt kämpft mit der Nahrungsmittelkrise (2022)
Was ist los in der Weltwirtschaft? (2022)
Big Tech, die zweite Riege und der Crash (2022)
Die Chipindustrie, der Kreislauf und die Geopolitik (2022)


Zu EU, USA und Rest der Welt
Russlands Wirtschaft geht es nicht gut (2024)
Europas Süden wird zur Erfolgsstory (2024)
Argentinien unter Milei (2024)
Chinas Wirtschaft tut nicht, was sie soll (2023)
Ein Hauch von Finanzkrise (2023)
Worum es in der US-Wahl geht: Migration (2024)
Ein Hauch von Finanzkrise (2023)

Scroll to Top