Die Ukraine erhält drei Arten von, Panzern vom Westen. Oder sind es überhaupt Panzer? Ein Blick auf die Semantik, dann auf die Implikationen.
Panzer verstehen | Schützen- und Kampfpanzer | Das Schlachtfeld | Ein Blick in die Glaskugel
(8,5 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Die Ukraine erhält schätzungsweise 150 Panzer aus den USA (Bradley), Deutschland (Marder) und Frankreich (AMX-10RC).
- Doch momentmal… handelt es sich überhaupt wirklich um Panzer? Die Definition ist uneindeutiger, als man denken würde.
- Ganz konkret handelt es sich um Schützen- und Spähpanzer, ersteres auf Englisch “Infantry Fighting Vehicles“, aber nicht “tanks”, Panzer.
- Was in der Regel in der Öffentlichkeit unter Panzern verstanden wird, sind Kampfpanzer – quasi moderne Schlachtschiffe zu Land.
- Bei allem Hin- und Herdefinieren: Die versprochenen Schützen- und Spähpanzer haben es in sich, sind sowohl für den Kampf gegen Infanterie als auch andere Panzer gut geeignet und bringen einige spannende Eigenschaften mit sich.
- Für die Ukraine werden sie eine bedeutende Erweiterung ihrer operativen Möglichkeiten darstellen, für den Kreml bedeuten sie Kopfschmerzen.
- Ihre Lieferung lässt es zudem wahrscheinlicher wirken, dass der Westen sich in naher Zukunft doch zum Entsenden schwerer Kampfpanzer durchringen wird.
Was ist eigentlich ein Panzer?_
Was ist gepanzert und kann schießen? Ein Panzer? Wie zivilistisch von dir. Zwischen verschiedenen Panzerarten gibt es mitunter Unterschiede wie Tag und Nacht, und manch Gefährt, welches nach Panzer aussieht, ist gar kein Panzer, auch wenn die deutsche Sprache da deutlich toleranter als das Englische ist. Ein kurzer Überblick – akut relevant geworden, da Deutschland, Frankreich und die USA Panzer an die Ukraine entsenden. Oder sind es überhaupt Panzer? Ohje.
Panzer verstehen
Am 5. Januar gab der französische Präsident Emmanuel Macron bekannt, dass sein Land “leichte Kampfpanzer” an die Ukraine entsenden würde, “char de combat léger” auf Französisch. Gemeint war das Modell AMX-10RC. Nur einen Tag später, entweder getrieben vom Vorpreschen aus Paris oder mit diesem längst abgesprochen, kündigte auch die Bundesregierung die Lieferung von Mardern 1 an. Die USA, welche sich in Sachen Waffenlieferungen nicht verstecken brauchen, entsenden M2A2 Bradleys. Es handelt sich um die ersten Panzer westlicher Bauart, welche die Ukraine erhält.
Moment mal, könnten aufmerksame Beobachter einwenden: Was ist denn beispielsweise mit der Panzerhaubitze 2000, von welcher einige seit Juni in der Ukraine operieren? Sie hat beides im Namen, doch ist eben mehr Haubitze als Panzer, also Artillerie. Das legt allerdings auch auf den Finger auf die Frage, was genau ein Panzer eigentlich ist. Die Panzerhaubitze ist immerhin gepanzert, bewegt sich auf Ketten (und zwar mit rund 60 km/h ähnlich schnell wie Panzer) und hat ein Rohr, welches für einen Beobachter auf der anderen Seite sicherlich nicht so schnell von jenem eines Panzers zu unterscheiden wäre.
Befragt man Wörterbücher, wissen die allerdings auch nicht viel weiter. Der Duden spricht zusammengefasst von irgendeinem Fahrzeug, das gepanzert ist, Waffen besitzt und auf Ketten rollt (was Radpanzern übrigens kaum gefallen dürfte, aber ziemlich sicher auf die Panzerhaubitze zutrifft). Das Oxford Dictionary äußert sich fürs Englische ganz ähnlich: Geschützt, bewaffnet und kann auch auf schwierigem Terrain fahren, mittels Rädern in Ketten.
Damit ist die Diskussion darüber, was ein Panzer ist und was nicht, vor allem den Militärs und Militärafficionados überlassen. Die deutsche Sprache ist dabei relativ inklusiv: Marder, Bradley und AMX-10RC sind durchaus Panzer, nur eben Schützenpanzer (Marder, Bradley) oder Spähpanzer (AMX). Im Englischen wird etwas strikter unterschieden: Marder und Bradley sind sogenannte Infantry Fighting Vehicles oder IFVs, aber eben ganz genaugenommen keine tanks; AMX ist ein wheeled tank destroyer oder allradgetriebener Panzerzerstörer. Wheeled bedeutet übrigens nicht tracked, AMX kommt also ohne Ketten aus. Das mag ihn zwar leichter und leiser machen, hilft aber ja doch nichts: Laut Duden und Oxford leider kein Panzer.
Gut zu wissen: Das französische char de bataile für Kampfpanzer bedeutet “Streitwagen”, stellt also eine Verbindung zum antiken Streitwagen als zentralem Kriegsgefährt seiner Epoche her. Auch im schwedischen Stridsvagn findet sich derselbe Bezug. Das englische tank, welches einige Zeit lang übrigens auch im Deutschen geläufig war, hängt derweil mit einer Verschleierungstaktik der Briten im Ersten Weltkrieg zusammen: Damit Feinde – aber auch einfache Arbeiter – nicht ahnten, dass in den Fabriken eine bis dato unbekannte Geheimwaffe entstand, wurde sie passend zu ihrer Optik einfach als Wassertank bezeichnet.
Schützenpanzer und Kampfpanzer
Die primäre Aufgabe von Schützenpanzern oder IFVs ist es, Infanterie ins Gefecht zu transportieren. Mit ihrer Panzerung sind sie besser geschützt als einfache Transportfahrzeuge und mit ihrer Bewaffnung können sie Infanterie, aber auch andere motorisierte Kampffahrzeuge bis hin zu Panzern bekämpfen, sind also nicht nur für reinen Transport, sondern auch für das Gefecht an vorderster Front gedacht (anders als Artillerie, welche im Hinterland bleiben möchte). Gegenüber Transportwagen haben IFVs damit den Vorteil, dass sie vollwertige Gefechtseinheiten darstellen; gegenüber Panzern im engsten Sinne sind sie mobiler, leiser, günstiger und einfacher zu warten, was in Konfliktsituationen kaum zu unterschätzende Eigenschaften sind. Spähpanzer dienen, wie der Name schon verrät, zur Aufklärung, weswegen sie Panzerung und Bewaffnung für Mobilität opfern. Der AMX fährt mit 85 km/h rund ein Drittel schneller als Marder und Bradley.
Die “klassischen” Panzer, an welche in der Öffentlichkeit bei dem Begriff als erstes gedacht werden, sind Kampfpanzer. Sie fahren auf Ketten, sind gut und gerne über 60 Tonnen schwer und wahre Schlachtschiffe auf Land. Sie bekämpfen Infanterie und Panzer gleichermaßen und können schwer befestigte Stellungen attackieren, beispielsweise Häuser zerstören. Zu den Kampfpanzern gehören aktuell beispielsweise der deutsche Leopard 2, der amerikanische M1 Abrams, der französische Leclerc und die russischen T-90 sowie T-14. Auf Englisch werden sie als main battle tanks (MBTs) bezeichnet, was ihre Rolle hervorhebt: Am stärksten bewaffnet und geschützt stellen sie die imposantesten Bestandteile der mobilisierten Truppen eines Heeres dar. Schützenpanzer (IFVs) und Spähpanzer sind leichter bewaffnet und gerüstet. Sie sind gewissermaßen zwischen Kampfpanzern und Truppentransportern zu verorten. (Übersicht auf Deutsch | Übersicht auf Englisch)
Gut zu wissen: Was war da doch gleich mit den Gewichtsklassen? In der Vergangenheit wurden Panzer je nach Gewicht in “leicht”, “mittel” und “schwer” eingeteilt. Mit der Entwicklung von MBTs, also modernen Kampfpanzern, hat sich die Einteilung allerdings etwas abgenutzt: Die neuen Gefährte verbinden das Beste aus allen Kategorien, nämlich schwere Feuerkraft und Panzerung bei vergleichsweise hoher Mobilität. Stattdessen findet heute eher eine Klassifizierung nach Aufgabe statt, wie Namen wie Infantry Fighting Vehicle oder Spähpanzer eben verdeutlichen. Dennoch ist medial und auch im militärischen Diskurs mitunter noch von “schweren” oder “leichten” Panzern die Rede, da das ein schnelles Bild vom fraglichen Fahrzeug bietet. So wird beispielsweise der AMX-10RC gerne mal als leichter Panzer bezeichnet, egal was die Wörterbücher davon halten.
Was es fürs Schlachtfeld verspricht
Ihr Status als “Panzer” mag bestreitbar sein, doch wie viel nützen die deutschen, französischen und amerikanischen Zulieferungen? Ob sie nun den ganzen Krieg aufwirbeln können, darüber gehen unter den Beobachtern die Meinungen auseinander (€), doch einen großen Effekt werden sie in jedem Fall haben: Die insgesamt schätzungsweise 150 Panzer (die whathappened-Redaktion wird den Begriff im Folgenden relativ liberal nutzen), welche die Ukraine in den kommenden Wochen erhält, dürften die Speerspitze ihrer mobilen Truppen bilden. Das wird ausgerechnet jene Manöver erleichtern, in welchen sich die Ukraine bislang als äußerst geschickt erwiesen hat: Das mobile Umgehen der feindlichen Linien, um so schwer befestigte Stellungen unter Druck zu setzen und die trägen russischen Kommunikationslinien überzustrapazieren. Vor allem die Überraschungsoffensive in Charkiw mache davon viel Gebrauch; mit den neuen Schützen- und Spähpanzern gewinnt die Ukraine für jedwede Winter- oder Frühjahrsoffensive bedeutend an Schlagkraft.
Ein Blick auf die Details lohnt sich, um das Potenzial der Lieferung wertzuschätzen. Marder und Bradleys besitzen Ketten, was die Bewegung in schwierigem Terrain ermöglicht. Das ist wichtig, da in der Ukraine nicht überall der Boden festfriert, sondern stattdessen mancherorts matschig bleibt. Der AMX hat nur Räder, was ihn hauptsächlich auf die Straßen verbannt, doch ist dafür schnell, wendig und wartungsärmer als ein Kettenfahrzeug. Der Bradley besitzt zudem thermische Visiere für den Nachtkampf, was den operativen Raum vergrößert, da Russland diesen bislang eher vermieden hat. (€)
Alle drei Panzermodelle sind nicht nur auf das Gefecht mit Infanterie (oder im Falle der zwei Schützenpanzer auch deren Transport) spezialisiert, sondern interessanterweise auch auf den Kampf mit gegnerischen Panzern. Der als Spähpanzer harmlos wirkende AMX ist wie erwähnt ein Panzerzerstörer: Seine 105-Milimeter-Kanone – auf die Größe der Geschosse bezogen – ist auf das Ausschalten alter sowjetischer Panzer spezialisiert, welche noch immer einen ordentlichen Teil der russischen Armee ausmachen. Auch der Bradley ist dank sogenannter Treibspiegel und schwerer BGM-71 TOW-Lenkgeschosse imstande, selbst moderne Panzer auszuschalten, für welche der AMX etwas veraltet ist. Im Irakkrieg zerstörten Bradleys mehr Panzer – übrigens überwiegend sowjetischer Bauart – als die großen M1-Abrams-Kampfpanzer. Bedingung ist in der Regel, dass der Treffer an der richtigen Stelle sitzt, doch dabei hilft, dass die drei Quasi-Panzer deutlich mobiler sind als, nun ja, echte Panzer. Auch der Marder ist gut ausgestattet, fällt vor allem bei seiner Panzerung auf, welche dem Leopard 1 – einem Kampfpanzer – nachempfunden ist. Marder, AMX und Bradley sind für die Ukraine große Zugewinne.
Ein Blick in die Glaskugel
Es bleiben Herausforderungen. Die Ukraine muss schnell lernen, wie sie die neuen Panzertypen überhaupt jeweils bedient, wie sie sie alle drei miteinander im Gefecht koordiniert – schließlich bleiben es völlig unterschiedliche Modelle – und wie sie ihre neuen mobilen Truppen in ein stimmiges Ganzes mit der bestehenden Infanterie und Artillerie einpflegt. Für diesen sogenannten combined arms-Ansatz planen die USA offenbar bereits Trainings. (€)
Und dann wäre da natürlich, dass die Schützen- und Spähpanzer bei aller Nützlichkeit noch nicht ganz das sind, worauf die Ukraine gehofft hatte. General Walerij Saluschnyj hatte in einem Interview (€) mit dem britischen Economist zwar auch nach “600 bis 700 IFVs [und] 500 Haubitzen” gerufen, doch eben auch nach “300 Panzern”. Und damit waren nicht die macronschen “leichten Kampfpanzer” (sic) gemeint, sondern das, was heute main battle tanks heißt: Leopard 2, Leclerc und Co. Erstere gelten, bei aller Häme über die Bundeswehr, als hochmoderne Panzer, welche zudem einfacher zu bedienen sind als amerikanische M1 Abrams. Die deutsche Politik wehrt sich allerdings nach wie vor gegen die Lieferung solch schweren Geräts und auch andere Staaten machen keine Anstalten, ihre modernsten Panzer zu entsenden (mit Ausnahme Polens, welches mutmaßlich erwägt, Leopard 2 aus eigenen Beständen (€) an Kiew zu übergeben, aber deutsche Zustimmung benötigt).
Dennoch ist die jetzige “Runde” an Waffenlieferungen auch mit Hinblick auf zukünftige Lieferungen bedeutsam. Erstens, aufgrund der oben beschriebenen Eigenschaften, völlig unabhängig der Definitionsdebatte. Zweitens, weil die Lieferung von Kampfpanzern damit ein gutes Stück näher rückt. Gesichert ist sie natürlich nicht, doch die jetzige Runde dürfte das Ergebnis dreier Faktoren sein, welche vorerst weiterhin Bestand haben werden: Erstens, anhaltender diplomatischer Druck durch die Ukraine und aktive Unterstützer wie Polen. Zweitens, die Realisierung, dass weiteres Militärgerät vonnöten ist, um die verhärtete Front wieder zugunsten der Ukraine in Bewegung zu bringen, am besten pünktlich um eine erschöpfte russische Winteroffensive auszunutzen. Drittens, die Realisierung, dass das realistische russische Eskalationspotenzial ausgereizt sein könnte. Die Ukraine argumentiert das seit langem, denn viel mehr als eine vollwertige Invasion mit Teilmobilmachung und willkürlichem strategischen Bombardement ihrer zivilen Infrastruktur kann aus ihrer Sicht nicht passieren. Nuklearschläge oder ein Angriff auf NATO-Gebiet sind in diesem Argument sinnlos und somit unwahrscheinlich. Tatsächlich reagierte der Kreml im Grunde gar nicht auf die jetzige Ankündigung der Panzerlieferungen und fuhr in den vergangenen Monaten seine Nukleardrohungen immer weiter zurück. Sollten Washington, Berlin und Paris zustimmen, dass Moskau nicht mehr realistisch eskalieren kann – warum dann nicht mehr liefern?
Anfang April 2022 wurde zum ersten Mal bekannt, dass ein westlicher Staat Panzer in die Ukraine entsandt hatte, nämlich Tschechien mit altem Sowjetgerät. Das sei “still” geschehen, also fast heimlich, titelte das Wall Street Journal damals. Fast auf den Tag genau neun Monate später werden fraglos schlagkräftige Sozusagen-Panzer mit viel diplomatischem Trommelwirbel in den Krieg entsandt. Womöglich folgen bald doch erste Leopard 2. Das wäre nicht nur eine spektakuläre Wende in der deutschen militärischen Außenpolitik, es wäre auch keine Panzerdefinitionsdebatte vonnöten.