Wir bringen dir ein Update zu den Storys, die wir in den letzten Monaten behandelt haben. Diese Ausgabe: Afghanistan.
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Afghanistan, ein Jahr danach_
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Vor beinahe genau einem Jahr, am 15. August 2021, eroberten die Taliban Afghanistan zurück. Die Miliz erzielte nach einem zwanzigjährigen Abnutzungskrieg einen unwahrscheinlichen Sieg gegen die Supermacht USA ; sie hatte geduldig darauf gewartet, dass Washington den Willen zu Afghanistan verliert und dann geschickt gegen die überforderte, prowestliche Regierung in Kabul manövriert. In kürzester Zeit brach der bestehende Staat zusammen und die zweite Ära der Taliban begann, deren Startschuss die chaotische Flucht des Westens vom Flughafen Kabul abgegeben hatte.
In einem ersten Explainer im Juli 2021, als noch unklar war, wie der Konflikt ausgehen würde, beschrieb die whathappened-Redaktion die historischen Pfadabhängigkeiten, welche zum heutigen Afghanistan – gezeichnet durch Krieg und Krise – geführt hatten. Im Januar 2022 folgte dann ein Update: Ein Blick darauf, wie es Afghanistan unter den Taliban ergangen war. Zeit, zum einjährigen Jubiläum noch einmal Bilanz zu ziehen.
Keine Rechte
Worüber nicht viele Worte verloren werden müssen, weil die Antwort doch allzu klar ist, ist die Lage der Menschenrechte in Afghanistan. Die Taliban hatten ein Stück Liberalisierung versprochen, doch davon materialisierte sich weder in den ersten sechs, noch in den ersten zwölf Monaten etwas. Im neuen Afghanistan weht derselbe Wind wie schon 1996: Politische Unterdrückung, Verfolgung von ethnischen Minderheiten, das Fehlen eines Rechtsstaats (hier und da von der radikalislamischen Scharia ersetzt), Zerstörung des kulturellen Raums und ein komplettes Ausscheiden der Hälfte der Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben – der Frauen.
Die Lage der afghanischen Frauen hat sich in den vergangenen zwölf Monaten massiv verschlechtert, nachdem sie sich unter den prowestlichen Regierungen deutlich verbessert hatte. Wir berichteten bereits in unserem Januar-Update von bedeutenden Einschränkungen beim Zugang zu Bildung und bei der Bewegung im öffentlichen Raum. Afghanistan sei ein “Freiluftgefängnis” für Frauen. Im Juli brachte die Menschenrechte-NGO Amnesty International es mit Bezug auf eine interviewte Afghanin ähnlich auf den Punkt: Frauen in Afghanistan würden einen “Tod in Slowmotion” erleben. In den sechs Monaten seit unserem letzten Update verboten die Taliban Frauen das Betreten von Flugzeugen ohne männliche Begleitung sowie Mädchen das Besuchen der weiterführenden Schule; letzteres nur wenige Tage, nachdem sie das Gegenteil versprochen hatten. Sie führten Geschlechtertrennung in Vergnügungsparks und regulären Parks ein. Und sie beschränkten die Fähigkeit der Frauen, zu arbeiten – mal durch ausdrückliche Verbote, mal durch Schikane. So zwangen sie Frauen im Fernsehen, darunter TV-Moderatorinnen, sich zu verschleiern, woraufhin männliche Kollegen aus Solidarität ebenso Masken trugen. Der bisherige coup de grâce war die verpflichtende Einführung der Burka im Mai: Frauen hören im öffentlichen Raum wieder auf zu existieren.
Die Frauen leiden im Taliban-Afghanistan am stärksten, doch nicht als einzige. Männer müssen sich Bärte wachsen lassen, um ihren Job nicht zu verlieren, und unterliegen ebenso Kleidungsregeln, wenn auch deutlich flexibleren. Weigert sich eine Frau, ihre Burka zu tragen, werden ihre “männlichen Hüter” zu bis zu drei Jahren Haft verurteilt. Ethnische Minderheiten, darunter die Hazara und Tadschiken, scheinen von den Taliban gezielt ermordet oder den im Land agierenden Terrormilizen schutzlos ausgeliefert zu werden. Anstelle eines Ministeriums für Frauenrechte und einer Menschenrechtekommission, Einrichtungen der alten Regierung, wacht das “Ministerium für Tugend und Laster” über die Einhaltung der Talibanschen Weltanschauung.
Tiefe Krise
Die tiefe Wirtschaftskrise, welche Afghanistan nach der Machtergreifung ergriffen hatte, dominiert das Land nach wie vor. Etwa 19 Millionen Menschen, rund die Hälfte des Landes, leiden laut Schätzungen der UN unter einer unsicheren Nahrungsmittelversorgung. 90 Prozent nehmen weniger Nahrung als empfohlen zu sich. Kein Wunder, lagen die Preise für verschiedene grundlegende Lebensmittel im Juli doch 50 Prozent höher als im Vorjahr. Hintergrund ist eine Banken- und Liquiditätskrise, welche dazu geführt hat, dass Afghanistan nicht mehr genug Geld hat, um eine funktionierende Wirtschaft aufrechtzuerhalten.
Die humanitären Konsequenzen sind verheerend. Es gibt anekdotische Hinweise darauf, dass immer mehr Afghanen ihre jungen Töchter zwangsverheiraten, Kinder aus der Schule abziehen, sich verschulden oder Organe verkaufen. Der Westen reagiert allmählich und toleriert dafür auch die indirekte Finanzierung der Taliban: Die USA geben die Hälfte ihrer beschlagnahmten Gelder der afghanischen Zentralbank, also 3,5 Milliarden USD, frei, um humanitäre Aktivitäten im Land zu finanzieren. Ein Teil der Mittel wird seinen Weg in die Hände der Taliban finden müssen.
ISIS-K und al-Qaida
Es ist nicht nur die humanitäre Lage, sondern auch die Sicherheitslage, welche im Taliban-Afghanistan schwach ist. Die Islamisten sind zwar zur faktischen Regierung aufgestiegen, doch andere Gruppen haben ihren Mantel als Terrormiliz übernommen. ISIS-K, ein lokaler Ableger des Islamischen Staats, bekämpft die Taliban und führt seit einem Jahr regelmäßig Anschläge durch, vornehmlich gegen Minderheiten. Die auf Afghanistan spezialisierte UN-Organisation UNAMA zählt 2.106 zivile Opfer seit August 2021. Erst im August dieses Jahres tötete die Gruppe einen hochrangigen Würdenträger der Taliban, Rahimullah Hakkani, durch eine in einer Beinprothese versteckte Bombe. Hakkani hatte Brandreden gegen den IS gehalten und lautstark die Frauen- und Mädchenbildung unterstützt.
Gut zu wissen: Der IS mag eine neue Bedrohung sein, doch auch alte Gesichter finden im neuen Afghanistan einen Platz. Der langjährige al-Qaida-Chef Ayman al-Zawahiri, welcher die Führung der Terrormiliz nach der Tötung von Osama bin Laden 2011 übernommen hatte, wohnte mitten im Zentrum von Kabul, als eine amerikanische Drohne ihn ermordete. Das ist heikel, denn die Taliban hatten Washington im Doha-Abkommen, welches zum US-Ausstieg aus Afghanistan führte, zugesichert, dass sie nicht mehr zum Ursprungsort für Anschläge auf die USA werden würden. Kein guter Eindruck also, dass der al-Qaida-Chef wenige Monate nach ihrer Machtübernahme in ein Nobelviertel der Hauptstadt einzieht. Zawahiris Tötung geschah übrigens zu einem kritischen Moment für al-Qaida, denn es mehrten sich zuletzt die Hinweise, dass die Terrorgruppe sich wieder als Leitstern des globalen Islamismus etablieren möchte.
Im entlegenen Pandschirtal setzt sich derweil ein offener Widerstandskampf gegen die Taliban fort. Die Rebellion aus ethnischen Tadschiken und Anhängern der gestürzten pro-westlichen Regierung macht zugegebenermaßen keine Anstalten, das Land in absehbarer Zeit zurückzuerobern. Die Taliban kontrollieren die Bevölkerungszentren und sind selbstbewusst genug, um westliche Journalisten gelegentlich ohne Beaufsichtigung in die Region zu lassen. Dennoch scheinen signifikante Kämpfe weiterzugehen: Zivilisten berichten von Lkws, in welchen die Körper gefallener Taliban-Kämpfer weggefahren würden und die Gruppe räumt ein, dass Tausende Kämpfer in die Region verlagert wurden, darunter Eliteeinheiten. Ein Taliban-Kommandant beschwichtigt: Die Soldaten seien lediglich dort, um Polizeiarbeit zu verrichten; alles sei in bester Ordnung.
Pakistan und die USA
Die Realität, dass die Taliban in Afghanistan reagieren, hat einige außenpolitische Implikationen. Für Pakistan sind sie am direktesten. Das Nachbarland unterstützte die Taliban schon in den frühen 1990ern und verhalf ihnen zur ersten Machtergreifung, behielt danach viel Einfluss über die Gruppe. Dabei handelt es sich um ein offenes Geheimnis, welches Islamabad regelmäßig halbherzig abstreitet. 2022 ist nicht mehr ganz klar, wer bei wem wie viel Einfluss ausübt: Pakistan hat seine eigenen Taliban, die Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), welche die Zentralregierung bekämpfen. Sie sind durch den Sieg der Taliban in Afghanistan gestärkt worden und intensivieren ihre Operationen in Pakistan. Dessen Regierung beklagt, dass Kabul zu wenig gegen die TTP unternehme; im Gegenteil, sie gar von seinem Territorium aus agieren lasse. Ironischerweise ist es also Pakistan, welches als erstes beklagt, dass Afghanistan wieder Zufluchtsort für Terroristen geworden sei.
Für die USA geht es in Afghanistan jetzt vor allem um Aufarbeitung. Aktionen wie die Tötung der al-Qaida-Führung zeigen, dass Washington das Land nicht vollständig vergisst, doch der Abzug ist vollbracht und unumkehrbar. Dass dieser Abzug chaotisch verlief, ist allseits bekannt. Die Einschätzung als “Desaster” wird von den allermeisten Beobachtern geteilt, auch wenn die Biden-Regierung selbst den Abzug als notwendigen Schritt bezeichnet und die Episode am Flughafen Kabul als komplizierteste und größte Flugevakuation der Geschichte lobt. Im Hintergrund gärt die Frage, wer die Verantwortung für den Kollaps des pro-westlichen Afghanistans trägt. Die US-Behörde SIGAR kommt zu einem vernichtenden, doch wohl kaum überraschenden Ergebnis: Es sei tatsächlich der Abzug der US-Militärkapazitäten gewesen. Das habe die Moral in der afghanischen Armee, welche zudem strukturell und technologisch auf die Partner angewiesen war, zerstört. Zudem fehlte einfach ganz praktisch ein großes Stück Feuerkraft gegen die Taliban.
Doch lässt sich auch genauer Verantwortung zuordnen? Klar scheint, dass die amerikanischen Geheimdienste – wie übrigens viele Beobachter in der Welt – die Lage vor Ort falsch eingeschätzt hatten. Kaum jemand hatte einen derartig gründlichen, vollständigen und desolaten Kollaps des afghanischen Staates und seiner Armee erwartet. Politisch ließe sich die Verantwortung irgendwo zwischen Ex-US-Präsident Trump und Präsident Biden verorten. Ersterer hatte das Doha-Abkommen iniitiert, bei welchem die USA direkt mit den Taliban über einen Truppenabzug verhandelten und die afghanische Regierung übergingen. Damit gab er den Startschuss für einen Rückzug. Präsident Biden hätte die Maßnahme kassieren können, doch fuhr mit ihr fort, wenn auch mit einem leicht verschobenen Datum.
Die politische Schuld wird nicht allzu schnell verteilt werden, doch das Informationsversagen erhält mehr Aufmerksamkeit. Das US-Militär und eine Reihe anderer Einrichtungen, darunter der Kongress, arbeiten das geheimdienstlich-militärische Versagen in Afghanistan derzeit oder demnächst auf. Gleichzeitig stehen die neuen Themen im Weg: Der Ukrainekrieg frisst derart viele amerikanische Kapazitäten, dass Afghanistan nur noch in die zweite Riege der Relevanz gerutscht ist.
Gut zu wissen: Auch in Deutschland stößt die Taliban-Ära Veränderungen an. Die Bundeswehr musste beim Abzug aus Afghanistan feststellen, dass sie ohne Unterstützung der USA kaum einsatzfähig war. Also prüft ein Untersuchungsausschuss, was genau schiefgelaufen war und was verändert werden muss.
Drei kleine Fast-Lichtblicke
Muss im neuen Afghanistan ein Lichtblick gefunden werden, so ist es trotz aller Schwächen doch die Sicherheitslage. Denn ISIS-K und Pandschirtal hin oder her, der Krieg zwischen Zentralregierung und Taliban ist immer noch Vergangenheit. Der Thinktank Crisis Group erkennt für den Zeitraum September 2021 bis Juli 2022 87 Prozent weniger (€) Schussgefechte, Drohnenangriffe oder Suizidattacken als im Vorjahreszeitraum. Auch UNAMA sieht einen “signifikanten Rückgang” an bewaffneter Gewalt. Insbesondere Afghanen im ländlichen Raum, welche im Bürgerkrieg schon einmal in die Schusslinie gerieten, geht es im “besiegten” Afghanistan besser, einfach, weil ihre körperliche Unversehrtheit gewährleistet ist. Von Hungerkrisen einmal abgesehen.
Ein zweiter Lichtblick ist, dass die Zivilgesellschaft nach wie vor lebt. Gestärkt aus zwanzig Jahren an relativem wirtschaftlichem Fortschritt und gesellschaftlicher Inklusion, wagen kleine Gruppen hauptsächlich urbaner Eliten offenen Protest: Frauenaktivisten gingen in den vergangenen zwölf Monaten mehrfach auf die Straße, zuletzt am Vortag dieses Explainers. Vor mehreren Monaten kam es zu Demonstrationen gegen den pakistanischen Einfluss im Land. Die Proteste sind klein und keine Dauererscheinung, doch in Anbetracht der repressiven Atmosphäre im Taliban-Afghanistan dennoch bemerkenswert. Teilnehmer gehen hohe Risiken ein, denn die Miliz reagiert extrem robust, auch wenn sie sich mit zunehmender Machtkonsolidierung etwas zu beruhigen scheint. “Sie haben uns dieses Mal nicht sonderlich viel geschlagen”, so eine Protestlerin Mitte August.
Ein dritter Lichtblick ist, dass das internationale System aus Hilfsorganisationen bislang das Schlimmste in Afghanistan verhindern konnte. Eine schwere, akute Hungersnot stellte sich im vergangenen Winter nicht ein, so die UN-Sonderbeauftragte Deborah Lyons Anfang März. Die Organisationen hätten Hilfslieferungen an 20 Millionen Afghanen geleistet. Doch die “Lichtblicke” im modernen Afghanistan erfordern nun einmal allesamt reichlich Fantasie. Sei es Sicherheit, die es nur gibt, weil die Terrormiliz gewonnen hat; die Proteste, welche sich über etwas weniger Prügel freuen als noch in den Vormonaten; oder die Hungerkrise, welche knapp vermieden werden konnte, auch wenn fast das gesamte Land weiterhin zu wenig isst. Lyons fasst es zusammen: “Alles, was wir erreicht haben, ist nur, ein wenig Zeit herauszuschlagen”.