Wir bringen dir ein Update zu den Storys, die wir in den letzten Monaten behandelt haben.
Diese Ausgabe: Brasilien.
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Brasilien unter Bolsonaro_
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Im März 2021 berichtete whathappened über ein politisches Erdbeben in Brasilien: Luiz Inacio Lula da Silva, kurz “Lula“, war soeben aus der politischen Verbannung befreit worden. Rein physisch war der ehemalige Präsident Brasiliens zu diesem Zeitpunkt bereits knapp zwei Jahre lang aus der Haft, in welche ihn ein umstrittener Korruptionsskandal befördert hatte, doch erst vor anderthalb Jahren wurde auch seine Verurteilung annulliert. Lula war wieder im Rennen für die nationale Politik und das hatte das Potenzial, alles zu verändern.
Wir erklärten, was Lula besonders machte. Wie der einstige Schuhputzer zum Gewerkschaftsboss aufstieg und nach drei Anläufen 2002 zum ersten linken Präsidenten des Landes wurde. Wie er ein skeptisches Brasilien begeisterte und zum inoffiziellen Sprecher des globalen Südens – grob gesagt der Schwellen- und Entwicklungsländer – geriet, welcher selbst unter den Staatsführern der industrialisierten Welt hochbeliebt war. Wie er 2010 nach zwei Amtszeiten vorbildlich demokratisch und mit spektakulären 87 Prozent Zustimmung das Amt verließ.
Wir erklärten allerdings auch, warum Lulas Vermächtnis kein ganz einfaches war. Seine beliebte Wirtschaftspolitik, welche das Land beeindruckende Entwicklungssprünge machen ließ, war nicht nachhaltig und kollabierte zeitgleich mit den globalen Rohstoffpreisen. Unter Lulas handgewählter Nachfolgerin Dilma Rousseff schritt das Land entsprechend rasant in die falsche Richtung, gefangen zwischen hoher Inflation, leeren Staatskassen und wachsender Verschuldung. Der große Korruptionsskandal “Lava Jato”, benannt nach der unauffälligen Tankstelle, an welcher die Ermittlungen ihren Anfang fanden, stürzte Rousseff, brachte Lula ins Gefängnis und seine Arbeiterpartei PT in Verruf.
Für ein Update ist es allein schon Zeit, weil am 2. Oktober – und dann in der Stichwahl am 30. Oktober – die Präsidentschaftswahl in Brasilien bevorsteht. Der Politrückkehrer Lula hat beste Chancen, Amtsinhaber Jair Bolsonaro zu vertreiben. In Umfragen führt er mit rund 13 Prozentpunkten, ein kräftiger Vorsprung. Doch die Wahl dürfte heikel und besonders werden. Hauptverantwortlich ist Bolsonaro. So wie unser Explainer im März Lula in den Fokus rückte, so werfen wir jetzt ein Licht auf seinen Widersacher.
Explainer zu Brasilien und Lulas Rückkehr (März 2021)
Making Bolsonaro
Jair Messias Bolsonaro hätte kaum einen passenderen Zweitnamen haben können, immerhin gilt er seinen Anhängern tatsächlich als beinahe religiöse Figur, welche das Land vor dem Kommunismus und der Zerstörung der Kirche bewahren muss. Bevor Bolsonaro in diese Position kam, legte er einen Lebensweg hinter sich, welcher zumindest am Anfang kaum stärker von seinem Rivalen Lula hätte abweichen können. Wo letzterer ohne formelle Bildung als Schuhputzer, Straßenhändler und Fließbandarbeiter arbeitete, trat Bolsonaro der Armee bei und lernte in einer Militärakademie. Seine militärische Karriere war allem Anschein nach kompliziert: Bolsonaro wurde zwischenzeitlich Meuterei (pt) vorgeworfen, wobei der Fall aufgrund mangelnder Beweislage fallengelassen wurde. Zudem beklagte er öffentlichkeitswirksam einen zu niedrigen Sold für das Heer, was ihm weiteren Ärger (pt) einbrachte. Eine gewisse charmante Parallele zu Lula lässt sich ziehen, schließlich wurde dieser fast zur selben Zeit erstmals in einer Gewerkschaft aktiv. Mit 33 Jahren – auch hier ähnelt sich der Werdegang der beiden Kontrahenten – trat Bolsonaro dann in die Politik ein. Nach einem kurzen Anfang in der Kommunalpolitik verbrachte er 27 Jahre, von 1991 bis 2018, als Kongressabgeordneter der Metropole Rio de Janeiro. Und dann folgte die Präsidentschaft.
Bolsonaro positionierte sich in der Präsidentschaftswahl 2018 als der Anti-Establishment-Kandidat. Er war die Wahl für jene, welche mit Lulas PT unzufrieden waren, deren Spitzen soeben besagtem “Lava Jato”-Korruptionsskandal zum Opfer gefallen waren; als auch mit den Moderaten unter Präsident Michel Temer, welcher nach der Amtsenthebung von Dilma Rousseff eine unbeliebte Austeritätspolitik als Reaktion auf die Wirtschaftskrise eingeleitet hatte. Zudem stand er für einen bolsonarismo ein, welcher selbst den europäischen Rechtspopulisten zu weit gehen würde: Im Grunde geht es um einen extremen Sozialkonservatismus mit nationalistischen Zügen und einen Fokus auf law and order, also eine strikte Justiz und robuste öffentliche Sicherheit. Bolsonaro war eine hochkontroverse Figur, was wohl am besten dadurch verdeutlicht wird, dass er inmitten des Wahlkampfs einem Messerattentat zum Opfer fiel, dessen Folgen ihn bis heute zu beeinträchtigen scheinen. Dennoch, es reichte für ihn: Er setzte sich in der Stichwahl gegen den Kandidaten der PT – nicht Lula, welcher aufgrund seiner Verurteilung von der Wahl ausgeschlossen war – unerwartet souverän durch.
Bolsonarismo
Präsident Bolsonaro tat dem Kandidaten Bolsonaro alle Ehre. Er lieferte den versprochenen Sozialkonservatismus, beispielsweise als er Kirchenschulden vergab, die Abtreibung durch ein elfjähriges Vergewaltigungsopfer öffentlich kritisierte oder seine Regierung bei der Abschaffung von Roe v Wade, der Rechtsgrundlage für Abtreibung in den USA, mithelfen ließ. Sehr oft wählte er eine schamlos populistische Rhetorik, so als er Flüchtlinge aus bestimmten Ländern den “Abschaum der Erde” (pt) nannte, das Verbot der Homophobie durch das Oberste Gericht kritisierte und der Weltgesundheitsorganisation WHO vorwarf, Kinder zum Schwulsein und zum Masturbieren anzuregen.
Die Wirtschaftspolitik Bolsonaros ist erratischer. Auf der einen Seite schien Bolsonaro wie der Kandidat der Wirtschaft; stand für freien Markt und Privatisierungen. Andererseits intervenierte er munter, verteilte großzügige Hilfsleistungen an Lkw-Fahrer, erließ Treibstoffsubventionen und ließ (im Vorfeld der aktuellen Wahl) Geldgeschenke an arme Brasilianer senden. Ein libertärer Ansatz blitzte vor allem in der Klima- und Umweltpolitik durch: Bolsonaro hob Umweltregularien auf, wo er nur konnte (€); unterstützte Viehzüchter, Bergleute und Landwirte und legalisierte illegale Anbauflächen.
Der Präsident hat auch die Waffenfreunde auf seiner Seite. Er hat die Regulation rund um Waffenbesitz deutlich gelockert, womit sich die Zahl der Schusswaffen in privatem Besitz in seiner Amtszeit auf zwei Millionen verdoppelt hat. Das trifft durchaus auf einen Nerv, denn die hohe Gewaltkriminalität in Brasilien macht Schusswaffen für viele Brasilianer attraktiv. Bolsonaro setzt aus demselben Grund auch auf eine robustere Polizeiarbeit, ganz im Sinne von law and order, welche dem Mantra “Schieß zuerst” untersteht. Verbrecher sollen “wie Kakerlaken sterben” (da wäre wieder der Populismus) und Polizisten, welche mutmaßliche Verbrecher töten, würden von ihm rechtlichen Beistand erhalten. Damit erinnert Bolsonaro an Rodrigo Duterte, den Ex-Präsidenten der Philippinen, und dessen brutalen “Drogenkrieg”.
Trump der Tropen
Der Duterte-Vergleich ist in mehr als einer Hinsicht zutreffend, immerhin wurden sowohl Bolsonaro als auch Duterte mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump verglichen. Bolsonaro selbst suchte den Vergleich, bezeichnete seinen Konterpart als Vorbild und pflegte beste Beziehungen zum Trumpschen Washington. “Trump der Tropen” etablierte sich als Spitzname. Die Parallelen sind denkbar einfach zu ziehen. Das wohl auffälligste Bindeglied ist der Populismus der beiden, welcher die Welt tribalistisch in Gut und Böse trennt; vor ominösen Kräften warnt, welche die integre Mehrheit attackieren; und die nicht näher definierten Eliten bezichtigt, mal raffiniert-korrupt, mal hilflos-unfähig (und oftmals irgendwie beides gleichzeitig) das Land in den Ruin zu treiben. Stoppen lässt sich der Verfall nur, wenn die integre Mehrheit – meist durch das eigene Wählerklientel dargestellt – schnell genug das Ruder übernimmt.
Bei Bolsonaro äußert sich ein solcher Populismus, wie schon erwähnt, in solider Regelmäßigkeit und beinahe überall. Wenn es um die Liberalisierung des Waffenrechts geht, gibt sich der Präsident nicht mit einem legitimen Verweis auf die hohe Kriminalität zufrieden, sondern warnt seine Brasilianer zudem davor, sich nicht “versklaven” (€) zu lassen, offenbar von schattenhaften Kräften. Also müsse sich “jeder, verdammt nochmal” ein Gewehr kaufen. “Fake News” ist bei ihm seit langem ein Begriff, welcher gegen jegliche Kritik bemüht wird. Doch im aktuellen Wahlkampf zeigt sich der bolsonarische Populismus auf Hochtouren. Der politische Gegner ist nicht einfach auf dem Irrweg, er ist ein Feind: Es sei gut, wenn sich seine Rivalen zusammenschließen, so Bolsonaro im Mai, da “eine einzige kleine Granate alle töten kann” (€). Bolsonaro und sein Team pflegen eine Rhetorik, welche das Lula-Lager als Antichristen darstellt: Der Ex-Präsident wolle eine kommunistische Diktatur aufbauen, das Land im Stile Venezuelas und Nicaraguas verarmen lassen, die Religion verbieten, Drogenbanden gewähren lassen und der Korruption frönen. Es sei ein Kampf zwischen Gut und Böse, so Bolsonaro wortwörtlich Anfang September. Die Rhetorik hat längst Folgen: Anfang September ermordete ein Bolsonaro-Anhänger einen Lula-Unterstützer nach einem politischen Disput. Einen ähnlichen Vorfall gab es schon im Juli.
In bester Trumpscher Manier schürt Bolsonaro außerdem Zweifel an der Integrität der Wahl, um sich die Möglichkeit zu verschaffen, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen. Er kritisiert das elektronische Wahlsystem Brasiliens als unsicher, obwohl dieses seit 25 Jahren eine gute Reputation genießt. Nur 25 Prozent (€) der Bolsonaro-Anhänger halten das Wahlsystem für sehr sicher, gegenüber 60 Prozent der Lula-Anhänger. Dass die Wahlbehörde TSE oder der Senat die Sicherheit des Systems betonen, dürfte wenig helfen. Ähnlich wie die Trumpisten in den USA stützen sich die Bolsonaristas kaum auf konkrete Verdachtsfälle, da diese zu wenig und zu schwach ausfallen (in Brasilien wird halbherzig auf einen Hackingversuch bei der Wahl 2018 verwiesen, laut Bolsonaro durch Russland), und belassen es stattdessen bei der diffusen Beteuerung, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen muss. Sollte der Präsident seinen Trumpf ziehen und eine Wahlniederlage kurzerhand nicht anerkennen, fürchten Beobachter eine Eskalation im Stile der Kapitolerstürmung in den USA. Es hilft nicht, dass Bolsonaro davon spricht, dass seine Zukunft aus “Gefängnis, Tod oder Sieg” bestehe. Darin deutet sich eine Dimension an, welche Brasilien von den USA abhebt und die kommenden Monate deutlich riskanter macht: die Rolle des Militärs.
Der Mann des Militärs
Bolsonaro war ein Zögling der brasilianischen Militärdiktatur. Als sie 1964 in einem Putsch, offenbar mit Unterstützung der USA, hergestellt worden war, war Bolsonaro gerade neun Jahre alt. Als er 1974 in die Militärakademie eintrat, begann die Junta eine allmähliche “Redemokratisierung”, welche elf Jahre später in einer freien Präsidentschaftswahl gipfeln würde. Bolsonaro machte sich unter Kollegen in der Armee in dieser Zeit einen Namen als Hardliner, welcher die Demokratisierung und schließlich die demokratische Regierung scharf kritisierte. Entsprechend verhielt er sich als Politiker und Präsident, lobte regelmäßig die Militärdiktatur und zweifelte an der Stärke demokratischer Regierungen. Kaum im Amt, füllte er Stellen in der öffentlichen Verwaltung und sogar im Kabinett mit Militärs, insgesamt über 6.000 Personalien. Laut Christoph Heuser, Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien, hat die Armee unter Bolsonaro sogar mehr Einfluss als zu Zeiten der Militärdiktatur.
Die Sorgen in Brasilien reichen damit bis zu einem Militärputsch. Der Präsident selbst tut wenig, um diese Sorgen zu zerstreuen. Im Gegenteil: “Die Armee ist auf unserer Seite“, so Bolsonaro bei einer Wahlrallye, “[…] sie toleriert keine Korruption, keinen Betrug. Sie verlangt Transparenz.” – passend zu seinem Mantra, dass er das Wahlergebnis nur akzeptieren würde, wenn es “transparent” sei. Vor zwanzig Jahren hatte sich Bolsonaro in einem Fernsehinterview übrigens bemerkenswert offen geäußert: “Es gibt daran nicht den geringsten Zweifel. Ich würde am selben Tag [an dem er zum Präsidenten gewählt würde] einen Putsch durchführen. Der Kongress funktioniert nicht. Ich bin sicher, dass 90 Prozent der Bevölkerung applaudieren würde” (Video, pt). Nun ist Brasilien auch im vierten Jahr seiner Präsidentschaft noch eine Demokratie und die Aussage lässt sich womöglich als Übertreibung abtun. Doch zahlreiche Brasilianer fragen sich tatsächlich, wozu der ehemalige Offizier imstande wäre.
Was Brasilien droht
Ein Militärputsch bleibt unwahrscheinlich. Die Offiziere mischen sich zwar nach wie vor in die Tagespolitik ein – beispielsweise, als sie mit einer unverhohlenen Drohung auf den Obersten Gerichtshof Druck ausübten, um eine Haftstrafe für Lula zu erwirken -, doch das Militär hat sich in den letzten Jahrzehnten ordentlich mit der Demokratie arrangiert. Ein Putsch wäre eine Hochrisikoaktion, welche für einen verzweifelten Bolsonaro Sinn ergeben mag (welchem aufgrund von Korruptionsermittlungen das Gefängnis drohen könnte, sollte er nicht wiedergewählt werden), doch nicht für die Militärs, für welche Lula kaum genug Gefahr darstellt, als dass sie ihre Posten und ihre Freiheit riskieren müssten.
Der wahrscheinlichste Schaden für Brasilien ist derselbe, welcher die USA ergriffen hatte: Ein massiver Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen. Wo die amerikanische Demokratie resilient genug war, um die Manöver der Trumpisten rund um die Wahl 2020 vorerst abzuwehren, scheint Brasilien anfälliger für bleibende Schäden und politische Gewalt. Allein im laufenden Jahr sind 45 brasilianische Politiker ermordet worden; die Zahl der politischen Gewalttaten hat sich in den vergangenen drei Jahren vervierfacht. (€) Nutzt Bolsonaro das Trump-Playbook, stehen Brasilien anstrengende Monate bevor.
Lula vs. Mito
Wie wahrscheinlich ist es, dass Bolsonaro überhaupt in die Position kommt, also die Wahl verliert? Ziemlich wahrscheinlich. In Umfragen liegt Lula mit knapp 13 Prozentpunkten vorne, ein kräftiger Abstand, welcher über die Monate etwas gesunken war, doch sich jetzt stabilisiert zu haben scheint. Manch Bolsonaro-Anhänger verweist darauf, dass die Umfragen falsch lägen und man sich bloß auf der Straße umhören müsse. Tatsächlich hat Bolsonaro einen harten Kern aus Unterstützern: Auf seiner Seite bleiben erzkonservative und religiöse Brasilianer; jene, welche besonders viel Angst vor Kriminalität haben und Bolsonaros Waffen- und Sicherheitspolitik gutheißen (unter ihm fiel die Mordrate tatsächlich deutlich, auch wenn Forscher Zweifel (€) daran äußern, ob das an Bolsonaros Politik liegt); und Brasilianer im ruralen Landesinneren. Seine größten Fans nennen ihn Mito, also Mythos oder Legende, doch seinen Zweitnamen “Messias” würden manche wohl ebenso für angebracht halten.
Nichtsdestotrotz sieht es schlecht für den Präsidenten aus. Die brasilianische Wirtschaft stottert vor sich hin, mit hoher Inflation und zuletzt schwachem Wachstum. Das liegt nicht einmal unbedingt an der Bolsonaro-Regierung, sondern an der Covid-Krise, welche mit ihren knapp 815.000 Toten zum Tiefpunkt der Legislaturperiode geriet. Bolsonaros machismo, welches sich gewöhnlich in mitunter frauen- oder schwulenfeindlichen Aussagen äußert, zeigte sich in der Covid-Krise allergisch zu Masken, Impfungen oder der Medizin allgemein. Die daraus folgende “desaströse” Covid-Politik“ , so die im Grunde einhellige Einschätzung von NGOs und Analysten, brachte ihm den Zorn vieler Brasilianer ein. Daneben kämpft er mit einer unübersichtlichen Zahl an Korruptionsvorwürfen, führte zahlreiche Streits innerhalb seines Kabinetts und kollidierte regelmäßig mit Institutionen wie dem Obersten Gericht.
Lula ist seinerseits kein perfekter Kandidat. Die Zeiten von 87 Prozent Zustimmung sind vergangen, Lula und die Arbeiterpartei PT sind inzwischen derart umstritten, dass “Antipetismo” zum geflügelten Begriff geworden ist. Der Korruptionsskandal um Lula persönlich ist undurchsichtig, doch viele Brasilianer nehmen den Ex-Präsidenten in die Verantwortung (er war übrigens nie für unschuldig erklärt worden, sein Urteil wurde aufgrund einer Formalie annuliert). Dennoch stehen alle Zeichen auf Sieg. Das ist in erster Linie ein Zeichen dafür, wie schwach Bolsonaro abschneidet. Zudem verfängt sich Lulas nostalgischer Verweis auf die besseren Zeiten, welche Brasilien unter ihm erlebt hatte – damals sanft unterstützt von einem starken Rohstoffboom, ohne welchen die Lula-Ära wohl deutlich anders verlaufen wäre. Auffällig ist auch, dass die klassischen Sorgen moderater und konservativer Lateinamerikaner, dass ein linker Staatschef eine “Venezolanisierung” auslösen könnte, also die kleptokratische Herabwirtschaftung des Landes unter dem Deckmantel des Realsozialismus, im Falle Lulas nicht wirken. Immerhin hatte er sich bereits acht Jahre lang als pragmatischer Sozialdemokrat bewiesen. Auch im aktuellen Wahlkampf bildete er strategische Bündnisse hin zur Mitte und stumpfte damit die schrillen Warnungen des Bolsonaro-Lagers vor drohendem Kommunismus ab.
Die Welt schaut zu
Die Wahl in Brasilien ist für das Ausland zweierlei direkt relevant. Erstens: Die Welt hat in den letzten fünfzehn Jahren einen spürbaren Rückgang an Demokratie erlebt. Demokratische Institutionen wurden ausgehöhlt (z.B. Ungarn, Polen, Indien) oder kurzerhand mehr oder minder deutlich abgeschafft, auch mit Militärgewalt (z.B. Tunesien, Myanmar, Mali). Wie Brasiliens fast 213 Millionen Einwohner mit ihrer Wahl verkehren werden, wird in dieser Liste eine große Rolle spielen und allermindestens in der Region ganz praktische Auswirkungen haben, wo sich nicht-ganz-perfekt-demokratische Staaten wie Bolivien, Peru und Ecuador regelmäßig darum streiten, wer instabiler sein kann.
Zweitens: Brasilien nimmt eine einzigartige Rolle in der globalen Klimapolitik ein, als größte Hüterin des Amazonas-Regenwalds und des Pantanals, des größten Binnenland-Feuchtgebiets der Erde. Unter Bolsonaro beschleunigte sich die Verkleinerung solcher Naturgebiete zugunsten von Agrarfläche, Weidegebieten, Bergbau oder Plantagen – darunter auch illegalen, aber geduldeten Einrichtungen – um rund 70 Prozent. (€) Konflikte zwischen Indigenen und Bauern sowie Bergleuten nimmt die Regierung bereitwillig hin. Brasiliens Klimapolitik hat in den vergangenen vier Jahren im Grunde daraus bestanden, keine Klimapolitik zu betreiben und Regularien abzubauen. Internationale Klimakooperation verschrie die Regierung als ausländische Einflussnahme, im gewohnt schrill-populistischen Ton. Für Unterstützer einer globalen Klimapolitik ist ein Regierungswechsel in Brasilien der größte realisierbare Erfolg nach der klimapolitischen Wende in den USA und Australien.
Was in Brasilien passiert, spielt also auch für den Rest der Welt eine Rolle. Die Brasilianer haben im Oktober die Wahl zwischen zwei konkurrierenden Visionen für ihr Land. Lula versucht das Volk davon zu überzeugen, dass er es in die goldene Ära zu Anfang der 2000er zurückbringen kann. Bolsonaros Vision scheint auf eine deutlich frühere Zeit zu schielen, als in Brasilien noch die Armee regierte.
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