Was seitdem passiert ist… Die Lage mit LNG in Deutschland und Europa

Wir bringen dir ein Update zu den Storys, die wir in den letzten Monaten behandelt haben.
Diese Ausgabe: Flüssigerdgas (LNG)

Die Lage mit LNG in Deutschland und Europa_

(11 Minuten Lesezeit)

Im März 2022 wagte die whathappened-Redaktion einen Blick in die Welt des Flüssigerdgases, kurz LNG (Liquified Natural Gas). Was längste Zeit nur Experten bekannt war, rückte mit Beginn der Energiekrise im Sommer 2021 ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Spätestens mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs geriet LNG vielerorts zur Staatsräson. Was LNG nämlich so attraktiv macht, ist, dass es dank der verflüssigten Form per Schiff oder anderen Transportmitteln transportiert werden kann. Das erlaubt Erdgas-Importe von verschiedensten Produzenten in aller Welt, unabhängig der teuren Pipeline-Infrastruktur. So schnell erledigt sich das mit der Abhängigkeit von Russland; europäische Energiesicherheit reimt sich künftig auf USA, Katar und Israel.

So zumindest in der Theorie. In der Paxis kam der Schwenk zu LNG mit einigen bemerkenswerten Herausforderungen daher. Sie lassen sich in allergröbster Form in zweierlei trennen. Erstens, das Angebot. Gar nicht so viele Länder in aller Welt produzieren LNG, denn dafür benötigt es Verflüssigungsanlagen, wo Gas heruntergekühlt und transportierbar gemacht wird. Zweitens, die Fähigkeit zur Nachfrage. Denn ein Bezugsland benötigt Regasifizierungsanlagen, welche das LNG annehmen, regasifizieren und ins heimische Pipeline-Netzwerk einleiten können. Schwimmende Anlagen in Form von Spezialschiffen, sogenannte FSRU (Floating Storage and Regasification Units), bieten eine temporäre und teure Lösung, da Anbieter sie für viel Geld an Staaten oder private Konsortien vermieten. Doch selbst wenn die Terminals oder FSRU stehen (beziehungsweise schwimmen), stellt sich noch immer die Frage, ob denn genug LNG ankommt – gibt es genug Angebot für die Nachfrage?

Knapp acht Monate später haben wir etwas mehr Antworten und zudem Aussicht auf spannende Entwicklungen. Zeit also, einen Blick auf den Stand von LNG in Deutschland und Europa zu werfen. 

LNG: Erdgas, verflüssigt, nicht gerührt (März 2022)

Ein gänzlich undeutsches Projekt

Für niemanden erlangte LNG im Februar 2022 dermaßen schlagartig eine derart große Rolle. Die Bundesrepublik verbrauchte 2021 fast 91 Milliarden Kubikmeter (bcm, billion cubic metres) an Erdgas. Davon dürfte über die Hälfte aus Russland gestammt haben, 2020 waren es zumindest noch 55 bcm. Wenige andere europäische Staaten sind prozentual so abhängig, kein anderer bezieht absolut so große Zahlen. Deutschland geriet damit ins Auge des Sturms des russisch-europäischen Energiekriegs, als Moskau im späten Frühjahr mit der allmählichen Drosselung seiner Gaslieferungen begann. Bis Herbst war die Pipeline Nord Stream 1 vollends versiegt, bis Stand Mitte November ist sie es geblieben.

LNG sollte in die Bresche springen. Deutschland bezieht bis heute LNG ausschließlich indirekt über andere europäische Länder, in welchen also Annahme und Regasifizierung stattfinden, bevor das Erdgas dann in klassischer Form weiterfließt. Damit ist die Bundesrepublik auf die ausländischen Kapazitäten angewiesen. Das ist insofern unpraktisch, als der Rest Europas ebenfalls auf LNG zugreifen möchte und Deutschland im Jahr 2021 beeindruckende 22 Prozent des gesamten EU-Gasverbrauchs von 412 bcm ausmachte. Die gesamte Bundesrepublik nachhaltig über LNG-Terminals in den Niederlanden oder das schlecht ans Kontinental-Pipelinenetz angeschlossene Spanien zu versorgen, ist unmöglich. Also macht es sich das Land zur Aufgabe, eigene Kapazitäten aufzubauen – und zwar so schnell wie möglich.

Das Gelöbnis zur Schnelle ist dabei weniger Lippenbekenntnis, als es bei deutschen Großprojekten das Klischee sein mag. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ernannte LNG schon im Frühjahr gewissermaßen zum nationalen Projekt und verlangte, “das Unrealistische” zu schaffen. Im Mai stellte er sich gegen die ihm ideologisch nahen Umweltverbände und warnte, dass Klagen gegen die LNG-Projekte Deutschland schaden und Russland helfen würden. Ebenfalls im Mai peitschte der Bundestag das “LNG-Beschleunigungsgesetz” (LNGG) durch, welches diverse Umweltauflagen und Genehmigungsschritte abbaut oder entschlackt. “Lichtgeschwindigkeit”, so der Wirtschaftsminister.

Schon im Explainer im Februar hob whathappened jedoch ein Problem hervor: Es würde bis 2026 dauern, frühstens bis 2025, bis permanente LNG-fähige Terminals an Ost- und Nordsee gebaut wären. Einige Projekte waren zwar bereits seit längerem in der Mache, allerdings aufgrund der unvorteilhaften politischen Lage in Deutschland jahrelang kaum voran- und nie in die Bauphase hineingekommen (es gab wenig Planungssicherheit für langfristige Erdgas-Projekte, da niemand wusste, welche Klimaregelung der Bund oder Brüssel als nächstes erlassen könnten). Mit dem plötzlichen politischen Interesse an LNG wurden endlich doch die Grundsteine gelegt und insgesamt drei stationäre LNG-Terminals angeschoben: Eines in Wilhelmshaven, eins in Brunsbüttel und eins in Stade – allesamt nicht unweit von Hamburg. Zusammen könnten sie auf Volllast knapp um die 40 bcm pro Jahr liefern, also rund 70 Prozent der russischen Lieferungen ausgleichen. Doch sie werden erst in mehreren Jahren zur deutschen Energieversorgung beitragen können.

Sechs FSRU zur Rettung

Gut also, dass Deutschland sich eine Übergangslösung gesichert hat: insgesamt sechs FSRU. Mit purer, brutaler Kaufkraft hat sich die Bundesrepublik in den Markt für diese Spezialschiffe, von denen es weltweit nur knapp über 40 gibt, hineingemuskelt und eine Handvoll an die eigenen Ufer bestellt; ein weiteres wurde zudem von einem privaten Konsortium geordert. Die FSRU sollen schon in Kürze aktiv sein und Deutschland erstmals eigenes LNG beziehen lassen. Auch hier gibt es allerdings drei Herausforderungen: Zeit, Kapazität und Logistik.

Gut zu wissen: FSRU lassen sich seitens der Grünen immerhin etwas besser der Parteibasis (als auch den klagewilligen Umweltorganisationen wie der Deutschen Umwelthilfe) erklären: Sie sind schließlich nur temporär da, können also nach Überwindung der Energiekrise wieder eingeklappt und weggefahren werden. Stationäre Terminals klingen dagegen nach Langfristigkeit im Gasimport, auch wenn die Bundesregierung mit dem Verweis auf Wasserstoff-Kompatibilität versucht, Bedenken zu zerstreuen.

Da wäre erstens der Startzeitpunkt. Zwei FSRU werden in Wilhelmshaven stehen, eins in Brunsbüttel, eins in Stade und zwei in Lubmin an der Ostsee (eines der zwei gehört einem privaten Konsortium um die Deutsche ReGas). Die erste fertige FSRU – öffentlich meist einfach als Terminal bezeichnet, was nicht falsch ist, aber Verwechslungen mit stationären Terminals einlädt – wird in Wilhelmshaven sein, von Uniper betrieben werden und wohl bereits am 21. Dezember an den Start gehen. Kurz darauf sollten das Terminal in Brunsbüttel und das private Terminal in Lubmin (nennen wir es Lubmin II) folgen. Bei Wilhelmshaven II, Stade und dem staatlichen Lubmin I sieht es weniger gut aus, sie dürften erst in der zweiten Jahreshälfte 2023 bereit sein. Damit muss sich Deutschland im kommenden Jahr überwiegend mit der Hälfte seiner mittelfristigen FSRU-Kapazitäten zufriedengeben.

Wie viel Kapazität machen die FSRU überhaupt aus? Sollten Wilhelmshaven I, Brunsbüttel und Lubmin das gesamte kommende Jahr mit voller Auslastung laufen, können sie 15 bcm liefern. Mit den übrigen dreien kämen weitere 15 bcm hinzu. Läuft alles nach Plan, gleichen die deutschen FSRU ab 2024 also etwas mehr als die Hälfte der russischen Lieferungen aus. 

Die Logistik grätscht teilweise in den Plan hinein. FSRU sind Spezialschiffe, welche im Grunde als Kernstück eines Hafenterminals fungieren, da sie Flüssigerdgas von LNG-Tankern entgegennehmen, speichern, regasifizieren und in das Pipeline-Netz einspeisen können. In diesem Sinne reicht es also nicht, einfach nur ein Schiff zu chartern, es muss auch einiges an Infrastruktur drumherum entstehen, insbesondere was den Einbau des Schiffs in den Hafen und die Verbindung ans Gasnetz betrifft. Das LNG-Beschleunigungsgesetz richtet sich dementsprechend nicht nur an stationäre Terminals, sondern ausdrücklich auch an FSRU; die von Habeck eingeforderte “Lichtgeschwindigkeit” ebenso. Der größte Flaschenhals scheint aktuell eine Ausweitung des Pipeline-Netzes zu sein. Es entstehen kilometerlange Verbindungspipelines zwischen den FSRU-Häfen und nahen Erdgasübertragungsleitungen sowie Erdgasspeichern, ohne welche die FSRU in Wilhelmshaven und Brunsbüttel voraussichtlich nur 3,5 bcm jährlich liefern können werden. Auch die Pipelines entstehen im Rekordtempo: OpenGrid Europe, für den Ausbau bei Wilhelmshaven zuständig, würde gewöhnlich fünf bis sieben Jahre für 28 Kilometer Pipeline benötigen – jetzt hatten sie wenige Monate Zeit. Mitte Oktober hieß es seitens OpenGas, dass die Pipeline zur Hälfte fertig sei; Hoffnung ist, dass sie schon am 20. Dezember – also genau pünktlich für die erste FSRU – in Betrieb gehen kann. Es bleibt dennoch ein Risiko, dass die drei bald aktiven FSRU für einige Wochen auf niedrigerer Maximalkapazität laufen müssen.

Insofern alles halbwegs nach Plan läuft, wird Deutschland ab 2026 fast 70 bcm pro Jahr an Flüssigerdgas eigenständig beziehen können. Das wäre mehr als genug, um den Gaslieferanten Russland zu ersetzen – genaugenommen könnten einige der teuren FSRU sogar wieder aufgegeben werden. Das größere Problem ist die Lücke bis dahin. Deutschlands Energieversorgung im Jahr 2023 wird voraussichtlich prekär bleiben. Heimisches LNG wird zwar seinen Beitrag leisten, allerdings noch nur in der Größenordnung von etwas über 15 bcm (da drei Terminals ab mehr oder weniger Anfang des Jahres operabel sind, drei weitere gegen Ende des Jahres dazustoßen). Damit bleibt Deutschland auf Erdgas aus anderen Quellen angewiesen, um seinen Bedarf von schätzungsweise 90 bcm zu decken, insofern Russland wie gehabt die Lieferung verweigert.

Der LNG-Kontinent (und die Kollateralschäden)

So wie Deutschland, so auch der Rest der EUDer Kontinent wird zum größten schwimmenden LNG-Terminal der Welt: Entlang der gesamten Küstenlinie von Mittelmeer über Atlantik bis zur östlichsten Ostsee entstehen LNG-Terminals und werden FSRU gechartert. Der Analysedienst S&P Global zählte Mitte August rund 25 FSRU-Projekte in der gesamten EU, seitdem sind weitere hinzugekommen (zum Beispiel Wilhelmshaven II, welches die Bundesregierung im September bestellt hatte). In Griechenland entstehen fünf Projekte, welche den gesamten Balkan versorgen sollen; in den Niederlanden, Italien und Irland je zwei; zwischen Finnland und Estland schwimmt bald eine FSRU, welches für beide Länder zur Verfügung stehen soll (mehr dazu in unserem Explainer zu Kritischer Infrastruktur, Oktober 2022). Das gesamte Baltikum setzt seit längerem auf eine FSRU, um unabhängig von Russland zu sein. Das Terminal im litauischen Klaipėda deckt 100 Prozent des Bedarfs des Landes und liefert zugleich an Lettland und Estland. Spanien ist derzeit mit sechs aktiven LNG-Terminals europäischer Meister und deckt damit einen Großteil seines Gasbedarfs. Frankreich, Polen, Zypern und weitere Staaten planen je eine FSRU (LNG-Atlas).

Mit Europas beeindruckender LNG-Wende kommt die Hoffnung auf eine Zukunft mit diversifizierter Gasversorgung, allerdings auch eine neue Herausforderung. Der Kontinent ist darauf angewiesen, seine Preismacht gegenüber Asien zu nutzen und aufrechtzuerhalten. Denn bislang waren vor allem die Länder in Ostasien die Hauptabnehmer für LNG, welches vor 2021 doch eher ein Nischendasein fristete. Für das energiehungrige China und die geographisch exponierten Inselstaaten Japan, Taiwan und Südkorea (letzteres im Grunde eine Insel) war per Schiff transportiertes Flüssigerdgas immerhin eine intuitive Wahl. Entsprechend finden sich Japan, Südkorea und China auch auf den Spitzenplätzen in Sachen LNG-Importkapazität; ebenfalls in der Top Ten sind Entwicklungsländer wie Indien, Brasilien und Mexiko.

Sie alle bekommen es jetzt mit Europa zu tun, dessen Energiehunger die Wettbewerber kurzerhand aus dem Markt preist. LNG-Tanker mit Kurs auf Asien drehten im Frühling auf voller Fahrt um, als sich die neue Realität des Marktes manifestierte. Europa sicherte sich Flüssigerdgas aus Katar und den USA sowie die raren FSRU aus aller Welt. Der Rest der Staaten musste sich mit den Überresten zufriedengeben, vor allem ärmere Länder wie Bangladesch und Pakistan, welche praktisch nicht mehr am Markt teilnehmen konnten. 

In Europa führte die Situation gemeinsam mit unerwartet vollen Gasspeichern, moderatem Sparverhalten und einem warmen Herbst ironischerweise zu einer regelrechten LNG-Schwemme seit Mitte Oktober. Die europäischen Staaten kommen aufgrund ihrer mangelnden Regasifizierungskapazitäten kaum hinterher; Tanker warten quasi als schwimmende Gasspeicher vor den Küsten. Sie warten darauf, dass die Preise wieder steigen, da Europa im Winter seine Speicher anzapft und LNG-Terminals allmählich frei werden (oder neue hinzukommen).

Die Situation kann sich allerdings rasch verändern. Kurzfristig, da sich Preismacht nach Asien verlagert, schließlich benötigt Europa akut kein LNG mehr. Dieses “Problem” ist eher virtueller Natur, denn sobald Europa wieder nach mehr Flüssiggas ruft, werden die Tanker wieder umdrehen. In diesem Sinne ist die “gas glut” auf dem Kontinent eher ein kurzes Fenster an Erleichterung für die Importeure in Asien, welche ein Weilchen lang weniger astronomische Preise erleben. 

Das langfristigere Problem wäre hausgemacht. Die EU diskutiert Preisdeckel auf Erdgas und in diesem Sinne auch auf GasimporteSollten diese LNG umfassen, wie es einige Staaten fordern, wäre das ein Hochrisikomanöver. Denn gibt Europa seine Preismacht künstlich auf, wird es sich schwerer tun, genug LNG zu beziehen. Katar, einer der größten LNG-Produzenten der Welt, warnt Europa bereits: Ein Preisdeckel sei “heuchlerisch“, der freie Markt funktioniere am besten. Somit droht sich das bisherige Problem schlagartig umzudrehen: Statt zu wenig Kapazität, aber zu viel Flüssigerdgas zu haben, hätte Europa zu viel Kapazität bei zu wenig Gas. Vor allem Deutschland mit seinen geplanten 68 bcm jährlicher Kapazität wehrt sich energisch gegen solch weitreichende Preisdeckel. Ein Szenario, in welchem Milliarden in Bau und Leihe von LNG-Terminals gesteckt wurden, nur um dann kein Gas am Markt mehr auftreiben zu können, wäre ein Worst Case. Die EU arbeitet zwar an Langfristverträgen mit Anbietern wie Katar und den USA, doch ohne den Spotmarkt – also Lieferungen am freien Markt, zum tagesaktuellen Preis – wird es nicht gehen. Zudem senken niedrigere Preise die Attraktivität von Investitionen in mehr Angebot.

Ein Fazit: Viele Chancen, viele Fragen

Die Zusammenfassung: Ganz Europa rüstet beim Flüssigerdgas auf, niemand so sehr wie Deutschland. Die Bundesrepublik erwartet sechs schwimmende Terminals – FSRU – bis Ende des kommenden Jahres, drei bereits in den kommenden Wochen. Damit deckt sie 2023 womöglich ein Sechstel ihres Bedarfs und weniger als ein Drittel der ursprünglichen russischen Lieferungen. Ab 2026 sieht es dann deutlich besser aus, mit drei permanenten Landterminals im Betrieb, welche gemeinsam mit einigen FSRU Russland komplett ersetzen könnten. Die Zeit bis dahin bleibt ein Fragezeichen; Deutschland wird angewiesen sein auf wachsende LNG-Kapazitäten im Rest Europas und mehr reguläre Gaslieferungen. Doch umso mehr Kapazität auf dem Kontinent steht, umso mehr wird die Frage nach der Verfügbarkeit von LNG (nicht mehr von Terminals) in den Vordergrund rücken. Europa muss hoffen, dass die großen Produzenten ihre Exportkapazitäten rasch ausbauen – und dass es sich nicht selbst in den eigenen Fuß schießt.

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