Wir bringen ein Update zu Themen, welche wir in früheren Explainern behandelt hatten.
Diese Ausgabe: Hongkong.
Hongkong ist ein Schatten seiner selbst_
(9 Minuten Lesezeit)
Wie viel sich doch innerhalb von drei Jahren verändern kann. Im Mai 2020 erließ die Peking-hörige Regierung von Hongkong das Nationale Sicherheitsgesetz und zerstörte damit effektiv die Pro-Demokratie-Bewegung in der Sonderverwaltungszone. Sie hatte seit der Übergabe Hongkongs von Großbritannien an China 1997 als Wächter der proto-demokratischen Institutionen der Stadt fungiert und dafür gesorgt, dass Peking sein Versprechen von “Ein Land, zwei Systeme” einhalten musste. Entsprechend waren die “Demokraten” den “Patrioten” stets ein Dorn im Auge. 2019 gelang ersteren ihr bis heute letzter Sieg: Sie stoppten ein Auslieferungsgesetz, mit welchem Peking seinen Zugriff auf Hongkong ausweiten wollte.
Doch unterstützt vom Ausnahmezustand der Covid-Krise und der gesellschaftlichen Verunsicherung, welche mit ihr einherging, setzte Hongkong nur einige Monate später das Nationale Sicherheitsgesetz um. Nun darf Peking direkt auf die Gesetzgebung in der Sonderverwaltungszone einwirken, nämlich immer, wenn die nationale Sicherheit gefährdet sei – was ausreichend vage formuliert ist, um einfach immer der Fall zu sein.
Unser erster Hongkong-Explainer im Januar 2021 erklärte die Hintergründe, das Auslieferungsgesetz und das Sicherheitsgesetz. Schon im Mai 2021 brachten wir das bisher einzige Update heraus, in welchem wir Anwendungsfälle des Sicherheitsgesetzes zeigten – sprich, wie Peking die pro-demokratische Opposition neutralisierte. Zeit, für ein neues Update.
Gut zu wissen: Etwas mehr zum Sicherheitsgesetz? Es kriminalisiert…
- Sezession, also die Abspaltung von China
- Subversion, also die Unterminierung der Zentralmacht
- Terrorismus, worunter beispielsweise auch die Beschädigung von öffentlichen Verkehrsmitteln fällt
- Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften
Es erlaubt der Hongkonger Regierung, Verdächtige nach “Mainland-China” zu entsenden, eigens Richter für die Verfahren rund um das Sicherheitsgesetz zu ernennen und Verdächtige heimlich zu überwachen. Das Gesetz betrifft auch Nicht-Bürger, also zum Beispiel Besucher. Peking behält die Interpretationsgewalt über das Gesetz und hat Priorität vor der Hongkong-Justiz oder Polizei. Ein von Peking ernannter Berater begleitet die Kommission, welche die Durchsetzung des Gesetzes überwacht.
Der lange Arm
Um zu verstehen, wie es im Juli 2023 um Hongkong steht, genügt ein Blick auf zwei Schlagzeilen, welch es in den vergangenen Wochen gab, und eine, die fehlte. Der erste Moment: Anfang Juli setzte die Hongkonger Polizei ein Kopfgeld auf acht prominente Pro-Demokratie-Aktivisten aus. Hinweise, welche zur Verhaftung führten, würden mit umgerechnet rund 117.000 EUR belohnt. Das Besondere: Die Staatsfeinde befanden sich im Ausland. China trug seinen Kampf gegen seine Demokratiefreunde über die Grenzen hinaus.
Es geht um die früheren Abgeordneten Nathan Law, Ted Hui und Dennis Kwok, um den Gewerkschafter Mung Siu Tat, den Anwalt Kevin Yam und die Aktivisten Finn Lau, Anna Kwok und Elmer Yuen. Sie alle hätten gegen das Sicherheitsgesetz verstoßen, indem sie mit dem Ausland zusammengearbeitet oder nach Sanktionen gegen Honkong gerufen hätten – “sehr schwerwiegende Straftaten”, so die Behörden. John Lee, Hongkongs Regierungschef oder Chief Executive, nannte die Verdächtigen “Straßenratten”, welche ihr gesamtes Leben gejagt werden würden.
Einige der Aktivisten sind über die Landesgrenzen hinweg prominent, vor allem Nathan Law. Der 30-Jährige hatte sich als Studentenführer einen Namen gemacht und eine große Rolle in den (insgesamt relativ dezentral organisierten) Protesten seit 2014 gespielt. 2016 wurde er zum jüngsten Abgeordneten in der Geschichte Hongkongs gewählt, bevor er aufgrund seines Unwillens, den Amtseid auf China zu schwören, herausgeworfen wurde. Wenige Wochen nach der Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes 2020 floh Law nach London, wo er später politisches Asyl erhielt. Die übrigen sieben halten sich in den USA, Kanada, Australien und ebenfalls Großbritannien auf.
Keines der Länder, in welchen die Aktivisten ihr Exil ausleben, würde eine Auslieferung in Betracht ziehen. Großbritannien setzte etwa 2020 aus Protest gegen das Sicherheitsgesetz sein Auslieferungsabkommen mit Hongkong aus. Mit seinem Manöver möchte Peking stattdessen vor allem seinen globalen Einfluss symbolisieren und Angst schüren: Seit Jahren bewegt China seine Staatsbürger – und ehemalige Staatsbürger – aus dem Ausland mittels Einschüchterung, Drohungen und Entführungen dazu, zurück ins Heimatland zu kehren. Safeguard Defenders, eine spanische Menschenrechte-NGO, schätzt die Zahl der Betroffenen seit 2014 auf rund 10.000. Dazu kommen illegale chinesische Polizeistationen im Ausland, welche (ehemalige) Staatsbürger überwachen und unter Druck setzen. Peking will sicherstellen, dass die Aktivisten im Ausland zu viel Angst haben, um sich in Hongkong einzumischen.
Ganz konkret berichten mehrere der Betroffenen davon, dass ihre Familien drangsaliert worden seien oder sie in pro-chinesischen Chatgruppen zum Ziel geraten: “Vielleicht müssen wir sie mit irgendwelchen Taktiken herauslocken, so dass wir sie einfangen oder töten können”, zitiert Finn Lau, derzeit in Großbritannien, Screenshots aus einem Telegram-Kanal. Lau hat Grund zur Sorge: 2020 wurde er bereits in der Nähe seiner Heimat in London von einem ostasiatisch aussehenden Angreifer attackiert. Peking bestreitet eine Beteiligung; der Täter wurde nie gefasst.

Das neue Hongkong
Die acht Flüchtigen sind nur die Spitze des Eisbergs, genau genommen eine ziemlich gut situierte Spitze. Sie blicken auf ein Leben im Fadenkreuz, doch leben immerhin in Freiheit im Westen. Hunderten weiteren Betroffenen ergeht es anders. Stand Ende Juni 2023 sind 259 Menschen mit Bezug auf das Sicherheitsgesetz verhaftet worden (vollständige Liste), 160 angeklagt. Dazu kommen noch mehr, welche auf anderer rechtlicher Basis verfolgt wurden und werden. Vom 90-jährigen Bischof bis zu einem 15-jährigen Mädchen ist alles dabei. Im Zweifel genügt der falsche Sticker auf der Tasche, um sich des Aufruhrs verdächtig zu machen.
Viele der Betroffenen müssen monate- oder jahrelang darauf warten, sich endlich vor Gericht – übrigens vor speziell ausgewählten “Richtern für nationale Sicherheit” und nicht vor einer Jury – verteidigen zu dürfen. Meist kennen sie nicht einmal die exakten Vorwürfe, die ihnen gemacht werden. So erging es etwa Gordon Ng, einen ehemaligen Hedgefonds-Trader, welcher an der Seitenlinie der Pro-Demokratie-Bewegung agiert und einen YouTube-Kanal zum politischen Tagesgeschehen betrieben hatte. Er musste fast 740 Tage auf sein Verfahren warten und könnte nun auf zehn Jahre Haft blicken. Stand Mitte 2022 betrug die Mediandauer, welche ein Angeklagter auf sein Verfahren warten musste, 296 Tage.
Gut zu wissen: In vielen Fällen würde sich theoretisch eine Freilassung auf Kaution anbieten, da das Nationale Sicherheitsgesetz auch nicht-gewaltsame Straftaten wie Betrug, Verschwörung und die Veröffentlichung aufrührerischer Artikel umfasst. Allerdings hat das Gesetz die Beweislast umgedreht: Die Verteidigung muss nun beweisen, dass ein Angeklagter die nationale Sicherheit in der Zukunft nicht gefährden würde – was meist kompliziert ist, da sich eine nicht zu erfolgende Handlung in der Zukunft kaum beweisen lässt.
Das Lied, der Stift und die Kerzen
Chinas Schlag gegen die Pro-Demokratie-Bewegung äußert sich nicht nur in der Verfolgung ihrer Vordenker und Unterstützer. Auch ihre Institutionen und Symbole werden abgebaut. Die Hongkonger Behörden versuchen gegen die inoffizielle Hymne “Glory to Hongkong“, einen Protestsong, vorzugehen. Das war die zweite Schlagzeile, um in unserer Aufzählung vom Anfang zu bleiben. Im Juni beantragte das Justizministerium eine einstweilige Verfügung, um ihre Nutzung zu verbieten. Künftig dürften also die Verwendung von Melodie oder Text strafbar sein. Schon Anfang Juli verurteilte die regierungshörige Justiz erstmals einen Bürger dafür, die chinesische Nationalhymne beleidigt zu haben, da er sie in einem YouTube-Video mit Glory to Hongkong ersetzt hatte.
Auslöser war offenbar, dass die Hongkonger Behörden von Google verlangt hatten, Glory to Hongkong aus seinen Suchergebnissen herauszunehmen. Der Techkonzern lehnte ab und verwies darauf, dass der Song nicht illegal sei. Also kümmert sich die Regierung darum, ihn illegal zu machen.
Gut zu wissen: Die Hongkonger Behörden scheinen auch davon angetrieben zu sein, dass Glory to Hongkong ihnen regelmäßig unangenehme Momente im Ausland verschafft: Bei der Ice Hockey Weltmeisterschaft in Bosnien-Herzegowina im Februar 2023 spielten die Offiziellen versehentlich Glory to Hongkong anstelle der chinesischen Nationalhymne ab, da sie “Hong Kong national anthem” online gesucht hatten und als ersten Eintrag auf das Protestlied gestoßen waren. Das war keineswegs das erste Mal, ähnliche Fauxpas geschahen mindestens dreimal zuvor.
Ein weiteres Opfer des chinesischen Vordringens ist die freie Presse. Das wichtigste Pro-Demokratie-Medium, Apple Daily, musste im Juni 2021 nach 26 Jahren schließen. Mehrere Chefredakteure und auch Gründer Jimmy Lai sind in Haft. Andere Medien wurden ebenso zerschlagen oder zogen sich freiwillig zurück, etwa Stand News und Citizen News. Insgesamt haben schätzungsweise 1.000 Journalisten ihren Job verloren. Nur noch kleine Inseln aus unabhängigem Journalismus existieren in Hongkong, oftmals von den ehemaligen Mitarbeitern der größeren Medien betrieben. Und diese Inseln schrecken in der Regel von allzu offener politischer Berichterstattung zurück, um den Zorn der Behörden nicht auf sich zu ziehen. Genauso geht es Büchereien, welche kritische Bücher lieber proaktiv entfernen, statt ins Fadenkreuz zu geraten.
Dann wäre da noch die fehlende Schlagzeile. In Hongkong fanden jahrelang Gedenkveranstaltungen für das Tian’anmen-Massaker in Peking am 4. Juni 1989 statt. Damals schlugen die Behörden gewaltsam eine Studentenbewegung nieder, welche sich für mehr Liberalisierung eingesetzt hatte. Im Mainland selbst hat die Kommunistische Partei den Vorfall auf Orwellsche Art und Weise aus dem kollektiven Gedächtnis radiert, doch in Hongkong blieb er erhalten.
Mit dem Sicherheitsgesetz stoppte Hongkong allerdings sämtliche Veranstaltungen zu Tia’anmen. Wer sich in schwarzer Kleidung und mit Kerze in der Hand am 4. Juni der letzten drei Jahre sehen ließ, wurde verhaftet. Im Dezember 2021 ließen die Behörden eine berühmte Gedenkstatue aus der University of Hongkong, die “Säule der Schande“, entfernen. Und auch dieses Jahr wurde der Jahrestag verhindert: Nur eine kleine Zahl an Aktivisten traute sich überhaupt, teilzunehmen und wurde schleunigst verhaftet. Da wäre “Grandma Wong”, eine prominente, 67-jährige Aktivistin, welche offenbar mit Blumen durch den Stadtteil Causeway Bay spaziert war. Chan Po-ying, Chefin der Sozialdemokratischen Liga (eine der kaum noch relevanten Oppositionsparteien), hatte zwei Blumen und eine LED-Kerze in der Hand. Mak Yin-ting, ehemals Chefin des Journalistenverbands, hielt offenbar Interviews mit Passanten ab, bevor sie von der Polizei abgeführt wurde.

Verkraftbare Kosten
Hongkong geht also weiter den Pfad herab, welchen es 2020 angetreten hatte. Ein Ende ist nicht in Sicht, denn Peking sowie das Pro-Peking-Lager konsolidieren ihren Einfluss, während die Pro-Demokratie-Opposition kaum noch wirksam ist. Sie existiert heutzutage in grob gesagt drei Lagern: Aktivisten, welche in China oder Hongkong in Haft sitzen; Aktivisten, welche ins Ausland geflohen sind (und sich damit nicht selten den Ärger ihrer Mitstreiter eingehandelt haben); und Aktivisten, welche noch frei und in Hongkong sind, und dort entweder ein “low profile” bewahren oder gelegentliche, symbolische Aktionen wagen. Dass in Hongkong in nächster Zeit eine Liberalisierung stattfinden könnte, ist fast ausgeschlossen; und wenn doch, so läge es nicht an der Opposition.
Die Entwicklung ist für Peking mehrheitlich erfreulich, auch wenn es in den Details hakt. Wie schon unser Update-Explainer im Mai 2021 urteilte, verärgert Chinas Umgang mit Hongkong den Westen (und nicht nur, weil Peking Verträge mit Ex-Kolonialmacht Großbritannien gebrochen hat, wonach Hongkong bis mindestens 2047 autonom und teilweise demokratisch bleiben dürfen müsse). Auch Nachbarn wie Japan und Taiwan ziehen ihre Lehren aus Hongkongs nicht ganz freiwilliger Eingliederung; pro-chinesische Positionen in beiden Ländern litten unter dem Vorgang.
Abseits der Geopolitik bleibt zudem fraglich, wie viel von Hongkongs einzigartigem Wert Peking beibehalten kann, sobald dessen Prozess der Entmündigung vollendet ist. Die äußerst gut ausgebildete Bevölkerung verkleinert sich seit drei Jahren in Folge, was nicht zuletzt mit der politischen Situation zu tun hat. Passend dazu hatte Großbritannien im Zuge des Sicherheitsgesetzes die Einreisebedingungen für Hongkonger erleichtert und seitdem offenbar fast 150.000 Visa-Bewerbungen erhalten. Und das Vorgehen gegen politische Gegner von jung bis alt auf Basis eines extrem diffusen, breit auslegbaren Gesetzes lässt sich nicht gut mit der Rechtssicherheit vereinbaren, welche Hongkong gegenüber Mainland-China bislang zu einem deutlich attraktiveren Investitionsstandort – vom Ausland oft mit Sonderrechten ausgestattet – gemacht hatte.
Nun wird weder Hongkongs Wirtschaft noch seine Demografie schlagartig von der Klippe fallen. Es bleiben einige Jahre und Jahrzehnte. Über den ungünstigen Langfristtrend kann Peking derweil problemlos hinwegsehen, denn es hat eines seiner zwei verlorenen Kinder (das andere ist selbstverständlich Taiwan) zurück ins Reich gebracht, das ist es allemal wert. Und ohnehin hat es genug Zeit, um die undankbaren Bürger oder die verunsicherten Firmen von der Großartigkeit und Stabilität des neuen Hongkongs zu überzeugen.
Das wird einige Überzeugungsarbeit kosten: In den letzten ernstzunehmenden Umfragen, 2020, lehnten 60 Prozent der Hongkonger das Sicherheitsgesetz ab und 63 Prozent sprachen sich für ein allgemeines Wahlrecht – die Maximalforderung der Pro-Demokratie-Opposition – aus. Nun denn, wirklich fragen tut die Bevölkerung niemand mehr. Ex-Regierungschefin Carrie Lam, welche den Streit um Auslieferungs- und später Sicherheitsgesetz ausgetragen hatte, erklärte einst, dass sie zwei Meistern dienen müsse: Der Zentralregierung in Peking und den Menschen in Hongkong. Heutzutage ist der Job des Chief Executive deutlich einfacher. In Hongkong herrscht nur noch ein Meister.
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