Wir bringen dir ein Update zu den Storys, die wir in den letzten Monaten behandelt haben.
Diese Ausgabe: Myanmar.
(insgesamt 8 Minuten Lesezeit)
Myanmar: Kein Ende in Sicht_
Vor fast genau zwei Jahren fand in Myanmar ein Militärputsch statt, welcher das Land in die Vergangenheit zurückkatapultierte. Das Militär hielt nichts davon, dass die demokratisch gewählte Regierung unter Aung San Suu Kyi beliebt genug war, um wiedergewählt zu werden. Also warf es die de-facto-Regierungschefin ins de-facto-Gefängnis und riss die Macht an sich.
Es war der nächste Schritt in einem jahrzehntelangen Tanz zwischen Demokratie und Diktatur in Myanmar. Ein Land, welches vielen Beobachtern für den Genozid an der Rohingya-Minderheit bekannt war, aber nicht für seine bewegte Geschichte zwischen Militärjuntas, Demokratisierungsprozessen und Protestbewegungen. Fast noch mehr Aufmerksamkeit verdienen die Dutzenden Bürgerkriege, welche teilweise seit 70 Jahren durchgehend laufen. Sie sind eine Folge der fast 150 Ethnien im Land. Da sich viele davon von der dominierenden Bamar-Ethnie (69 Prozent der Bevölkerung) unterdrückt fühlten, hatten militarisierte Gruppen den Kampf in den weitläufigen Dschungelgebieten Myanmars aufgenommen.
Myanmars Tanz zwischen Diktatur und Demokratie (Explainer, Februar 2021)
Die Regierung in Myanmar hat im Verlaufe der Jahrzehnte seit der Unabhängigkeit 1948 im Grunde nie ihr gesamtes Staatsgebiet kontrolliert. Kachin, Shan und Karen sind nur einige der großen ethnischen Gruppen, deren militärische Arme signifikantes Gebiet – zumeist an den schwer zugänglichen, dschungeligen Landesgrenzen – halten. Mit dem Putsch im Februar nahm die Landkarte Myanmars allerdings neue Form an. Denn auf einmal gab es auch eine “nicht-ethnische” Seite des Bürgerkriegs. Gegner des Putsches und Teile der abgesetzten Regierung bildeten früh eine “Nationale Einheitsregierung”, also Schattenregierung, welche mit den ethnischen Rebellenmilizen paktierte und der Junta den Krieg erklärte. Plötzlich brannte das gesamte Land: In den dschungeligen Randgebieten marschierten die Milizen – mit neuer Unterstützung der Opposition -; im Landesinneren protestierten Zivilisten und Partisanen in den Städten. Auf der anderen Seite stand die große Armee, Tatmadaw genannt, welche mit beachtlicher Brutalität reagierte.
Myanmar: Das Militär richtet das Land zugrunde (Update, April 2021)
Nun sind zwei Jahre vergangen. Was ist der Stand in Myanmar?
Vier Schnitte Doktrin
Die kurze Antwort: Der Krieg geht ungebrochen weiter und keine der beiden Seiten scheint vor einem Durchbruch zu stehen. Am 5. Mai 2021, kurz nach dem whathappened-Update, formte die oppositionelle Einheitsregierung die “Volksverteidigungsarmee” (PDF) und schuf damit ihren eigenen militärischen Arm. PDF und die ethnischen Milizen liefern sich mal gemeinsam, mal separat Kämpfe mit dem Tatmadaw. Die Rebellen nutzten seitdem eine Strategie der Nadelstiche und der Überlastung: Sie attackierten die Junta aus ihren Dschungelbasen und führten Hinterhalte durch; wurde eine Basis entdeckt und niedergebrannt, zogen sie sich in eine andere zurück. Lokale Unterstützung half, der Armee oftmals einen Schritt voraus sein und tiefer ins Hinterland zurückfallen zu können. Indem mehrere Milizen in unterschiedlichen Landesteilen gleichzeitig Druck auf die Junta ausüben, zwingen sie sie zudem, Kräfte aufzuteilen und Schwachstellen zu kreieren – whack-a-mole als Mehrfrontenkrieg. Einige Milizen schlossen Waffenstillstände mit der Junta, doch diese waren oft kurzlebig, so etwa jener mit der Arakan-Armee in der westlich gelegenen Region Rakhine.
Der Tatmadaw, die Armee, setzt derweil auf die “Vier Schnitte”-Strategie. Diese Doktrin war bereits in den 1960ern und 70ern angewandt worden, erfuhr 2017 ein Comeback im Vorgehen gegen die Rohingya und findet jetzt wieder Anwendung. Bei den “Vier Schnitten” versucht die Armee, die lokale Unterstützung der Milizen zu zerstören, indem sie Dörfer niederreißt, Nahrungsmittelproduktion zerstört, Medikamentenlieferungen stört und Einwohner ermordet oder verschleppt. Die Brutalität soll den Willen und die Fähigkeit der Lokalbevölkerung, die Milizen zu unterstützen, brechen.
Im aktuellen Krieg äußert sich das in prominentester Form durch das Niederbrennen von Dörfern sowie den Einsatz von Luftschlägen. Ein prominentes Beispiel war das Dorf In Ma, wo der Tatmadaw kurz nach Ausbruch des Bürgerkriegs sämtliche 240 Häuser in Flammen gesteckt hatte. Bis Ende August 2022 hatte die Armee im gesamten Land mindestens 28.434 zivile Gebäude niedergebrannt, so die NGO Data for Myanmar, welche nur verifizierte Fälle berichtet. Die NGO Myanmar Witness zählt derweil 135 “Luftkriegsvorfälle” im zweiten Halbjahr 2022, während die Monitoringgruppe Acled auf 312 Luftschläge im Gesamtjahr 2022 kommt, dreimal so viele wie im Vorjahr. Damit zerstört die Armee die Lebensgrundlage der Lokalbevölkerung, doch schwächt – so zumindest die Hoffnung – die Milizen. Diese argumentieren währenddessen, dass die Strategie lediglich immer mehr Dorfbewohner in die Hände der Rebellion treiben würde.
Gut zu wissen: Laut dem Menschenrechtsminister der Schattenregierung – also der oppositionellen Einheitsregierung – nennt die Zivilbevölkerung die Bomber des Militärs die “tödlichen Libellen“.
Kontrollverlust
Bis heute schien das der konsistente Rhythmus des Krieges zu sein: Die Milizen sind zahlreich, mit der Lokalbevölkerung verbandelt und miteinander mal mehr, mal weniger koordiniert. Sie setzen der Junta mit Nadelstichen an mehreren Fronten zu. Der Tatmadaw reagiert derweil mit strategischer Brutalität und nutzt seine materielle Überlegenheit, gerade sein Monopol bei schwerem Gerät wie Artillerie und Luftwaffe.
Und doch könnte sich allmählich etwas Bewegung abzeichnen. Als Junta-Chef Min Aung Hlaing jüngst den Ausnahmezustand um sechs Monate verlängerte, räumte er ein, dass über ein Drittel aller Orte nicht mehr unter Kontrolle des Militärs stünde. Andere Beobachter gehen von deutlich anderen Größenordnungen aus: Der Special Advisory Council for Myanmar (SAC-M), eine internationale Forschergruppe, spricht davon, dass 52 Prozent der Landfläche nicht in voller Kontrolle des Militärs seien; zudem besitze es nur in 22 Prozent aller Ortschaften und 17 Prozent des Landes “stabile” Kontrolle, sieht sich dort also keinen Angriffen von Rebellen ausgesetzt. Solche stabile Kontrolle ist allerdings wichtig, um sich ausruhen, neu aufstellen, ausrüsten und ausbilden zu können. Überall anderswo muss der Tatmadaw aktiv verteidigen (oder angreifen), wenn er nicht Gebiet verlieren möchte. Das ist ein gutes Zeichen für die Rebellen: Schaffen sie es, genug Druck auf die Armee aufzubauen, könnten sie sie bis zum metaphorischen Herzinfarkt abnutzen. Ob sie dafür die Kapazitäten haben, ist unklar, doch die Einheitsregierung gibt sich optimistisch und ruft den Sieg bis Ende 2023 aus.
Die Junta wird nicht aufgeben
Einfach wird das allerdings nicht. Der Tatmadaw bleibt grundsätzlich besser ausgerüstet und ausgebildet und hat vermutlich noch immer mehr Soldaten im Einsatz, auch wenn sich letzteres inzwischen gedreht haben könnte. Die Rebellen kontrollieren nach wie vor keine einzige größere Stadt; eine Belagerung der Stadt Kawkareik Im Oktober 2022 scheiterte, übrigens auch, weil die Armee die durch den Ukrainekrieg popularisierten MLRS-Artilleriesysteme einsetzen konnte. Der Wechsel vom mobilen Dschungel-Guerillakrieg zum Vormarsch auf das flachere, weniger bewaldete Kernland wird dementsprechend eine schwierige Herausforderung für die Rebellen, denn Artillerie und Luftstreitkräfte werden dort nur noch effektiver – und die Rebellen besitzen beides nicht. Wollen sie außerdem ihren Vorteil beibehalten, dass sie den Tatmadaw in einen Mehrfrontenkrieg zwingen, so müssten sich die unterschiedlichen ethnischen Milizen auch noch gemeinsam bei der Offensive koordinieren – denn wenn eine Fraktion vorrückt, während die anderen zurückhängen, hat die Armee einfacheres Spiel. Solch Koordination ist nicht trivial, denn die einzelnen Milizen agieren noch immer in erster Linie politisch und militärisch autonom.
Auch wirtschaftlich und diplomatisch ist die Junta noch längst nicht am Boden. Mit China als Handelspartner und Russland als Waffenlieferant haben die weitestgehend isolierten Generäle noch einige Freunde. Die Regionalgruppe ASEAN, das benachbarte Indien und Großinvestor Japan fassen Myanmar aktuell nur mit Handschuhen an, doch könnten schnell wieder zu Engagement verlockt sein, wenn die Junta erst einmal in den angekündigten, frühstens im August stattfindenden Wahlen eine pseudo-zivile Regierung herstellt und sanfte Reformen verspricht. So oder so, ist die Junta dank des Rohstoffexports, vor allem von Opium, dessen Produktion 2022 um 87 Prozent gewachsen war, nicht auf die Teilhabe der Zivilbevölkerung an der Volkswirtschaft angewiesen. Repression muss sich damit nicht allzu sehr auf die Staatsumsätze auswirken.
In diesem Sinne scheint es für die Opposition darum zu gehen, die Junta zu zerschlagen, bevor ihr die Zeit davon läuft. Das ist riskant, denn sie könnte sich übernehmen und militärische Rückschläge oder Glaubwürdigkeitsverluste erleiden. Doch die Einheitsregierung scheint die Gefahren des Wartens stärker zu gewichten als jene des Handelns. Erstens, weil sich die Junta durch baldige Wahlen mehr Legitimation verschaffen könnte. Zweitens, weil die Junta das finanzielle Rennen gewinnen könnte, schließlich besitzt sie mit Opiumhandel und Co. verlässlichere Einnahmequellen, als die Rebellen mit ihren Spenden – der Westen oder ASEAN liefern lediglich Empörung und diplomatische Initiativen, aber weder Waffen noch Ausrüstung. Und drittens, weil der Kriegswillen der Bevölkerung eine endliche Ressource darstellt. Die Bevölkerung kämpft teilweise unter dem Banner der PDF, mit den ethnischen Milizen oder als Partisanen im Bamar-Kerngebiet; oder sie übt stillen Protest, so jüngst beim zweijährigen Jubiläum des Putsches, als in der Großstadt Yangon die Straßen plötzlich menschenleer blieben. Doch wachsendes humanitäres Leid nagt an der Ausdauer.
Gut zu wissen: Die Einheitsregierung hat in mehreren Ländern “Vertretungen” eröffnet, welche zwar nicht diplomatisch anerkannt werden, aber die Belange der Opposition im Zielland vorantreiben sollen. Ein Großteil der Finanzierung kommt von dort. So spenden die insgesamt 27.000 burmesischen Staatsbürger in Südkorea offenbar 100.000 USD pro Monat.
Jahrzehnte zurückgeworfen
Myanmar hat zwei Jahre der Schmerzen hinter sich und steht womöglich noch vor einigen weiteren. Die UN-Organisation UNICEF schätzte Stand Dezember 2022, dass knapp 1,4 Million Menschen im Land vertrieben worden seien und 17,6 Millionen Menschen humanitäre Unterstützung benötigten. Die Wirtschaft war 2021 um 18 Prozent kollabiert, 2022 dürfte es nur moderat besser ausgesehen haben. Die Assistance Association for Political Prisoners (AAPP) zählte Ende Januar 2023 mindestens 17.572 verhaftete Menschen (davon 13.763 noch immer verhaftet) und 2.940 getötete Dissidenten (in anderen Schätzungen bis zu 5.000); im gesamten Bürgerkrieg seien laut Acled 19.000 Menschen gestorben. Andere Schätzungen reichen bis zu 50.000 Toten.
Für weite Teile des Landes, nämlich die Randgebiete mit ihren ethnischen Minderheiten, ist das nichts Neues – sie kennen seit Jahrzehnten nur Krieg und Flucht. Die Hoffnung bleibt, dass das Bewzingen der Junta, sollte es denn eintreten, auch die übrigen ethnischen Konflikte beilegen könnte. Die Einheitsregierung hat versprochen, den Milizen ihre Wünsche nach gleichen Rechten oder stärkerer Autonomie zu erfüllen. Vorerst bleiben das nur Wünsche.