Was seitdem passiert ist… Israel und die Extremisten

Wir bringen dir ein Update zu den Storys, die wir in den letzten Monaten behandelt haben.
Diese Ausgabe: Israels Wahl
(insgesamt 10 Minuten Lesezeit)

Israel und die Extremisten_

Wenn Israel einen Volkssport hat, so sind es Wahlen. Als die whathappened-Redaktion im März 2021 ihren Explainer zur Politik und Gesellschaft des Landes schrieb, hatte es soeben vier Wahlen innerhalb von zwei Jahren hinter sich gebracht. Eine äußerst fluide Parteienpolitik, zutiefst diverse Gesellschaft und zahlreiche ideologische (sowie nicht-ideologische) Trennlinien zwischen den politischen Lagern sorgten seit jeher für eine hochkomplizierte Koalitionsbildung, aufgrund welcher Regierungen regelmäßig scheiterten oder gar nicht erst entstanden. Unser Explainer erklärte, was die institutionellen und gesellschaftlichen Gründe waren und warf dabei zum Beispiel einen Blick auf den ethnischen und religiösen Aufbau der israelischen Gesellschaft.

Israels verrückte Innenpolitik (März 2021, 16 Minuten Lesezeit)

Immerhin ein Jahr lang gehalten

Anderthalb Jahre später ist es der perfekte Zeitpunkt für einen Update-Explainer, denn Israel hat erneut gewählt und erlebt vielleicht zum ersten Mal seit drei Jahren etwas, das nach stabiler Mehrheit aussieht – allerdings in Form der rechtesten und religiösesten Regierung seiner Geschichte. In der Zwischenzeit war vieles passiert: Nach Wahl Nummer vier im März 2021 bildete sich im Sommer tatsächlich eine ungewöhnliche Acht-Parteien-Koalition, welche zionistische Nationalisten, Sozialdemokraten und (erstmals in der israelischen Geschichte) eine moderat-islamistische Araberpartei beinhaltete. Der Block existierte ausschließlich, um Langzeitpremier Benjamin Netanjahu – seinerzeit seit 12 Jahren durchgehend im Amt – abzusetzen; es war das einzige Ziel, bei welchem sich alle Koalitionäre einig waren. Das Amt des Regierungschefs wurde im sogenannten israelischen Modell zwischen dem Nationalisten Naftali Bennett und dem Liberalen Jair Lapid rotiert: Ersterer würde es zwei Jahre lang innehaben und dann für die letzten zwei Jahre an Lapid übergeben.

Die Koalition war von Anfang an wacklig, immerhin bestand sie aus acht Parteien mit teilweise inkompatiblen Interessen und hatte zudem auch nur eine Parlamentsmehrheit von einer einzigen Stimme. Netanjahu, welcher sich nach seiner Abwahl erst einmal aus Gewohnheit in den Sitz des Premiers setzte (Video), prophezeite, dass er die Koalition als Oppositionschef vernichten würde. Doch knapp ein Jahr lang war das ungewöhnliche Bündnis bemerkenswert stabil. Die Regierung bewegte sich bei kontroversen Themen, in welchen ihre Mitglieder unterschiedliche Meinungen hatten, per Minimalkompromiss, also meist überhaupt nicht. Doch drumherum leistete sie tatsächlich Regierungsarbeit und machte keine Anstalten, zu zerfallen.

Das änderte sich im April 2022. Ausgerechnet eine Abgeordnete aus der Yamina-Partei von Premier Bennett verließ die Koalition, aus einem außerhalb Israels skurril anmutenden Grund: Der Gesundheitsminister hatte entschieden, einem Gerichtsurteil Folge zu leisten, wonach Krankenhäuser ihren Besuchern die Mitnahme von gesäuertem Brot beim Pessachfest erlauben müssen. Da das allerdings mit dem jüdischen Religionsgesetz unvereinbar ist, brach die religiöse Zionistin Idit Silman mit ihrer Partei. Die Koalition hatte somit keine Mehrheit mehr. Mitte Juni verlor sie eine weitere Yamina-Abgeordnete und war damit endgültig in der Minderheit. Bennett löste das Parlament, die Knesset, auf, setzte Neuwahlen an und ernannte Lapid quasi als Trostpreis zum Übergangspremier.  

Er ist wieder da

Am 1. November wählte Israel zum fünften Mal in dreieinhalb Jahren. Der konservative Likud unter Netanjahu wurde mit 23 Prozent wie gewohnt mit Abstand stärkste Partei, doch die wichtigere Frage war, wie es dem gesamten Feld aus verbündeten und rivalisierenden Parteien erging. Dort sah es weitaus knapper aus: Bei 4,7 Millionen Stimmen und 70 Prozent Wahlbeteiligung ging das Rechtsbündnis rund um den Likud mit nur 30.000 Stimmen Mehrheit als Sieger hervor. Die Sitzverteilung in der Knesset sieht mit 64 zu 56 allerdings ungewohnt solide aus – vielleicht zeichnet sich ja eine Regierung ab, welche länger als ein Jahr überdauert. Einige Kommentatoren wiesen darauf hin, dass das Anti-Netanjahu-Lager in Wahrheit die meisten Stimmen erzielt hatte: Die kleinen Parteien Meretz und Balad hatten es nicht über die 3,25-Prozent-Hürde geschafft, womit 289.000 Stimmen “verloren” gegangen waren. Doch das bleibt letztlich nur Schmuckwerk: Netanjahu hatte gesiegt und durfte sich auf seinen angestammten Platz in der Knesset setzen.

Netanjahu ist ein hochkompetenter Populist und Machtpolitiker, welcher den politischen Betrieb wie kaum ein Zweiter versteht. Seine Einstellungen sind zwar grundsätzlich konservativ, doch in Wahrheit sehr flexibel – er ist in der Regel dort zu finden, wo sich die Wählerstimmen befinden. Im Vorfeld der fünften Wahl streckte er beispielsweise die Fühler zu den arabischen Communitys aus, als klar wurde, dass deren Parteien zum Königsmacher geraten würden. Es sind dieser Opportunismus und die schweren Korruptionsvorwürfen gegen ihn, welche Netanjahu so umstritten in Israel machen – seine Politik selbst steht dagegen weniger im Fadenkreuz, außer seitens der linkeren Parteien.

Gut zu wissen: Israels Politik lässt sich zwar theoretisch durchaus in links und rechts unterteilen (mit den üblichen Schwierigkeiten dieser Dichotomie), doch weitaus relevanter war in den letzten Jahren die Trennung in einen Pro-Netanjahu-Block und einen Anti-Netanjahu-Block. Ersterem gehören vor allem rechte und religiöse Parteien an; letzterem ein weites Parteienbouquet aus unterschiedlichen Nationalisten, Moderaten und sogar einer Araberpartei. Viel ausländische Berichterstattung ist in diesem Sinne etwas irreführend, wenn der gesamte Anti-Netanjahu-Block als “linke” Opposition bezeichnet wird. 

Netanjahus Rückkehr müsste eigentlich viel Berechenbarkeit bedeuten, doch diese Wahl fühlt sich anders an. Der Premier hat, so scheint es, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: mit dem ultrarechten Flügel der israelischen Parteienlandschaft. Zu seiner Verteidigung ist er damit nicht ganz allein: Die miteinander alliierten Parteien Religiöser Zionismus (HaTzionut HaDatit) und Jüdische Stärke (Otzma Yehudit) unter ihren Anführern Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir erzielten gemeinsam 14 Sitze oder 11 Prozent der Stimmen und wurden damit drittstärkste Kraft in der Knesset. Allermindestens die israelische Rechte scheint einen Rechtsruck vollzogen zu haben.

Das extremste Israel

Mit HaTzionut HaDatit und Otzma Yehudit steht Israel vor der mit Abstand rechtesten und religiösesten Regierung seiner Geschichte. Die Parteien werden regelmäßig als rechtsextrem und ultranationalistisch bezeichnet; ihnen wird Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie vorgeworfen. Smotrich, ein illegaler Siedler im Westjordanland, organisierte in der Vergangenheit Proteste gegen die Pride Parade und bezeichnete Homosexualität als “abnormal”; er setzte sich für die Einführung der Tora in die israelische Rechtssprechung ein; forderte, die Diskriminierung gegen arabische Israelis zu legalisieren; und nannte die Existenz von Arabern in Israel einen “Fehler” des Staatsgründers David Ben-Gurion. 

Itamar Ben-Gvir schafft es irgendwie, Smotrich in Sachen Extremismus den Rang abzulaufen. Der gelernte Anwalt fordert den Rauswurf arabischer Staatsbürger, welche nicht “loyal” zu Israel seien. In seiner Jugend war er offiziell ein Anhänger des Kahanismus, einer extremistischen Bewegung, welche die Demokratie in Israel abschaffen und mit einer Theokratie ersetzen möchte, in welcher Nicht-Juden keine Rechte besitzen würden. Heute steht er der Bewegung noch immer nahe. Er beweist zudem Sympathien mit dem israelisch-amerikanischen Terroristen Baruch Goldstein, welcher 1994 im Massaker in der Grotte des Patriarchen 29 Palästinenser ermordet hatte. Er bedrohte 1995 den damaligen Premier Yitzhak Rabin nach dessen Annäherung an die Palästinenser, nur zwei Wochen bevor dieser von einem anderen Rechtsextremisten ermordet wurde (Bezalel Smotrich pflegt die Verschwörungstheorie, dass in Wahrheit die Geheimdienste den Mord begangen hätten, nicht das ultrarechte Lager). Es überrascht kaum, dass Ben-Gvir mehrfach verurteilt worden ist, unter anderem aufgrund der Unterstützung einer Terrororganisation und des Aufrufs zum Rassismus. Die Moderation und Selbstzensur, welche bei Politikern mit dem Aufstieg zur Macht oft einhergeht – siehe Marine Le Pen in Frankreich oder Giorgia Meloni in Italien -, fällt bei Ben-Gvir fast schon lachhaft subtil aus: Das Porträt von Baruch Goldstein ist inzwischen aus seinem Büro verschwunden und seine Parteianhänger skandieren nicht mehr “Tod den Arabern”, sondern “Tod den Terroristen“. (€)

Die Stimmung unter liberalen, linken und arabischen Israelis ist denkbar schlecht, auch viele Konservative sind schockiert über die Extremisten mit Chance auf Kabinettsposten. In den sozialen Medien wimmelt es vor Déjà-vus zu den US-Wahlen 2016: Israelis beschwören das Ende der Demokratie herbei und verkünden, das Land verlassen zu wollen; andere wünschen ihnen genervt eine gute Reise. Der moderate Teil des Landes hat viele legitime Sorgen: Da wären die Furcht vor einer Verrohung der israelischen Politik, vor mehr Konfrontation mit den Palästinensern, vor noch mehr illegalen Siedlungen, vor einer Stärkung der ultrareligiösen Juden (welche wenig zur säkularen Gesellschaft beitragen) und vor den institutionellen Reformen, welche die Extremisten zum Beispiel für die Justiz anstreben. Die sich abzeichnenden Personalien sorgen für Bauchschmerzen: Ben-Gvir scheint davor zu stehen, das Ministerium für Öffentliche Sicherheit zu übernehmen und somit die Polizei zu kontrollieren; Zusammenstöße mit den Palästinensern, zum Beispiel auf dem Tempelberg, wären vorprogrammiert. Seine Partei könnte außerdem das Bildungsministerium erhalten und versuchen, die religiöse Bildung im Land auszubauen. Smotrich verlangt Finanz- oder Verteidigungsministerium. Alle vier wären Ressorts mit dem Potenzial, dem demokratischen und verhältnismäßig liberalen Israel Schaden zu verursachen.

Gut zu wissen: Dieser Explainer fokussiert sich auf die Innenpolitik und die unmittelbaren Dynamiken nach der Wahl in Israel. Mit Hinblick auf das Verhältnis zu den Palästinensern sind wohl zwei mögliche Folgen am interessantesten: Erstens, Annexion: Ben-Gvir spricht sich offen für eine Annexion der besetzten Gebiete im Westjordanland aus; Smotrich möchte Schritte in die Richtung machen, indem er die Besatzungskontrolle vom Militär an die zivile Regierung geben lassen will. Sie sind damit keine Ausreißer, sondern formulieren eine Position, welche im rechten israelischen Diskurs gar nicht mehr so ungewöhnlich ist, lediglich am lautesten. Zweitens, Gewalt: In den vergangenen Monaten schienen die Spannungen unter den Palästinensern zuzunehmen und sich in neuen Formen zu äußern: Neben der Hamas agieren neue Milizen wie der Islamische Dschihad (PIJ) zunehmend selbstbewusst; zudem kommt es immer häufiger zu scheinbar unorganisierten Unruhen im Westjordanland. In Medienberichten und Analysen wird immer öfter die Gefahr einer dritten Intifada – also eines großflächigen Palästinenser-Aufstands – diskutiert, auch wenn es akut keine Anzeichen für eine solche gibt.

Die Demokratie ist nicht am Abgrund

Die Gefahren für die liberale Demokratie in Israel sind real, doch im Konkreten ist ein wenig Entwarnung dennoch angebracht. Beispiel institutionelle Reformen: Sie sind im israelischen Kontext ohne Frage angreifbar, aber nicht per se undemokratisch: Gewinnt etwa die Knesset mehr Einfluss über die Entscheidungen des Obersten Gerichts, wie ein Vorstoß vorsieht, schwächt das natürlich die Justiz, doch nicht unbedingt viel mehr als es in anderen konsolidierten Demokratien der Fall ist: In den USA darf sich der Kongress zwar nicht in Entscheidungen des Supreme Courts einmischen, doch bestimmt gemeinsam mit dem Präsidenten die Besetzung des Gerichts. In Israel hat das Parlament dagegen nur 40 Prozent der Stimmgewalt bei Personalfragen am Obersten Gericht; der Rest liegt bei der Rechtsanwaltskammer und bei den Obersten Richtern selbst (welche eine Sperrminorität besitzen). Die vorgeschlagenen Reformen in Israel sind zudem nicht unbedingt radikaler als der Vorstoß der US-Progressiven, den konservativ dominierten Supreme Court durch das Hinzufügen zusätzlicher Richter politisch genehmer zu biegen. Doch selbst wenn sie demokratisch kompatibel sind: Unter dem aktuellen Parlament dürften die Reformen zu einer rechteren, illiberaleren Politik beitragen.

Ein weiteres Stück Entwarnung lautet, dass sich die Koalition überhaupt erst materialisieren muss. Stand Ende November laufen die Verhandlungen schleppend; um die Ministerposten herrscht Streit. Netanjahu versucht, das Verteidigungsministerium von den Extremisten fernzuhalten (auch aufgrund von Druck aus Washington) und bietet ihnen das Finanzministerium nur in abgespeckter Form. Darin zeigt sich etwas, das gerade für westliche Beobachter nicht ganz intuitiv scheinen mag: Netanjahu fungiert als eine Art Brandmauer. Der gekonnte Populist regierte in der Vergangenheit meist pragmatisch und opportunistisch; hatte stets ein gutes Gespür dafür, wo die Mehrheitsmeinung liegt und wo sich Konzessionen an benötigte Minderheitspartner machen lassen; und balancierte in bestimmten Themen rechte bzw. religiöse Koalitionspartner mit linkeren Koalitionspartnern aus. Dazu passen jetzt die Meldungen über die hitzigen Verhandlungen, aber auch, dass Netanjahu offenbar garantiert hat, ungeachtet der Forderungen der Radiklane die LGBTQ-Rechte aufrechtzuerhalten. 

Netanjahus Pakt mit den Extremisten ist teilweise die Reaktion auf einen Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft, doch in erster Linie ein Anerkenntnis von Schwäche. Politisch inzwischen für weite Teile des Landes verbrannt und unter heftigem Druck durch Korruptionsermittlungen, bleiben Netanjahu nur noch die radikalen Kräfte, um es wieder zum Premier zu schaffen. Sie ergeben für seinen Politikstil eigentlich keinen Sinn, denn Pragmatismus funktioniert nicht, wenn Extremisten mit im Boot sitzen. Zudem hatte sein Likud genau wie der Rest der israelischen Parteienlandschaft sich eigentlich kategorisch einer Zusammenarbeit mit den radikalen Fraktionen verweigert, ähnlich wie die großen deutschen Parteien eine Kooperation mit der AfD ausschließen. Gäbe es für Netanjahu also einen Weg an den Extremisten vorbei, ist es wahrscheinlich, dass er ihn nutzen würde.

Einige moderate und linke Beobachter rufen die großen Zentrumsparteien um Übergangspremier Lapid und Politgröße Benny Gantz dazu auf, sich der Netanjahu-Regierung anzuschließen. Es sei das geringere Übel: Lieber mit dem verhassten Netanjahu paktieren und ihm so eine Exit-Rampe von den Extremisten (€) bieten, als Ben-Gvir an der Spitze der Polizei und Smotrich im Finanzministerium zu sehen. Ein solches Manöver ist allerdings unwahrscheinlich. Es lässt sich kaum übertreiben, wie sehr die israelischen Moderaten und Linken Netanjahu verachten; für Lapid und Gantz wäre eine Zusammenarbeit ein politischer Selbstmord – doch für Israel wohl die beste Lösung. Es sei denn, natürlich, wenn eine unbeliebte, zerstrittene “Große Koalition” einfach zu noch mehr Stimmen für die Extremisten führt, wenn in vier, drei, zwei oder einem Jahr die nächsten Wahlen anstehen.
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