Was seitdem passiert ist… Neue Freunde und alte Feinde im Kaukasus

Wir bringen dir ein Update zu den Storys, die wir in den letzten Monaten behandelt haben.
Diese Ausgabe: Bergkarabach
(insgesamt 9 Minuten Lesezeit)

Neue Freunde und alte Feinde im Kaukasus_

Im Herbst 2020 kam das Déjà-vu: Kämpfe brachen wieder aus, um die bergige Region Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan; Kämpfe, welche sich schnell als vollwertiger Krieg herausstellten. Es war der Zweite Bergkarabachkrieg, die Fortsetzung eines militärischen Konflikts, welcher von 1988 bis 1994 gelaufen war. Dieser endete mit einem armenischen Sieg, in Form der Besetzung des gesamten Bergkarabachs und einiger umliegender Gebiete, welche als pseudounabhängige “Republik Arzach” aus Eriwan heraus verwaltet wurden. 26 Jahre später machte sich Aserbaidschan daran, gestärkt von Ölreichtum und hochmodernen Kampfdrohnen, sein verlorenes Gebiet zurückzuerobern.

Die whathappened-Redaktion veröffentlichte damals einen ihrer ersten Explainer. Sie beleuchtete den Hintergrund des Konflikts, welcher in seiner heutigen Form auf die gemeinsame Zeit der beiden Staaten als Sowjetprovinzen zurückgeht. Aserbaidschan verweist für seinen Anspruch auf internationales Recht und hat den Großteil der Rechtsmeinungen auf seiner Seite; Armenien hält dagegen und argumentiert, durchaus richtig, dass Bergkarabach ethnisch armenisch dominiert wird. Darüber hinaus erklärte der Explainer die Auslöser für den Konflikt, welche in diplomatischer Starrköpfigkeit und Kriegslust auf beiden Seiten zu finden waren; die Rolle von Drohnen auf dem Schlachtfeld; und die neue Geopolitik: Regionalmacht Russland wurde von der Türkei, einem engen Verbündeten Aserbaidschans, herausgefordert; Iran trug von der Seite bei; der Westen hielt sich faktisch raus.

Im Januar 2021 folgte ein UpdateAserbaidschan hatte den Krieg gewonnen. Armenien gab in einem Waffenstillstandsabkommen aus November 2020 sämtliche unumstritten aserbaidschanische Gebiete und weite Teile des umstrittenen Bergkarabachs zurück; das, was es behielt, war nur noch knapp ein Viertel und durch einen schmalen Korridor (in Form einer einzigen Straße) noch mit dem armenischen Kerngebiet verbunden. Russland, als gute Regionalmacht und Freund beider Seiten, würde den Waffenstillstand mit rund 2.000 Friedenstruppen sichern; die Türkei, als aufstrebende Regionalmacht und eindeutiger Verbündeter Bakus, saß in einem “Monitoringzentrum” mit am Tisch. Die beiden Kriegsparteien (insbesondere Armenien) machten sich ans Wundenlecken und Verbrechenermitteln. Der Krieg gehe zurück ins Eisfach, so das Fazit der whathappened-Redaktion, von wo er jedoch schnell wieder herausgeholt werden könne.

Im April 2022 schien es dann Hoffnungen auf diplomatische Durchbrüche zu geben, wie wir in einem neuen Update erklärten. Gleichzeitig blieb die Lage volatil: Die armenische Bevölkerung hatte wenig Lust auf (unvorteilhafte) Verhandlungen; die aserbaidschanische Regierung schien viele Aussichten darauf zu haben, ihre Verhandlungsposition erst einmal militärisch zu verbessern. Zeit also, einen erneuten Blick auf einen Konflikt zu werfen, welcher einfach nicht enden will.

Bergkarabach: Krieg am Stiel (November 2020, 12 Minuten Lesezeit)

Bergkarabach: Ein Krieg geht zurück ins Eisfach (Januar 2021, 12 Minuten Lesezeit) 

Bergkarabach-Update (April 2022, 5 Minuten Lesezeit)

Vom Grenzkonflikt…

Es hat nicht gerade eine Kristallkugel gebraucht, doch die whathappened-Redaktion lag mit ihrer Prognose richtig: “Ist der Konflikt [mit dem Waffenstillstand] beendet? Nein.” resümierte sie im Januar 2021. Das Trauma wechsele lediglich von Aserbaidschan nach Armenien. Tatsächlich war es schon kurz nach dem Ausrufen des Waffenstillstands (in den Worten Bakus eine “Kapitulation”, in den Worten Eriwans “keine Niederlage, solange man es nicht als Niederlage empfindet”) zu schweren Protesten in Armenien gekommen. Das Parlament wurde von wütenden Armeniern gestürmt, der Sprecher des Parlaments krankenhausreif zusammengeschlagen. Präsident Nikol Paschinjan hat politisch irgendwie bis heute überlebt, doch davon zu sprechen, dass er “angeschlagen” sei, wäre eine Untertreibung. Weite Teile der armenischen Gesellschaft werfen ihm vor, die Niederlage verursacht oder sich in den Verhandlungen zu wenig gegen die Abgabe weiter Gebiete gestemmt zu haben; selbst Verschwörungstheorien kursieren, wonach Paschinjan in Wahrheit mit Baku und Ankara paktiert habe, die armenische Niederlage also gezielt herbeigeführt habe, beispielsweise um eine Normalisierung des Verhältnisses mit der Türkei herzustellen.

Aserbaidschan war dagegen in Feierstimmung, denn es hatte nach eigener Lesart 26 Jahre an nationaler Demütigung umgekehrt. Das machte die zweite whathappened-Prognose einfach: “Noch mehr Gewalt ist wahrscheinlich [in Form von] Nadelstichen”. Baku hatte das Momentum und die Motivation auf seiner Seite. Fast umgehend kam es zu Zwist, so als Aserbaidschan mutmaßlich 160 armenische Soldaten entführte, weil sich diese in Dörfern aufgehalten hätten, welche Baku unter dem Waffenstillstandsabkommen für sich beanspruchte. Ab Mai 2021 schaukelte sich das zu einem vollwertigen Grenzkonflikt hoch, also gewissermaßen dem Status Quo Ante des Zweiten Bergkarabachkriegs, nur diesmal mit vorteilhafteren Grenzen für Aserbaidschan.

Gut zu wissen: Was ist ein Grenzkonflikt? Ein bewaffneter Konflikt, in welchem zwei Staaten zwar nicht die Staatlichkeit ihres Rivalen negieren und ihn womöglich sogar in territorial ähnlicher Form akzeptieren, aber über den exakten Verlauf der Grenze kämpfen. Oftmals sind Grenzkonflikte eher niedrigschwellige Kriege, welche mit regelmäßigen Drohgebärden, kleineren Scharmützeln und gelegentlichen Gewaltausbrüchen über Jahre laufen. Beispiele wären der Ukraine-Russland-Konflikt ab 2015 bis 2022, die Indien-Pakistan-Grenze, die Indien-China-Grenze oder der 2021 ausgebrochene Konflikt zwischen Kirgistan und Tadschikistan. Die Abgrenzung zum “klassischen” Krieg oder einem gar nicht bis kaum gewaltsamen Grenzstreit kann schwammig sein, doch hier findest du eine grobe Liste

Im (rhetorischen) Zentrum der neuen Konflikte stand die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan, welche durch die armenische Provinz Sjunik von Aserbaidschan abgetrennt wird, also keinerlei Verbindung zum Kernland hat. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijev verlangte im April 2021 einen Korridor durch Sjunik zur Exklave und drohte, diesen im Zweifelsfall mit Gewalt herzustellen. Zudem sei Sjunik in Wahrheit aserbaidschanisch und hieße “West-Zangazur”. Im Mai kam es dann zu einem ersten größeren Vorfall: Je nachdem, wen man fragt, drangen aserbaidschanische Truppen in armenisches Territorium vor oder bewegten sich lediglich auf aserbaidschanischem Territorium – Grenzkonflikt par excellence. Armenien involvierte Russland; Verhandlungen über die Bildung einer Kommission zur Grenzdemarkation liefen mit wenig Erfolg an.

… zum Zwei-Tage-Krieg

In den folgenden Monaten ging der Grenzkonflikt ungebrochen weiter, wurde zudem immer gewalttätiger. Kaum ein Monat verging ohne Gefechte oder Grenzüberschreitungen; Russland lief mit Ermittlungen und nachträglich durchgesetzten Waffenstillständen hinterher. Wer war schuld? Das ist in einem Grenzkonflikt notorisch schwierig festzustellen. Es gibt reichlich Indizien, dass die Aggressionen nach November 2020 primär von Aserbaidschan ausgingen. Armenien war in der Regel in der Defensive und zudem nachweislich militärisch unterlegen; Aserbaidschan hatte Momentum und Motivation auf seiner Seite. Zudem war auch in Baku innenpolitisch nicht alles im Reinen: Einigen Aserbaidschanern kam das Ergebnis von Ende 2020 wie ein unvollständiger Sieg vor, schließlich hatte Erzfeind Armenien einen Teil Bergkarabachs und einen Landkorridor dorthin behalten; Nachitschewan war eine Exklave geblieben. So wie Paschinjan unter Druck stand, sich zuhause für seine “Kapitulation” zu erklären, so stand Aliyev unter Druck, den aserbaidschanischen Sieg zu vervollständigen: Armenien ganz raus aus Bergkarabach, ein Landkorridor nach Nachitschewan. Doch nur einer der beiden Staatschefs hatte auch realistisch die Mittel, eine Eskalation sinnvoll zu verfolgen.

Mit dem Ukrainekrieg nahm der Grenzkonflikt an Fahrt auf, denn Russland war plötzlich abgelenkt. Am 24. März besetzte Aserbaidschan allem Anschein nach ein Dorf an der Grenze, aus welchem es sich erst Tage später zurückzog. Im August gab es neue Konflikte, bei welchen selbst Russland plötzlich Partei ergriff und Baku vorwarf, den fragilen Waffenstillstand zu destabilisieren.

Im September erfolgte dann der bislang schwerste Gewaltausbruch seit dem Bergkarabachkrieg 2020, passenderweise nicht weit vom zweijährigen Jubiläum entfernt. Mindestens 105 armenische und 71 aserbaidschanische Soldaten starben in mehreren Gefechten entlang der Grenze, ausgelöst wahlweise weil Aserbaidschan auf armenisches Territorium vorgedrungen war oder Armenien “Provokationen” durchgeführt hatte. Es kamen offenbar Artillerie, Granatwerfer und Drohnen zum Einsatz. Armenier nennen es den “Zwei-Tage-Krieg”, denn er endete nach zwei Tagen mit einer Waffenruhe.

Im Dezember begann dann eine Quasi-Blockade der armenischen Besitzungen in Bergkarabach: Selbsternannte aserbaidschanische Umweltaktivisten, relativ offensichtlich gesteuert von der Regierung in Baku, besetzen bis heute – Stand Ende Januar 2023 – den Latschin-Korridor, die dünne Verbindungsstraße zwischen Bergkarabach und Kern-Armenien. Güter gelangen im Grunde überhaupt nicht mehr in die Region, womit diese mehr oder minder auf Selbstversorgung angewiesen ist. In der Regionalhauptstadt Stepanakert sind Supermarktregale leer; für Milch, Zucker und andere Güter des täglichen Gebrauchs herrscht mitunter Rationierung. Für Aserbaidschan scheint es darum zu gehen, eigene Checkpoints auf der Straße des Latschin-Korridors einzurichten, was Aliyev als “unser legitimes Recht” bezeichnet. Doch im Kern ist es das Ziel, die Armenier in Bergkarabach zum Verlassen zu bewegen oder Armenien dazu zu bringen, einen Korridor in die Nachitschewan-Exklave zuzulassen, welcher faktisch unter aserbaidschanischer Kontrolle wäre.

Gut zu wissen: Der de-facto-Chef der pseudounabhängigen Republik Arzach, also der armenischen Besitzung in Bergkarabach, ist Ruben Wardanjan, ein russisch-armenischer Milliardär und ehemaliger Berater von Wladimir Putin. Im vergangenen Herbst gab er plötzlich seine russische Staatsbürgerschaft auf und zog nach Stepanakert um. Wie viele Verbindungen Wardanjan noch zum Kreml hat, ist unklar; Aserbaidschan wirft ihm vor, eine russische Marionette zu sein, mit dem Ziel, die Friedensgespräche zu sabotieren.

Ein Überblick über die Lage in Armenien und Aserbaidschan. Das blaue Gebiet wurde von Aserbaidschan im Bergkarabachkrieg erobert, das dunkelgrüne im Waffenstillstand an Baku übertragen. Das orange Gebiet ist der Teil von Bergkarabach, welcher in armenischer Hand verblieben ist. Der schmale violette Streifen ist der Latschin-Korridor, welcher “Arzach” noch mit Armenien verbindet und von russischen Friedenstruppen patrouilliert werden sollte, doch Stand Januar 2023 von aserbaidschanischen Protestlern blockiert ist. Die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan ist unten links zu sehen. Sie ist einer größten Streitpunkte zwischen den beiden Ländern, denn Aserbaidschan fordert eine Verbindungsstraße. Quelle: Kalj

Wo ist Russland?

Der Vorfall im September war größer als alle vorherigen und scheint in Armenien zu einem strategischen Umdenken geführt zu haben. Das Land ist Mitglied des russischen NATO-Pendants OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, auf Englisch CSTO), welches eigentlich im Angriffsfall seinen Mitgliedern militärisch beistehen muss. Da Armenien sich angegriffen sieht, rief es die OVKS – also im Grunde Moskau – um Hilfe an. Doch dieses winkte ab, versprach lediglich “Faktenfindungsmissionen”. Aserbaidschan ist seit 1999 kein OVKS-Mitglied mehr, doch Aliyev erklärte im November auf einer Festrede, dass sein Land mehr Freunde in der Organisation als Mitglied Armenien besitze, womit er recht haben dürfte (Alexander Lukaschenko, Machthaber in Belarus, nennt Aliyev “unseren Mann“, bezogen auf die OVKS).

In Armenien wächst die Wut über das russische Nichtstun, nicht nur beim von Anfang an unwahrscheinlichen militärischen Beistand gegen Aserbaidschan, sondern auch in der mangelhaften Durchsetzung des Waffenstillstands. Die Armenier sahen die russischen Friedenstruppen als Garanten der Waffenruhe, doch sie verhinderten weder die häufigen Gefechte und mutmaßlichen Grenzüberschreitungen, noch die Blockade des Latschin-Korridors, welcher genau in die Verantwortung der Russen fällt. Als Präsident Wladimir Putin im November 2022 Eriwan besuchte, gab es Proteste. Immer mehr Beobachter fordern, sich stärker an den Westen anzunähern, wenn auf Russland schon kein Verlass sei.

Tatsächlich scheint die EU bereit zu sein, aktiver im Kaukasus zu werden. Noch inmitten des Krieges 2020 und direkt nach ihm verurteilte sie lediglich brav sämtliche Gewaltausbrüche und hielt sich ansonsten heraus; deutete höchstens an, dass sie Aserbaidschan als Aggressor ansieht. Doch im Verlaufe des Jahre 2022, als die schwache, in der Ukraine verbrannte russische Hand allen Beobachtern deutlich geworden war, drängte sie stärker in den Konflikt hinein. Sie verurteilte Aserbaidschan immer ausdrücklicher und fungierte zugleich als Mediator, lud beispielsweise Paschinjan und Aliyev zu Friedensgesprächen nach Prag und Brüssel ein, welche große, wenn auch letztlich kurzlebige Erfolge verbuchten. Moskau, die traditionelle Regionalmacht, welche niemanden in seine Einflusszone hineinlässt und eigentlich sämtliche Mediation anführen müsste, konnte nur zuschauen.

Der Westen ist (ein bisschen) zurück

Zuletzt einigte sich die EU zudem mit Armenien, eine bislang eher symbolische Monitoring-Mission auszuweiten. Bis zu 100 EU-Beobachter sollen künftig die Konfliktlage und den Grenzverlauf überwachen. Das ist gleich doppelt heikel: Erstens, weil der Schritt das Verhältnis zu Aserbaidschan belasten wird. Die EU pflegte bislang vernünftige Beziehungen zu beiden Seiten, immerhin wandelte sich Armenien 2018 zur Demokratie, und Aserbaidschan, zwar fraglos autokratisch, war ein Wirtschaftspartner und Energielieferant. In Aserbaidschan wurde die EU ebenfalls positiv wahrgenommen, nicht zuletzt deswegen ließ sich das Land auf Friedensgespräche im EU-Rahmen ein. Dass die EU jetzt in den Konflikt vordrängt, kritisiert Baku als “Internationalisierung” eines Problems, welches nur Armenien und Aserbaidschan betreffe. Offenen Antagonismus dürfte es allerdings nicht betreiben, denn die EU bleibt ein wichtiger Partner und der beste verbleibende Mediator, trotz Armenien-Drall.

Zweitens, die EU bringt sich auf Konfliktkurs mit Russland, welches überhaupt nichts von wachsendem westlichen Einfluss in seiner Einflusszone hält. “Obwohl wir Verbündete sind, verhandelt die armenische Seite lieber mit der EU”, so Russlands Außenminister Sergei Lawrow verärgert. Viel tun kann Moskau, abgelenkt vom Ukrainekrieg, allerdings nicht. Das wissen nicht nur die EU und die USA, welche zum Beispiel mit einem Besuch von Ex-Unterhauschefin Nancy Pelosi in Eriwan im September 2022 ein Zeichen sandten, dass sie den Kaukasus durchaus noch auf dem Radar haben, sondern auch Armenien und Aserbaidschan. Diese nutzen den Moment der russischen Schwäche, um Territorium zu gewinnen oder sich an den Westen anzunähern – und manchmal beides gleichzeitig. Keines der beiden Länder käme auf die Idee, komplett mit Moskau zu brechen. Doch der Hinterhof Russlands wird etwas belebter, und das könnte der Nachbarschaft durchaus guttun.

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