Was seitdem passiert ist: Proteste in Frankreich, Israel und… Iran?

Wir bringen ein Update zu Themen, welche wir in früheren Explainern behandelt hatten.
Diese Ausgabe: Frankreich, Israel, Iran.

Frankreich: Mehr als Faulheit_

(5,5 Minuten Lesezeit)

Proteste in Paris, Januar 2023. Quelle: Anthony Baratier.

Frankreich und seine Renten

Wer in Paris durch die Straßen flaniert, könnte dieser Tage mehr Ratten als gewöhnlich entdecken: Die Müllabfuhr streikt, und der verwaiste Müllberg ist auf inzwischen etwa 10.000 Tonnen angewachsen. Das Müllmalheur hängt selbstverständlich mit einem Arbeitskampf zusammen, doch diesmal hat es eine besondere Dimension: Ganz Frankreich, so scheint es, zieht ins Gefecht. Der Gegner ist wieder einmal eine unbeliebte Rentenreform.

Worum geht es in der Rentenreform eigentlich? Weithin bekannt ist, dass sie das Renteneintrittsalter erhöht: Von derzeit 62 auf 64 Jahre, mit mindestens 43 Beitragsjahren für eine komplette Rente. Bislang gab es die volle Rente schon mit 41,5 Arbeitsjahren. Doch auch wer diese nicht leistet, durfte bislang spätestens mit 67 Jahren eine vollständige Rente beziehen. Auf der anderen Seite wartet nicht jeder bis zum 62. Lebensjahr: Manche Franzosen akzeptieren einige Jahre ohne staatliche Rente; andere haben so früh mit dem Arbeiten begonnen, dass sie vorzeitig die Beitragsjahre ableisten und dann per Ausnahme früher in Rente dürfen. Das effektive Renteneintrittsalter in Frankreich beträgt damit laut OECD 60,4 Jahre für Männer und 60,9 Jahre für Frauen. Die französischen Männer gehen so früh in Rente, wie unter den OECD-Staaten sonst nur die Slowakei oder Luxemburg; die Frauen immerhin noch überdurchschnittlich früh. Gepaart mit einer hohen Lebenserwartung verbringt kaum jemand so viele Jahre in der Rente wie französische Männer (23,5 Jahre) und Frauen (27,1 Jahre). 

Gut zu wissen: Das effektive Renteneintrittsalter in Deutschland liegt bei 63,1 Jahren für Männer und 63,2 Jahren für Frauen. Der OECD-Schnitt beträgt 63,8 und 62,4 Jahre. Daten

Frankreichs Rentensystem ist also verhältnismäßig großzügig und Ökonomen damit seit langem ein Dorn im Auge. Sie haben einige Argumente in der Tasche: Die Renten schlucken etwa 14 Prozent des französischen BIP, so viel wie fast nirgendwo in der Welt und über den 12 Prozent in Deutschland und 7 Prozent in den USA. Seit 2015 hat Frankreich mehr Über-60-Jährige als Unter-20-Jährige, Tendenz steigend, womit das Verhältnis aus Einzahlern und Beziehenden immer weiter kippt. Damit steuert das Rentensystem auf ein Defizit von schätzungsweise 14 Milliarden EUR bis 2030 zu. Langfristig scheinen weder Produktivität noch die Lebensstandards im Land sonderlich schnell zu steigen, als dass sie eine ungünstige demografische Entwicklung ausgleichen könnten. Eine Rentenreform scheint damit zur Frage von fiskalischer Stabilität und Generationengerechtigkeit zu geraten, denn ohne Reform ließen sich die hohen Rentenzahlungen nicht aufrechterhalten, so die Regierung, welche sich von ihrem Gesetz 18 Milliarden EUR Ersparnis verspricht.

Mehr als nur ein Scheck

Für die Franzosen hat ihr großzügiges Rentensystem kulturelle Bedeutung. Wohl mehr als in den meisten anderen Ländern zelebriert Frankreich, weniger arbeiten zu müssen; sieht das als natürliches Ergebnis von Fortschritt. Das zeigt sich in den Präferenzen: Der Anteil der Menschen, welcher Arbeit für “sehr wichtig” befindet, ist von 60 Prozent im Jahr 1990 auf 24 Prozent im Jahr 2021 gesunken, so der Thinktank Jean-Jaurès. Nur 40 Prozent der Franzosen würden Freizeit für mehr Geld opfern, gegenüber 63 Prozent im Jahr 2008. Kein Wunder also, dass das niedrige Renteneintrittsalter heilig ist: François Mitterrand hatte es 1982 von 65 auf 60 Jahre herabgesenkt; Versuche, es wieder anzuheben, scheiterten an intensiven Protestwellen. Erst Nicolas Sarkozy schaffte es 2010, die Erhöhung auf 62 Jahre durchzudrücken. Übrigens wie Macron in seiner zweiten und letzten Amtszeit.

Gut zu wissen: Dass Frankreichs Rentensystem auf eine rechnerische Bredouille zusteuert, lässt sich durchaus als Mehrheitsmeinung unter Experten bezeichnen, aber sie ist keineswegs die einzige: France24 diskutiert mit Bezug auf den Report einer unabhängigen Aufsichtsbehörde, “Warum Frankreichs ‘untragbares’ Rentensystem durchaus tragfähig sein kann“. Auf der anderen Seite titelte beispielsweise Bloomberg jüngst “Ob es einem gefällt oder nicht, Frankreich braucht Macrons Rentenreform“.

Um zu verstehen, wie aufgewühlt Frankreich ist, mag ein Blick auf die Zahlen reichen. Allein an einem Tag Anfang März gingen laut Regierung 1,28 Millionen Menschen auf die Straße, um gegen die Reform zu protestieren, laut Gewerkschaft gar 3,5 Millionen. Und das war nur eine von zahlreichen Protestwellen, welche stets von lähmenden Streiks flankiert wurden. Nicht nur die Müllabfuhr streikt, auch im Energie-, Transport- oder Bildungssektor legen Arbeiter das Land lahm, um Wut zu schüren und die Regierung aufzurütteln. Dramatische Bilder von brennenden Fahrzeugen, Zusammenstößen mit Sicherheitskräften und Verhaftungen überraschen in Frankreich niemanden mehr.

Komplexer, als es scheint

Es liegt nahe, den Franzosen Faulheit vorzuwerfen. Ihr Renteneintrittsalter ist niedrig, sie verbringen ungewöhnlich lange in der Rente und das Rentensystem steuert auf tiefe Defizite zu. Das ist nicht völlig fair: Es geht den Demonstranten, Sozialverbänden, Gewerkschaften, Rechtspopulisten und dem linken Parteienbündnis NUPES nicht nur um das spätere Eintrittsalter und die verlängerten Beitragsjahre, sondern auch um gewisse Details. So etwa die Tatsache, dass Frauen bei der Reform nicht besser wegkommen. Da Frauen überproportional häufig in Teilzeit arbeiten und ihre Karrieren mitunter für Kinder pausieren, arbeiten sie länger oder beziehen geringere Renten – und werden das nach der Rentenreform noch länger tun. Euronews rechnet vor, dass Frauen im Schnitt sieben Monate länger arbeiten müssen; Männer fünf Monate. Einige Staatsbedienstete verlieren vorteilhafte Konditionen. Und obwohl die Reform durchaus Ausnahmen für sehr lange Karrieren oder anstrengende Berufe vorsieht, kritisieren Gegner das als nicht genug. Auch die Erhöhung der Minimalrente glättet die Wogen nicht, da sie mutmaßlich nur sehr wenige Franzosen betreffen werde. Damit ist der Unmut auch Ausdruck einer Vertrauenskrise zwischen Staat und Gesellschaft: Eine Mehrheit der Franzosen – schätzungsweise 60 Prozent, laut Umfragen aus Januar – glauben der Regierung nicht, dass die Reform notwendig sei (warum nicht einfach Steuern auf Reiche erhöhen, so ein häufiger Einwand), und trauen den vermeintlichen Ausnahmen und Erleichterungen nicht. 

Gut zu wissen: Faul? Franzosen arbeiten mit 37 Stunden pro Woche im Schnitt mehr als Deutsche (35 Stunden) – genaugenommen tut das allerdings auch quasi jeder auf der Welt.

49.3

Es wird der Vertrauenskrise kaum helfen, dass Präsident Macron sein Flaggschiffprojekt nun per “nuklearer Option” in die Realität gehievt hat. Seine Partei Renaissance (einst “En Marche”) konnte das Gesetz dank der konservativen Republikaner durch das Oberhaus des Parlaments bringen, doch im Unterhaus bekam Macron offenbar keine Mehrheit zustande. Also zog er prophylaktisch Verfassungsartikel 49.3, welcher es der Regierung erlaubt, die Reform ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden. Nun kann man sich demokratietheoretische Spielereien erlauben und diskutieren, ob das “undemokratisch” sei – whathappened denkt das nicht, denn in einer Präsidialdemokratie gehören Dekrete nun einmal zum gesetzgeberischen Repertoire dazu -, doch es ist in jedem Fall ein heikler, kontroverser, unpopulärer Schritt.

Gut zu wissen: Artikel 49.3 wurde in den 1950ern durch Präsident Charles de Gaulle eingeführt, um die seiner Meinung nach zu mächtige Legislative auszugleichen. Seitdem wurde er 88 Mal von unterschiedlichen Regierungen eingesetzt.

Wie geht es in Frankreich nun weiter? Die Protestler sind umso wütender, denn sie fühlen sich, als hätte man ihnen eine Ohrfeige verpasst: Nicht nur, dass ihr Zorn nicht gehört wurde, die Regierung bugsiert die Reform quasi per Hintertür ins Gesetz. Viele empfinden den Schritt als undemokratisch und fürchten ein Erstarken der populistischen Rechten in der nächsten Wahl (moderatere Franzosen auch ein Erstarken der populistischen Linken). Streiks und Straßenproteste werden sich fortsetzen. Die Opposition kündigt Misstrauensvoten an, welche Macron zum Regierungsumbau oder zu Neuwahlen zwingen würden, doch dass diese Abstimmungen Erfolg haben, ist unwahrscheinlich: Die linke NUPES und der rechte Rassemblement National (RN) hassen einander zu sehr, um gemeinsam zu stimmen; die Republikaner sind nicht willens, die Macron-Regierung zu kippen. Für den Präsidenten heißt das, dass er sein Flaggschiffprojekt vermutlich umsetzen können wird. Es gibt einen Grund, warum er das in seiner letzten Amtszeit tut.

Israel erkennt sich selbst nicht wieder_

(6,5 Minuten Lesezeit)

Proteste in Tel-Aviv, März 2023. Quelle: Amir Terkel

Für die Israelis mögen die Vorgänge in Frankreich wie Kinderkram wirken. Spätere Renten? Papperlappapp: Hier steht die Zukunft der Demokratie auf dem Spiel. So zumindest die Sorgen der regelmäßig Hunderttausenden Protestler, welche damit vermutlich die größte Protestbewegung in der fast genau 75-jährigen Geschichte Israels darstellen. Im Kern steht eine hochkontroverse Justizreform, welche nach Ansicht ihrer Unterstützer gravierende Probleme in den israelischen Institutionen löst und nach Ansicht ihrer Gegner das Land in die Tyrannei stößt.

Dem Gericht die Zähne ziehen

Die Justizreform würde das Oberste Gericht gegenüber dem Parlament – und damit der Regierung – schwächenKonkret wird die Reform die Besetzung einer neunköpfigen Kommission ändern, welche die Obersten Richter ernennt. Bislang besteht diese aus drei Richtern, zwei Vertretern der Anwaltskammer, zwei Ministern und zwei Abgeordneten – also fünf Rechtsexperten und vier Politikern. Für eine Ernennung benötigt es sieben Zustimmungen, es sind also Kompromisse beider Lager vonnöten. Die Reform würde den Regierungsvertretern eine automatische Mehrheit sichern, also dafür sorgen, dass die Regierung die Obersten Richter ernennen kann.

Eine zweite große Änderung wäre, dass das Parlament künftig mit einfacher Mehrheit Vetos des Obersten Gerichts kippen kann. Urteilt dieses, dass ein Gesetz verfassungswidrig sei, kann die Regierung, welche vermutlich mit zumindest 61 von 120 Stimmen im Parlament ausgestattet ist, die Entscheidung kurzerhand kassieren. Bislang ist das nicht möglich, weswegen das Oberste Gericht immer wieder Regierungsentscheidungen blockiert, ohne, dass die Exekutive etwas dagegen tun könnte.

Drittens, wäre das Oberste Gericht eingeschränkt in seiner Fähigkeit, Regierungsentscheidungen oder Ernennungen auf Basis von “Unzumutbarkeit” zu kippenwas relativ schwammig definierte ethische Abwägungen beschreibt. Einen solchen Fall gab es erst unlängst, als das Gericht einem Minister der neuen Netanjahu-Regierung verbot, sein Amt anzutreten, da er eine Vorstrafe hatte.

Viertens, würde die Reform Ministern mehr Freiheit bieten, ihre eigenen Rechtsberater auszuwählen und deren Vorschläge zu ignorieren. Das schwächt den unabhängigen Generalstaatsanwalt, welcher die Berater bislang auswählt.

Die Reform wird von der neuen ultrarechten Regierung getrieben. Wie er angekündigt – angedroht? – hatte, kehrte Dauerpremier Benjamin “Bibi” Netanjahu 2022 nach einem kurzen Intermezzo unter einer “Anti-Bibi-Koalition” wieder ins Amt zurück. Der erwiesene Pragmatiker paktierte allerdings mit den rechtesten Koalitionspartnern in der Geschichte Israels. Es sind diese ultrarechten Israelis, teils Siedler, sowie ultraorthodoxe Juden, welche den Gesetzesvorstoß verlangt hatten und jetzt zelebrieren.

Gut zu wissen: Unser Explainer Israel und die Extremisten aus November 2022 beleuchtet Israels neue Koalition und ihre Gefahren für das Land. Unser älterer Explainer Israels verrückte Innenpolitik aus März 2021 erklärt die komplizierte Gesellschaft und Politik des Landes.

Mission Creep

Die Rechten fühlen sich seit Jahren vom Obersten Gericht gegängelt. Die Richter stoppten gelegentlich den Siedlungsbau im Westjordanland oder die von Ultraorthodoxen gewollte religiöse Diskriminierung; zudem griffen sie mitunter die Ausnahmen der Ultraorthodoxen vom Militärdienst oder anderen gesellschaftlichen Pflichten an. Nicht ohne Berechtigung beklagen die Unterstützer der Reform, dass das Gericht als ungewählte Institution in den vergangenen Jahren immer tiefer in die Tagespolitik und in die Gesetzgebung vorgedrungen ist und dieser einen Stempel aufsetzt. “Wir gehen an die Wahlurnen und stimmen ab, und jedes Mal aufs Neue entscheiden Menschen, welche wir nicht gewählt hatten”, so Justizminister Yariv Levin.

Das Besondere an Israel ist, dass es keine förmliche Verfassung besitzt. Das liegt an der komplizierten Geschichte des Landes, welches nach 1948 gleichzeitig einen funktionierenden Staat kreieren und mehrere Angriffskriege überleben musste. Immigrationswellen europäischer, (post-)sowjetischer, arabischer und afrikanischer Juden sowie Nichtjuden machten die Gesellschaft diverser und die Suche nach einem Verfassungskonsens schwieriger. Der Umgang mit der nicht-jüdischen arabischen Bevölkerung und, spätestens ab 1967, mit der palästinensischen Besatzung, sorgten für noch mehr Komplikationen. Keine Verfassung zu haben erlaubte eine gewisse Flexibilität, welche Israel guttat. Doch in die Lücke trat das Oberste Gericht, welches kurzerhand die grundlegenden Gesetze als Quasi-Verfassung heranzog. Schon seit mindestens zwei Jahrzehnten wird der wachsende, womöglich überbordende Einfluss des Obersten Gerichts diskutiert.

Gut zu wissen: Israel besitzt wie Deutschland keine förmliche Verfassung, doch dafür “Grundgesetze”. Dennoch ist die Lage unterschiedlich: Das deutsche Grundgesetz ist weitaus starrer und schwieriger abzuändern als die israelischen Grundgesetze. Damit ähnelt das deutsche Grundgesetz eher einer förmlichen Verfassung als der israelische Fall. 

Exekutive, Legislative, Exekutive

Obwohl kaum jemand negiert, dass das Oberste Gericht eine Reform gebrauchen könnte, sorgt der aktuelle Vorstoß für scharfe Opposition. Die Präsidentin des Obersten Gerichts, Esther Hayut, warnte Mitte Januar vor einer “tödlichen Wunde für die Unabhängigkeit der Justiz, [welche] die demokratische Identität des Landes bis zur Unkenntlichkeit verändern” werde – eine bemerkenswert öffentliche Kritik an der Regierung. Der Thinktank Israel Democracy Institute beklagt, dass die Macht der Regierung nicht mehr kontrolliert würde. Staatspräsident Jitzchak Herzog warnte, dass Israel “am Abgrund” stehe und ein Bürgerkrieg eine echte Gefahr sei. Ausländische Staats- und Regierungschefs sowie Spitzenökonomen warnen Jerusalem, nicht den Prozess der Orbanisierung im Stile Ungarns einzuleiten.

Tatsächlich ist der Vorstoß aus Sicht der Gewaltenteilung pikant. Denn wo auch in anderen Ländern die Obersten Gerichte teilweise politisch besetzt werden – in den USA schlägt der Präsident Richter vor und der Senat stimmt zu -, hat Israel einen völlig anderen institutionellen Aufbau: Es gibt keine förmliche Verfassung, nur eine einzige Kammer im Parlament, einen in erster Linie symbolischen Präsidenten und kein Föderalsystem. Die Justiz, so Gegner der Reform, ist die einzige wahre Machtkontrolle, welche Israel zu bieten habe. Würde die Justiz der Regierung und dem Parlament untergeordnet, drohe Israel von einer liberalen Demokratie zu einer Mehrheitstyrannei zu geraten.

Tatsächlich ist die Reform nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung beliebt. In einer Umfrage im Februar sprachen sich nur 24 Prozent dafür aus, mit der Reform fortzufahren; 31 Prozent wollen sie komplett stoppen, weitere 31 Prozent wollen sie verlangsamen und einen gangbaren Kompromiss suchen. Selbst unter den Netanjahu-Wählern wollen genauso viele pausieren wie fortfahren. Vielleicht noch bemerkenswerter ist, dass sich auch Fraktionen einmischen, welche sonst eher zurückhaltend bleiben: Der wichtige Techsektor in Israel und die Armee. Viele Tech-Arbeiter sind unter den Protestlern; Investoren und Branchenverbände appellieren offen an die Regierung und warnen, dass die Reform Israel als Investitionsstandort schwäche. Allein bis Anfang Februar hatten mindestens neun Milliarden-Startups Gelder aus Israel abgezogen, ausdrücklich im Zusammenhang mit der Justizreform. Derweil protestieren auch Hunderte Soldaten und gehen gewissermaßen in den Streik; einige sprechen gar davon, dass ihre Loyalität keiner “Diktatur” gehöre – ein schriller Ton. Bemerkenswert ist das vor allem, weil diese zwei Gruppen in der Vergangenheit meist eine gewisse Überparteilichkeit für sich beansprucht hatten. Nun sehen sie ausreichend Gefahr, um sich zu positionieren.

In gewisser Hinsicht geht es darum, dass ein impliziter sozialer Vertrag überstrapaziert wird. Seit Jahrzehnten sind es die moderaten Israelis, welche das Land verteidigen und die Wirtschaft aufbauen. Ultraorthodoxe Juden – inzwischen immerhin fast ein Siebtel der Bevölkerung, Tendenz rasant steigend – verbringen ihr Leben derweil mit dem Studium der Tora; arbeiten also nicht und verweigern auch den Militärdienst. Im Gegenzug dürfen die “Moderaten” maßgeblich entscheiden, wie das Land aussieht, welches schließlich liberale Demokratie und nicht ultraorthodoxe Theokratie ist. Der Angriff auf das Oberste Gericht fühlt sich für viele Israelis so an, als würde am Vertrag gerüttelt.

Wie geht es weiter?

Anders als in Frankreich ist die Justizreform in Israel noch nicht verabschiedet, doch sie befindet sich auf dem Weg dorthin. In einigen Wochen könnte die Regierung sie durch sämtliche Abstimmungen im Parlament bringen. Womöglich genügt der Druck von so vielen Seiten – Bevölkerung, Techsektor, Ökonomen, Sicherheitsdienste, Ausland – um die Regierung zum Einlenken zu bringen. Seine Koalitionspartner mögen es zwar nicht sein, doch Netanjahu war in der Vergangenheit ein ausgesprochener Verfechter der Unabhängigkeit der Justiz – auch wenn Kritiker ihm vorwerfen, aufgrund seiner eigenen Rechtssorgen die Reform zu unterstützen. Vielleicht helfen ja die in der Bevölkerung beliebten Alternativvorschläge: Präsident Herzog hat einen Reformentwurf vorgelegt, welcher das Gericht vorsichtiger verändern würde, doch Wünsche des Rechtsbündnisses berücksichtigt. Die Regierung zeigt sich betont genervt, doch signalisiert auch etwas Offenheit, sich über einen Kompromiss zu unterhalten. Noch nicht alles verloren in Israel.

Was whathappened auffällt: Die Proteste rund um die Justizreform berühren das Selbstverständnis der Israelis und die Frage, in was für einem Staat sie leben – demokratisch oder nicht? Und falls ja, wie demokratisch? Entsprechend intensiv sind die Demonstrationen, denn es geht ums Existenzielle. Dem gegenüber fällt auf, wie weit entfernt die “Palästinenserfrage” wirkt. Längst ein größeres Thema im Ausland als in Israel selbst, sehen viele Israelis den Siedlungsbau, die Besatzung des Westjordanlands, die Spannungen zwischen Siedlern und Palästinensern und den Konflikt mit dem Gazastreifen als weit entfernte Probleme. Nicht, dass sie per se ignoriert würden – doch nach Jahrzehnten mit wenig Fortschritt sind sie zum Hintergrundrauschen geraten. Sie erwecken nicht dieselbe Reaktion im liberalen, moderaten Israel wie die Justizreform, obwohl auch sie Fragen zur Natur und Vision des Staates aufwerfen.

(Fast) Nur Stille im Iran_

(4 Minuten Lesezeit)

Proteste an der Amir Kabir Universität, Teheran; September 2022. Quelle: Darafsh

Das Belarus-Szenario

Vielleicht erinnerst du dich: Im Herbst 2022 loderte es in Iran; schwere Proteste gegen die Theokratie liefen und die Medien waren ganz vorne mit dabei. Da sie durch den Tod einer jungen Frau im Gewahrsam der (später aufgelösten) Sittenpolizei verursacht worden waren und offenbar viele Frauen an ihnen teilnahmen (so recht wissen tut man das nicht), wurden sie mitunter Frauenproteste getauft. Gerade in den westlichen Medien herrschte eine gewisse Begeisterung: War ein bemerkenswert moderner, femininer Protest vielleicht das, was Iran gefehlt hatte? War es endlich die Gelegenheit, drakonische Sittengesetze oder gar die Islamische Republik als solche zu überwinden?

Die Antwort auf die allzu offensichtliche rhetorische Frage ist ernüchternd: Fast ein halbes Jahr später haben die Proteste bedeutend an Dynamik verloren, scheinen weitestgehend niedergeschlagen zu sein. whathappened hatte das in einem Explainer im Oktober 2022 – “Iran im Aufruhr” bereits befürchtet. Wir schrieben darin:

“Iran hat eine lange Geschichte aus intensiven Protesten, welche vom Sicherheitsapparat über Wochen und Monate zermalmt werden – eine der wenigen Domänen, in welchen die iranische Regierung Fähigkeit beweist. Die Proteste sind groß und intensiv, doch an den Millionenprotest 2009 kommen sie bislang nicht heran. Die Zahl der Teilnehmer scheint zuletzt ein Plateau erreicht zu haben. Der medial beliebte Verweis auf die weibliche Natur der Proteste ist ideell interessant, aber hilft ihren praktischen Erfolgsaussichten letztlich wenig, wenn Sicherheitskräfte auf Frauen und Männer zugleich zu schießen bereit sind. Die als Stärke beschworene Organisationslosigkeit der Demonstranten bedeutet im Umkehrschluss, dass ihnen Führung und ein kohärenter Plan fehlen. Wichtige Unterstützung aus der Elite hat sich bislang nur in Form von Händlern und Prominenten materialisiert, während Klerus, Militär oder Reformpolitiker sich zurückhalten. Ein Generalstreik ist nicht zustande gekommen.

… sowie: 

Die entscheidende Frage in den kommenden Wochen und Monaten ist, was für eine Dynamik die Proteste annehmenEinerseits kann die Zeit gegen sie arbeiten. Je länger die Demonstrationen andauern, umso unwahrscheinlicher wirkt ein durchschlagender Erfolg. Das bewegt immer mehr potenzielle Unterstützer dazu, sich lieber ihrem Alltagsleben zuzuwenden oder staatliche Repressionen zu vermeiden – doch mit sinkender Unterstützung sinkt wiederum die Erfolgschance. Ein Teufelskreis, welcher schon in der Vergangenheit in Iran, doch auch in Ländern wie Venezuela 2018, Belarus 2020 und Hongkong 2020 zu beobachten war. Andererseits kann die Zeit zu ihren Gunsten wirken: Halten die Iraner die Proteste in ausreichender Intensität und ausreichend lang aufrecht, könnte das mehr Menschen davon überzeugen, dass die Unruhen den staatlichen Unterdrückungsapparat tatsächlich überdauern können. Der Ayatollah und sein Präsident würden angeschlagen wirken, was elitäre Kräfte aus dem Versteck lockt. Auf einmal wäre die Theokratie tatsächlich am Wackeln. So ähnlich lief es zum Beispiel in der Ukraine 2014 sowie Kirgistan 2010.”

Kriegsführung gegen Gott

Mit ihrer eingeübten Brutalität scheint es dem Regime um Ayatollah Khameini, Präsident Ebrahim Raisi und der mächtigen Revolutionsgarde gelungen zu sein, unser “Einerseits”-Szenario herbeizuführen und die Proteste zu stoppen. Was das im Detail bedeutet, ist unklar, da der Informationsfluss nach außen heftig reglementiert wurde. Menschenrechtsaktivisten zählten bereits Anfang Dezember knapp 500 Tote, darunter 68 Kinder, womit die wahre Zahl noch deutlich höher liegen dürfte. Bis zu 19.262 Iraner wurden verhaftet und einige von ihnen nach Schauprozessen zu Tode verurteilt und hingerichtet. Mitunter hatten Angeklagte nur 15 Minuten Zeit, um sich persönlich vor Gericht gegen die Todesstrafe zu verteidigen (der Strafbestand lautete schon einmal “Kriegsführung gegen Gott“). Es dürften auch diese Hinrichtungen gewesen sein, welche mehr und mehr Protestler zu sehr verängstigten, um weiter auf die Straße zu gehen. Oppositionelle Websites versuchen mitunter, es mit kaltem Wetter im Winter wegzuerklären – doch kommen nicht umhin, einzuräumen, dass die Repressionen der Regierung die Proteste effektiv beendet haben.

Das Niederschlagen gelang pünktlich zum 44. Jahrestag der Islamischen Revolution Mitte Februar. Die “Unruhen”, selbstverständlich vom Ausland gesteuert, seien gescheitert, so Präsident Raisi bei einer Festrede. Die Regierung war selbstbewusst genug, um die Daumenschrauben wieder etwas zu lockern: “Zehntausende” Gefangene wurden freigelassen, auch wenn Tausende Protestler offenbar nicht dazugehörten. In Teheran scheint wieder gute Stimmung zu herrschen. Nicht in der Stadt selbst, aber im Regierungsviertel.

Noch nicht aller Tage Abend

Völlig vorbei sind die Proteste aber noch nicht. Erstens, weil sie mancherorts tatsächlich noch gelegentlich aufzubranden scheinen und zumindest an einem Ort regelmäßig stattfinden: In der entlegenen Provinz Sistan und Belutschistan, der ärmsten aller 31 iranischen Provinzen, direkt an der Grenze zu Pakistan und Afghanistan gelegen. In der dortigen Hauptstadt Zahedan gehen noch Stand heute, Mitte März, viele Menschen auf die Straße, genaugenommen ungebrochen seit Ende September. “Ich werde töten, wer auch immer meinen Bruder getötet hatte“, so einer der Protestrufe. Und das wäre somit der zweite Grund, warum die Proteste noch nicht vorbei sind, sondern genauso gut als pausiert bezeichnet werden könnten: Das brutale Vorgehen der Regierung schafft nur noch mehr Wut in der Bevölkerung. Gepaart mit permanenten strukturellen Problemen, vor allem einer hilflosen Wirtschaft, existiert ein perfektes Fundament für die nächste Protestwelle. Irgendeine wird für die Theokratie die Letzte sein.

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