Was seitdem passiert ist… China und Taiwan

Wir bringen dir ein Update zu den Storys, die wir in den letzten Monaten behandelt haben.
Diese Ausgabe: Taiwan
(14 Minuten Lesezeit)

Taiwan lernt von der Ukraine_

Taiwan und China – ein Kurzüberblick

In unserem Explainer aus Januar 2021 erklärten wir den China-Taiwan-Konflikt. Geboren war er aus der Geschichte des chinesischen Bürgerkriegs bis 1949 und der Flucht des besiegten Nationalchinas auf die Insel Taiwan, wo sich ein erst heißer, dann kalter Krieg zwischen der nationalistisch-autokratischen Regierung und dem kommunistischen Festlandchina entwickelte. China und Taiwan erkannten an, dass sie die andere Seite nicht so schnell loswerden würden und begannen, sich miteinander zu arrangieren. Die “Ein-China-Politik entstand: Beide einigten sich darauf, dass es eigentlich nur ein China gebe, doch man sich eben uneinig sei, wer das eine China sei.

Mehr zum Hintergrund des Taiwan-Konflikts in unserem Explainer aus Januar 2021.

In den 1990ern machte Taiwan nicht zuletzt aufgrund des hohen westlichen Einflusses auf das Land eine beeindruckende Demokratisierung durch, während gleichzeitig eine Pro-Unabhängigkeit-Bewegung heranwuchs. “Unabhängigkeit” ist an dieser Stelle etwas irritierend, ist Taiwan doch faktisch eindeutig ein souveräner Staat – nur eben nach Meinung der meisten anderen Staaten nicht offiziell und im Sinne der Ein-China-Politik auch nicht so recht von China zu unterscheiden. Nun war allerdings eine Generation aufgewachsen, welche sich in erster Linie als Taiwaner sah und ihr Land nicht länger als “China” verstehen wollte.

Diese neue Generation aus Taiwanern hatte nie etwas anderes als Taiwan gekannt. Die “Republik China” war für sie einfach nur ein offizieller Name für Taiwan, nicht die Bezeichnung des (fast) gesamten Festlandchinas wie bis 1949. Die “Kuomintang” war für sie einfach nur eine Partei von mehreren, nicht die Beherrscherin Chinas. Selbst die kulturellen Verbindungen zu Festlandchina, welche zwar bis heute eng und breit bleiben, haben über den Verlauf der Zeit mehr ab- als zugenommen

Für Peking ist die taiwanische Pro-Unabhängkeit-Bewegung ein Problem: Die Volksrepublik China betrachtet Taiwan nach wie vor als integralen Bestandteil. Ein verlorenes Kind, welches es den Weg zurückzuweisen gilt. Solange Taiwan beim mehrdeutigen Ein-China-Spiel mitspielt, lässt sich darauf verweisen, dass ein Prozess der freiwilligen Wiedervereinigung am Laufen sei, welcher nur eben Zeit brauche. Würde Taiwan dagegen seine Unabhängigkeit erklären, ließe sich das Narrativ kaum noch aufrechterhalten. China müsste Taiwan dann entweder ziehen lassen – unmöglich für eine ambitionierte, aufsteigende Macht, welche 2049 in Gänze ihr hundertjähriges Jubiläum feiern möchte – oder die Vereinigung erzwingen.

Gut zu wissen: Bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2022 gab es eine Szene, welche im chinesischen Internet als klare politische Metapher aufgefasst wurde: Hunderte Kinder formten mit Laternen Figuren in der Stadionmitte, als eines der Kinder sich scheinbar verirrte und davonlief – doch von einem anderen Kind zurückgebracht wurde. Ein Versehen? Wohl kaum, so der Tenor im zutiefst zensierten Internet. Nicht zuletzt, da das verirrte Kind, welches geschwind zurück zur Gemeinschaft gebracht wurde, rechts unten stand. Südöstlich also. Genau wie Taiwan, von Festlandchina aus gesehen.

Das ist also der Hintergrund für das Gespenst des Krieges in Ostasien. Taiwan turtelt zunehmend damit, seinen eigenen Weg zu gehen. Für China ist es immer weniger eine Option, die Insel ziehen zu lassen. Gleichzeitig sinkt Pekings Raum, einer heimischen oder ausländischen Audienz eine friedliche Wiedervereinigung glaubwürdig zu machen. Das Ergebnis ist, dass die Gefahr einer militärischen Konfrontation steigt, da Peking versuchen könnte, sich Taiwan ganz ohne Freiwilligkeit einzuverleiben.

Ein reales Risiko

Die Gefahr einer chinesischen Invasion ist alles andere als fiktiv. Peking verspricht eine Wiedervereinigung bis 2049, also dem hundertjährigen Jubiläum der Volksrepublik. Es impliziert, dass es eine Invasion erwägen würde, sollten friedliche Methoden scheitern. Es wiederholt zuverlässig, dass das Ausrufen eines unabhängigen Taiwans Krieg bedeute. Es entsendet regelmäßig Kampfflieger in die Taiwanstraße, die See zwischen Taiwan und Festland, womit es den Inselstaat zwingt, seine eigenen Flieger aufsteigen zu lassen – der sogenannte Graue Krieg, zu welchem auch Cyberattacken und Propagandakampagnen gezählt werden dürfen. Westliche Analysten und Geheimdienstler sprechen schon mal davon, dass sie bis 2027 eine Invasion erwarten – Privatmeinungen, selbstverständlich. Unbestätigte Leaks behaupten, dass der russische Geheimdienst FSB eine Invasion Chinas im Herbst 2022 erwartet hatte, die Pläne aber durch die Invasion der Ukraine durcheinander gebracht worden seien. 

Der Explainer im Januar 2021 war inspiriert von einem auffälligen Anstieg an Verletzungen der taiwanischen Luftidentifikationszone(nicht zu verwechseln mit dem enger bemessenen Luftraum) durch chinesische Kampfflieger. In den Monaten darauf ging es sehr ähnlich weiter, vor allem im Herbst brachen die chinesischen Provokationen sämtliche Rekorde, vermutlich als Reaktion auf verstärkte westliche Aktivitäten im Indopazifik. Seitdem war das Spannendste im Taiwankonflikt ausgerechnet etwas, das Tausende Kilometer entfernt stattgefunden hat: die russische Invasion der Ukraine.

Die Ukraine und Taiwan im selben Boot

Zwischen der Ukraine und Taiwan gibt es so einige Gemeinsamkeiten. Beide haben eine kulturell verwandte, nukleare Großmacht als Nachbarn, welche die eigene Staatlichkeit negiert. Beide scheinen (oder schienen) militärisch, wirtschaftlich und technologisch gnadenlos unterlegen. Beide wissen den Westen auf ihrer Seite, mit den USA als größter Schutzmacht. Die russische Invasion der Ukraine ist für Taiwan – doch auch für China – somit hochspannend. Ein Überblick.

Für Taiwan hat die Invasion fünf wichtige Erkenntnisse. Die erste: Eine Verteidigung gegen einen deutlich größeren, überlegenen Gegner ist möglich. Für ein Land, welches seit sieben Jahrzehnten mit einer Invasion rechnet (und anfangs eigene erwogen hatte) spielt das Militär eine kulturell doch recht geringe Rolle. Das Verteidigungsbudget anteilig am BIP ist von 5,2 Prozent im Jahr 1990 auf 1,9 Prozent im Jahr 2020 gesunken. Die Wehrpflicht ist unbeliebt und dauert inzwischen nur noch vier Monate – gerade genug für die grundlegendste Ausbildung. Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass Taiwan in den frühen 1990ern die unbeliebte Militärdiktatur überwand und sich Taiwaner heute als klare Demokraten verstehen. Doch auch ein gewisser Fatalismus dürfte hineinspielen: Was soll Taiwan schon tun, wenn China tatsächlich angreift?

Der erfolgreiche ukrainische Widerstand gegen Russland, welcher in sympathisierenden Medien einen spürbaren Heroismus erlangt, inspiriert die Taiwaner. Vielleicht ist das Kräfteungleichgewicht doch gar nicht so massiv, wie es den Anschein machte? Der Anteil der Taiwaner, welcher im Falle einer Invasion zu kämpfen bereit wäre, stieg von 40 Prozent im Dezember auf 70 Prozent (€) im März, so eine Umfrage des Taiwan Centre for International Strategic Studies. Die Zustimmung für eine Verlängerung der Wehrpflicht ist gewachsen und lag im März bei 76 Prozent. Eine Wehrpflicht für Frauen ist erstmals im Gespräch. Die Rufe nach einer Freiwilligenarmee wachsen und auch wenn die Regierung bislang keine Anstalten macht, die Bevölkerung zu militarisieren, lassen sich immer mehr Zivilisten in privaten Kursen ausbilden: In Erster Hilfe, in Selbstverteidigung oder im Schusswaffengebrauch. Zwar nicht ganz Partisanen, aber ein kleiner Schritt in die Richtung.

Der Westen und seine Grenzen

Zweitens, die Unterstützung des Westens ist wichtig – doch hat ernsthafte Einschränkungen. Die Ukraine hätte ihre Erfolge nicht ohne die materielle, finanzielle und militärische Hilfe des Westens erreichen können. Letztere bezieht sich auf direkte Waffenlieferungen in Milliardenhöhe als auch auf die Umstrukturierung der ukrainischen Streitkräfte seit 2014: Im ersten Grenzkonflikt mit Russland hatte die Ukraine katastrophal abgeschnitten, weswegen sie ihre Streitkräfte grundlegend reformierte. Anstelle einer “top-down”-Sowjetdoktrin, in welcher Offiziere bei Vorgesetzten anrufen und Befehle einholen müssen, trat die NATO-Doktrin, in welcher (Unter-)Offiziere eigenständig Schlachtfeldentscheidungen treffen dürfen und somit flexibler agieren und mehr Erfahrung sammeln.

Auch Taiwan profitiert von Unterstützung des Westens. Allein unter US-Präsident Joe Biden ist bereits fast eine Milliarde Dollar an Militärgerät an die Insel verkauft worden, darunter schwere Artillerie. In vier Jahren Trump-Regierung waren es gar über 18 Milliarden USD. Amerikanische Soldaten befinden sich in Taiwan und unterstützen vermutlich die Ausbildung der Armee (wobei es sich nur um wenige Dutzend handelt). Die USA betonen mit ihrer Politik der “strategischen Mehrdeutigkeit”, dass sie Taiwan militärisch zur Hilfe eilen könnten. Präsident Biden brach gar drei Mal innerhalb eines Jahres damit und sprach Taiwan offene militärische Unterstützung zu – das Weiße Haus kassierte die Aussage zwar jedes Mal, doch die strategische Mehrdeutigkeit wird jedes Mal ein Stückchen eindeutiger. Selbst Japan, welches sich traditionell-pazifistisch lieber heraushielt, positioniert sich plötzlich ungewohnt klar zugunsten Taiwans und erklärt sich bemerkenswert deutlich bereit, Partei in einem militärischen Konflikt zu sein. Kein Wunder, sprechen sich immerhin 74 Prozent der Japaner für eine Intervention in der Taiwanstraße aus.

Gut zu wissen: Du verstehst die Lage nur dann vollständig, wenn du auch den geopolitischen Wettstreit im weiteren Indopazifik nicht aus dem Blick verlierst. Unser Explainer zum Indopazifik aus Oktober 2021, nach wie vor aktuell, hilft dir aus.

Allerdings hat die Ukraine gezeigt, dass die Unterstützung ihre Grenzen hat. Die USA betonten ausdrücklich, dass sie keine Truppen in die Ukraine entsenden würden; zogen gar alle Militärausbilder im Land höflich vor Beginn der russischen Invasion ab. Sämtliche Aktivitäten des Westens werden auf ihr Eskalations- und Provokationspotenzial gegenüber Russland hin abgeklopft: Flugverbotszone? Auf keinen Fall. Ukrainische Streitkräfte mit wichtigen Schlachtfeldinformationen versorgen? Ja, aber keine direkte Verbindung zur Tötung russischer Generäle bestätigen. Waffen entsenden? Ja, aber bei Kampfpanzern wird es etwas uneindeutig. Schwere Artillerie? Ja, aber nur mit öffentlicher Erklärung, dass der Ukraine mitgeteilt wurde, dass sie russisches Territorium nicht beschießen dürfe. Der Westen will unterstützen, aber er will nicht direkt in den Krieg gezogen werden. Verübeln lässt sich ihm das kaum, ist die Gefahr eines Nuklearkriegs doch viel zu real. Egal, bei welchen Maßnahmen man die Linie ziehen mag, fast jeder westliche Beobachter erkennt an, dass die Linie existiert.

Warum sollte das bei Taiwan anders aussehen? Für die Insel ist das ein Problem. Denn sie verlässt sich seit Jahrzehnten auf den amerikanischen Schutzschild, muss aber realisieren, dass eine militärische Intervention gegen ebenso-Nuklearmacht China alles andere als gesichert ist. Der Anteil der Taiwaner, welcher denkt, dass die USA im Fall einer Invasion zur Hilfe kämen, ist in den vergangenen Monaten von 55 auf 34,5 Prozent (cn) gefallen. China versucht, solche Zweifel in seiner Propaganda in Richtung Taiwans zu unterstreichen. Die Geographie spielt hinein: Die Ukraine ist von Verbündeten umgeben und besitzt eine riesige Grenze zu EU-Staaten, welche Flüchtlinge und Waffentransporte zugleich nutzen können. Ukrainische Soldaten werden in westlichen Staaten an geliefertem Kriegsgerät ausgebildet, bevor sie zurück in den Kampf ziehen. Russland hat keine Chance, diese Grenzbewegung zu verhindern, zumindest bis es die Grenze nicht physisch kontrolliert. Taiwan ist dagegen eine Insel – das macht es schwieriger anzugreifen, doch erschwert auch Unterstützung durch Freunde.

Taiwan hat gleichzeitig einen großen Vorteil: Es ist wahrscheinlicher, dass die USA tatsächlich bereit sind, für sie in den Krieg zu ziehen als für die Ukraine. Taiwan nimmt eine zentrale Rolle in der globalen Chipwertschöpfungskette ein, welche eine Säule der globalen Wirtschaft darstellt. Inländisch wird die Branche manchmal huguo shenshan (€) genannt, der “magische Berg, welcher die Nation beschützt”. Und würden die USA Taiwan einfach ausliefern, wäre ihre Glaubwürdigkeit in der Region massiv beschädigt. Chinas Einfluss würde schlagartig wachsen, jener der USA einbrechen. Dieselbe Rechnung gilt für Japan, welches keine Lust auf ein noch dominanteres China vor seiner Haustür hat (Taiwan lässt sich von der westlichsten japanischen Insel mit bloßem Auge erkennen). Dennoch: Wo die NATO ein ausdrückliches Verteidigungsbündnis ist, ist das Bekenntnis Washingtons und Tokios zu Taipeh komplizierter.

Gut zu wissen: Mehr zur Chipindustrie und Taiwans Rolle darin erfährst du in unserem nach wie vor hochaktuellen Explainer aus Juli 2021.

Die Ukraine hat mit Hinblick auf Freunde eine weitere Realisierung gebracht: Um Unterstützung von außen zu erhalten, musst du lang genug überleben. Erst als klar wurde, dass die Ukraine sich tatsächlich verteidigen kann, begannen die Waffenlieferungen hereinzuregnen. Taiwan würde im Fall einer Invasion ein Weilchen lang allein aushalten müssen. Entsprechend wichtig ist der nächste Punkt.

Hard ROC


Drittens, Taiwan muss darüber nachdenken, ob es sich anders als bisher verteidigen muss.
Die Ukraine hat bewiesen, dass asymmetrische Kriegsführung gegen einen stärkeren Gegner auch bei einer vollwertigen Invasion in einem Flächenstaat wie der Ukraine funktioniert (und nicht etwa nur in den Bergen Afghanistans). Javelin-Panzerraketen gegen russische Kampfpanzer; Stinger-Luftraketen gegen russische Kampfhuschrauber. Drohnen wie die türkische Bayraktar haben sogar außerhalb von Militärkreisen Prominenz erlangt.

Gut zu wissen: Das Preis-Leistungs-Verhältnis der ukrainischen Bewaffnung ist fantastisch: Eine Javelin kostet rund 240.000 USD sowie ca. 80.000 USD pro Schuss, ein russischer T-90-Panzer kostet schätzungsweise 3 Millionen USD.

Bisher hat Taiwan auf einen Mix aus asymmetrischer und ziemlich symmetrischer Kriegsführung gesetzt. Das Land besitzt kleine, günstige Antipanzerwaffen, Antiluftwaffen, Antischiffwaffen und Seeminen, doch steckt große Teile seines Budgets nach wie vor in “große” Waffen: Panzer, Kampfflugzeuge, U-Boote und so weiter. Einige Beobachter, darunter der Großteil des amerikanischen Sicherheitsestablishments, kritisieren das: Im Falle einer Invasion sind Schiffe, Panzer und Flugzeuge schnell zerstört, lieber sollte Taiwan sein Geld für eine asymmetrische Strategie ausgeben und sich unverdaubar machen. “Hard ROC” wird diese Doktrin mitunter bezeichnet, ein Wortspiel aus “hard rock” (harter Stein) und der Abkürzung für Republic of China, Taiwans offiziellem Namen. Ein anderer Name ist einfach nur “Igelstrategie”. Unterstützer der aktuellen Strategie verweisen im Gegenzug darauf, dass Taiwan große Waffensysteme brauche, um den “grauen Krieg” mit China zu führen – also die Provokationen in der Taiwanstraße zu kontern – und die Moral in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Der Erfolg der Ukraine gegen Russland dürfte jedoch Hard ROC und Igelstrategie Auftrieb verleihen.

Abseits von Hinweisen auf die richtige hardware lernt Taiwan von der Ukraine auch über andere wichtige Faktoren, wie US-Geheimdienstspitzen berichten. (€) Führung kann einen großen Unterschied machen, wie die Figur Volodymyr Zelensky auf politischer Seite und die besonnene Kiewer Generalität auf militärischer zeigen. Taktik muss auf kleiner Ebene stattfinden dürfen, also über fähige (Unter-)Offiziere, welche wissen, was vor Ort Sache ist; statt über eine Zentrale, welche versucht, die Realität in ihren großen Kriegsplan zu zwingen. Eigene Sicherheitsdienste müssen imstande sein, feindliche Spezialkräfte daran zu hindern, die Regierung zu köpfen – also schnell auszuschalten – oder hinter den eigenen Reihen Chaos zu stiften.

Was Peking lernt

Die russische Invasion hat nicht nur für Taiwan Lektionen parat, sondern auch für China. Die wichtigste ist womöglich, dass sie die Unvorhersehbarkeit von Kriegen wieder einmal vor Augen geführt hat. Das Knifflige am Krieg ist, dass es sich für ihn so schlecht proben lässt, da es im Großen und Ganzen doch recht wenige davon gibt. Das letzte Mal, dass China sein Militär in einer Realsituation erproben konnte, war bei einem Grenzkonflikt mit Vietnam 1979 – von gewalttätigen Prügeleien an der indischen Grenze abgesehen. Militärplaner bereiten sich gewissermaßen auf etwas vor, mit dem sie im Vorhinein keine Erfahrung sammeln können. Fremde Kriege mit ähnlichen Vorzeichen, wie Russlands Invasion der Ukraine, sind also eine brillante Lerngelegenheit. 

Rein militärisch dürfte für China die wichtigste Lektion Geschwindigkeit sein. Russland zog seine Truppen langsam über Monate zusammen, was der Westen in Echtzeit verfolgen konnte und ihm Zeit für das Formulieren von Gegenreaktionen gab; zudem die ukrainische Bevölkerung auf die Möglichkeit einer Eskalation einstellte. Russland misslang außerdem das offenkundige Ziel, die Regierung in Kiew zu köpfen oder schnell kritische Kriegserfolge zu verbuchen. Das Ergebnis ist, dass sich die Ukraine konsolidieren konnte und sich jetzt allermindestens ein langwieriger, teurer Krieg abzeichnet – nichts mit Blitzsieg und überlebender “Westukraine”. China muss also schnell und überwältigend handeln; rasant eine Blockade aufbauen und die taiwanische Regierung möglichst zu Beginn zerstören. Das amerikanische Center for New American Security bringt ein Szenario (€) ins Spiel, in welchem eine chinesische Militärübung plötzlich zu einem realen Angriff samt Blockade gerät.

China wird sich in seiner Nuklearstrategie bestätigt fühlen. Das Land hat in den vergangenen Jahren seine eher kleinen Atomstreitkräfte deutlich ausgebaut und steuert auf ein Arsenal zu, welches sich mit den USA und Russland messen kann. Der Krieg in der Ukraine zeigt, vielleicht wenig überraschend, dass eine Nuklearmacht mit eigenen Regeln spielt. Eine chinesische Invasion könnte mit einer roten Linie im Sand einhergehen: Berühre unsere Blockade und wir vergelten nuklear.

Zudem beobachtet China die westliche Reaktion in der Ukraine mit Interesse. Die Bereitschaft, Waffen zu liefern, ist das eine; die heftigen Sanktionen gegen Russland das andere. Solche Sanktionen hätten für Peking ernsthafte Konsequenzen. Russland ist zwar ein Rohstoffkiosk für die Welt, doch hat ansonsten seit 2014 gezielt wenig mit der Außenwelt zu tun: geringe Kapitalströme, kaum ausländische Staatsverschuldung, ein “Decoupling” von westlichen Importen. Die Sanktionen des Westens trafen das Land weniger, als sie ein zutiefst global integriertes China treffen würden, dessen wichtigster Handelspartner die EU ist. Das schafft Risiken für Peking, auch wenn es sich nicht sicher sein kann, ob USA, EU und Co. bereit wären, den Schaden für die eigenen Volkswirtschaften zu akzeptieren. So integriert China mit dem Rest der Welt ist, so integriert ist dieser eben auch mit China.

Zu guter Letzt achtet Peking akribisch auf die geopolitische Machtbalance in der Welt. Die vorherrschende Einschätzung war, dass der Westen im Niedergang begriffen sei: Europa spiele sicherheitspolitisch ohnehin keine Rolle; die USA seien mit sich selbst beschäftigt und hätten keine Lust mehr auf außenpolitisches Engagement. Alte amerikanische Allianzen würden auseinanderfallen. Die Trump-Ära und der Abzug aus Afghanistan schienen diese Perspektive in Peking und, allem Anschein nach, auch Moskau zu bestätigen. Dass der Ukraine-Krieg mit seinem überraschend effektiven Westen (von einigen dissonanten Tönen abgesehen) und seiner führenden USA einen fundamentalen Meinungswandel in Peking auslöst, ist unwahrscheinlich – doch vielleicht passen Xi Jinping und sein engster Kreis den Zeithorizont für den erwarteten Niedergang an.

Was für Peking bleibt, ist vor allem Unsicherheit. Sind die chinesischen Streitkräfte so modern und motiviert, wie sie den Anschein machen – oder laufen sie in die Russlandfalle? Ist die eigene Einschätzung über die taiwanische Kriegsstimmung tatsächlich akkurat? Wie hoch sind die Risiken einer amphibischen Landung auf Taiwan? Wie schwerwiegend werden die westlichen Sanktionen? Wie weit sind die USA, Japan und andere Taiwan-Unterstützer bereit zu gehen? Was lernt Taiwan aus der Ukraine? Unsicherheit ist selten ein gutes Vorzeichen für einen Krieg. Vielleicht setzt China vorerst lieber weiter auf das Narrativ einer friedlichen Wiedervereinigung.

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