Was Venezuelas Wahl bedeutet

Die Opposition versucht es mit Teilnahme statt Boykott – und hat gute Chancen, zu siegen. Was dann folgt, ist weniger klar.
28.07.2024

Die Lage in Venezuela | Machado vs Maduro | Der Tag danach
(12 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Venezuela wählt heute seinen Präsidenten. Amtsinhaber Nicolás Maduro möchte eine dritte Amtszeit, trotz 10 Jahren desolaten Missmanagements und autoritären Regierungsstils.
  • Die Wahl ist bedingt frei und überhaupt nicht fair; die Regierung drangsaliert und behindert die Opposition.
  • Grund dürfte sein, dass sie mit María Corina Machado eine beliebte, effektive Kandidatin aufgestellt hat – auch wenn aufgrund ihres Ausschlusses Edmundo González nominell auf dem Wahlzettel steht.
  • Wahlumfragen deuten einen Erdrutschsieg der Opposition an, welche die Wahlen 2018 noch boykottiert hatte, doch nun ihre Strategie geändert hat.
  • Die große Frage ist, ob Maduro eine Niederlage anerkennen würde. Er kontrolliert die Wahlbehörde, die Justiz und anscheinend das Militär; Wahlmanipulation wäre intuitiv.
  • Damit könnte es darauf ankommen, wie sich die Dynamik aus ProtestenGewaltausländischem Druck und innerelitären Manövern nach der Wahl entwickelt.

Die Lage in Venezuela_

(5 Minuten Lesezeit)

Im Juni 2022 erklärte die whathappened-Redaktion eines der traurigeren Länder der Welt: Venezuela: War es noch bis in die 1970er reicher als viele Staaten in Europa und bis vor rund 15 Jahren das wohlhabendste Land Südamerikas (jeweils nach BIP pro Kopf), so hat es seitdem einen regelrechten Kollaps hingelegt. Venezuela ist heute verarmt. Es ist nach BIP pro Kopf das ärmste Land Südamerikas und das viertärmste Lateinamerikas (vor Haiti, Honduras und Nicaragua). Einige Ökonomen erkennen den größten wirtschaftlichen Zusammenbruch eines Landes in Frieden seit mindestens 45 Jahren.

Die vielleicht beste Statistik, um das Ausmaß der venezolanischen Katastrophe zu verstehen, ist keine Wirtschaftsstatistik: 7,7 Millionen Venezolaner sind seit 2014 aus dem Land geflohen, rund 25 Prozent der Bevölkerung. Einige Schätzungen reichen bis an die 9 Millionen heran. In der Liste der größten aktiven Flüchtlingskrisen der Welt findet sich Venezuela auf Platz 2, mit der Besonderheit, dass es als einziger Eintrag in der Top 10 keinen Krieg oder Bürgerkrieg erlebt. Venezuela vertreibt seine Bevölkerung durch Repression und Inkompetenz.

Das größte Negativbeispiel des letzten Jahrhunderts

Die Gründe für Venezuelas Abstieg sind relativ einfach erklärt. Die sozialistische Politik von Hugo Chávez rund um einen heftigen Staatsinterventionismus, mitsamt grassierender Korruption und einer strukturellen Abhängigkeit von Ölumsätzen hatte das Land auf einen völlig falschen Pfad gesetzt. Unser erster Explainer (Link weiter unten) erklärte das tiefergehend.

Dabei ging es die ersten Jahre nach Chávez’ Wahlsieg 1999 noch gut: Hohe Ölpreise finanzierten weitreichende Sozialprogramme und Staatsausgaben; die schwerwiegenden Ineffizienzen durch Produktionsquoten, Preisinterventionen und Nepotismus (z.B. im staatlichen Ölkonzern PDVSA) hatten sich noch nicht so recht bemerkbar gemacht. Gegen Ende von Chávez’ Amtszeit spürten die Venezolaner inmitten von Versorgungslücken, Stromausfällen und fallenden Reallöhnen, dass so einiges nicht mehr richtig funktionierte.

Unter Nicolás Maduro, welcher 2013 vom am Krebs verstorbenen Chávez übernahm, verschlimmerte sich die Dynamik: Er erbte die von Chávez hinterlassene Wirtschaft und führte dessen Linie selbstbewusst fort, obwohl er ihre Schwächen nicht einmal mit hohen Ölumsätzen kaschieren konnte. Venezuela geriet zu dem, was es heute ist. Unterwegs gingen all jene sozialen Erfolge bei Armutsbekämpfung, Bildung und öffentlichen Dienstleistungen, welche Chávez auf wenig nachhaltige Art und Weise erreicht hatte, verloren.

Venezuelas Fiasko (und das kleine Comeback) Juni 2022. Link auch am Ende dieses Explainers.

Alles die USA?

Keine hinreichende Erklärung sind dagegen die Sanktionen der USA. Washington verstand sich mit Chávez nach einer anfänglichen Kennenlernphase zwar überhaupt nicht gut, doch die ersten relevanten US-Sanktionen wurden erst 2019 verhängt – gute neun Jahre, nachdem in Venezuela die Krise begonnen hatte. Vorherige Sanktionsrunden 2006, 2008, 2011 und 2014 bezogen sich nur auf bestimmte Personen und Entitäten, etwa mittels Vermögenseinfrierungen und Reisesperren, womit ein heftiger makroökonomischer Effekt praktisch ausgeschlossen ist. Erst 2019 begann Washington, das Zentrum von Venezuelas Wirtschaft zu sanktionieren: Ölsektor, Bergbau, Finanzinstitute und so weiter. Doch zu diesem Zeitpunkt war die Krise bereits in vollem Gange. Der Verweis auf die USA bleibt damit ein Erklärungsversuch mit wenig Substanz, welcher unter Linkspopulisten weltweit beliebt bleibt, doch vom absoluten Gros der Venezolaner nicht im Mindesten ernst genommen wird.

Das Timing der US-Sanktionen war kein Zufall, sondern korrelierte mit den Wahlen im Land. 2013 war Nicolás Maduro erstmals in einer hochumstrittenen Wahl an die Macht gekommen, auch wenn er – dank der anhaltenden Beliebtheit seines Vorgängers Hugo Chávez – tatsächlich einigen Rückhalt in der Bevölkerung genossen hatte. 2018 ließ Maduro sich in einer Wahl, welche von vielen Beobachtern weltweit als manipuliert bezeichnet wurde, im Amt bestätigen. In beiden Fällen kam es zu Massenprotesten, gegen welche die Maduro-Regierung robust vorging, was wiederum die USA zu Sanktionen bewegte.

Der Madurismo

Das ist ein Hinweis auf die autoritäre Natur der Maduro-Regierung. Bereits unter Chávez hatte es “schwarze Listen” mit Regierungskritikern gegeben, welche bei staatlichen Dienstleistungen benachteiligt wurden. Er attackierte unabhängige Medien, schwächte den Kongress und schaffte Amtszeitbeschränkungen ab. Als er den staatlichen Ölkonzern PDVSA – Venezuelas wirtschaftliches Herzstück – mit Loyalisten besetzte, führte das zu (erfolglosen) Massenprotesten.

Maduro verschärfte diesen Kurs noch weiter. Heute ist die Nationalversammlung (welche den Kongress ersetzt) weitestgehend entmachtet, die Justiz und Wahlbehörde werden von Maduro-Loyalisten kontrolliert, unabhängige Medien existieren nur noch in sehr unterschwelliger Form, Oppositionelle sitzen im Gefängnis oder fliehen aus dem Land und die Sicherheitsbehörden ermordeten mutmaßlich Tausende Menschen, welche mit Regierungskritik in Verbindung gebracht wurden. Jüngst scheint Venezuela sogar einen Mord an einem Regierungskritiker in Chile durchgeführt zu haben, womit es sich in die Liste der Staaten, welche “transnationale Repression” begehen, eingetragen hat. Auch die Millionen von Venezolaner im Ausland sind nicht sicher, so offenbar die Botschaft aus Caracas. Maduros Venezuela lässt sich als Diktatur bezeichnen.

Dabei ist Maduro äußerst unbeliebt, und zwar in einem Maße, wie es selbst aus anderen Diktaturen nicht bekannt ist. Wladimir Putin, beispielsweise, besitzt fraglos eine Basis in der russischen Bevölkerung, auch wenn nicht ganz klar ist, ob sie jenseits offizieller Umfragen und Einschüchterungseffekte eher 20 oder 70 Prozent des Wahlvolks beträgt. Zu Maduro sagten 90 Prozent der Venezolaner 2019 völlig offen, dass sie nichts von ihm halten und er das Amt verlassen solle. Seine Zustimmungswerte lagen nie über 20 Prozent (auch wenn seine Partei PSUV etwas mehr Popularität besaß). An der Macht hält er sich durch einen Mix aus…

  • Kontrolle über die Institutionen, z.B. die Wahlbehörde CNE und das Oberste Gericht
  • Rückhalt aus Militär, Elite und ausländischen Freunden wie Russland
  • zum einen der Verzweiflung weiter Teile der Bevölkerung (der alltägliche Kampf um das Überleben bietet Menschen wenig Zeit für politische Willensbildung), zum anderen einem Wunsch nach Kontinuität, trotz der tiefen Krise
  • sowie der Zerstrittenheit der zumeist recht ineffektiven Opposition. 

2019 wirkte es allerdings so, als könnte die Ära Maduro enden: Die Wut über die offenkundige Wahlmanipulation und das jahrelange Missmanagement schlug in Massenproteste um, angeführt von Juan Guaidó, welcher sich als zentrale Oppositionsfigur herauskristallisierte. Die Lage war volatil und wochenlang war unklar, welcher Seite sich das Militär anschließen würde. Am Ende blieb es Maduro treu; eine Revolution fand nicht statt. Maduro und die Opposition waren beide zu schwach, um das Gegenüber auszuschalten. Die Zeit spielte gegen die Opposition, welche an Zulauf verlor. Bereits 2020 stand fest, dass Maduro faktisch Präsident bleiben würde. Guaidó floh, wie schon viele andere Oppositionsfiguren vor ihm, ins Ausland

Gut zu wissen: Laut US-Angaben war Maduro 2019 kurz davor, in Anbetracht der Massenproteste aus dem Land zu fliehen. Sein Flieger nach Kuba habe bereits auf dem Rollfeld gestanden. Der Kreml habe ihn davon überzeugt, zu bleiben. Moskau dementierte die Behauptungen.

Heute, also exakt am 28. Juli, ist es wieder an der Zeit für eine Präsidentschaftswahl in Venezuela. Und viele Beobachter sind bemerkenswert optimistisch, dass die Opposition siegen könnte. Doch auch Grund zur Skepsis bleibt.

Machado gegen Maduro_

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María Corina Machado, links. Quelle: María Corina Machado, x.com

Venezuelas Iron Lady

Der Hauptgrund für Optimismus ist die ungewöhnlich einige Opposition. Selbst zu Zeiten Guaidós schien sie nicht so eng und diszipliniert zusammenzuarbeiten, wie heute. Sie schart sich um María Corina Machado, eine Ingenieurin und Abgeordnete, welche immerhin dermaßen beliebt ist, dass die Regierung sie von der Wahl ausgeschlossen hat. Also wurde der wenig bekannte Ex-Diplomat Edmundo González Urrutia als nominelles Gesicht der Kampagne vorgeschoben, an deren Spitze eigentlich Machado steht.

Die 56-Jährige ist nicht die intuitivste Oppositionsführerin. Sie gehört der Oberschicht an und galt der Opposition als zu konservativ; ihr Vorbild ist die umstrittene frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher. In einem Land, welches seit 20 Jahren nur Realsozialismus kennt, steht sie für freie Marktwirtschaft und eine Privatisierung des Ölkonzerns PDVSA, was selbst anderen Oppositionellen zu weit geht. 2002 gab es Andeutungen, dass sie mit einem gescheiterten Putschversuch gegen Hugo Chávez sympathisierte; 2019 erklärte sie in Richtung westlicher Staaten, dass sich Maduro nur durch die Androhung eines Militäreinsatzes vertreiben ließe. Unlängst erklärte sie im Wahlkampf, dass sie “den Sozialismus auf Ewigkeit beerdigen” wolle.

Doch genau diese scharfe Rhetorik kommt bei vielen Venezolanern heute gut an, genau wie die Tatsache, dass sie auch bei der eher unbeliebten Opposition längste Zeit eine Außenseiterin war. Chávez nannte sie einst genervt eine “Fliege“, welche es gar nicht wert sei, von ihm, einem “Adler”, gejagt zu werden. Die Öffentlichkeit nennt sie heute die “Eiserne Lady”, nicht zufällig identisch zum Spitznamen von Margaret Thatcher. Mit 92,5 Prozent wurde sie im vergangenen Oktober an die Spitze der Hauptopposition Demokratische Einheitsplattform (MUD) gewählt.

Machado betreibt einen energetischen und populären Wahlkampf, welcher die vermutlich stärkste Wählermobilisierung seit der Chavez-Ära darstellt. Das ist tatsächlich ein Unterschied zu 2018: Damals boykottierte die Opposition die Wahl mehrheitlich; heute mischt sie direkt darin mit. Trotz der weitreichenden Medienkontrolle der Regierung scheint sich eine spürbare Begeisterung für Machado durchs Land zu tragen. Umfragen geben der Opposition gute Chancen auf einen Sieg: Das venezolanische Meinungsforschungsinstitut Delphos sieht einen erdrutschartigen Wahlsieg mit 34 Prozentpunkten Abstand, was sich ungefähr mit den Resultaten anderer Institute deckt. So gut schnitt die Opposition noch nie in der Ära des “Chavismo” und “Madurismo” ab.

Gut zu wissen: Selbst langjährige Unterstützer von Chávez und Maduro wenden sich plötzlich ab. “Motorizados”, also Biker-Gangs, waren jahrelang eine loyale Schlägertruppe der Regierung, doch haben laut Machado die Seite gewechselt, da sie so verärgert über die Lage im Land seien.

Venezuelas zu kleines Comeback

Die Umfragewerte könnten bei einigen Lesern für Irritation sorgen, wenn sie sich daran erinnern, dass es Venezuela in den letzten zwei Jahren etwas besser zu gehen schien. Tatsächlich lautete der Titel des whathappened-Explainers aus Juni 2022 “Venezuelas Fiasko (und das kleine Comeback)”. Das Land schien damals bei zahlreichen sozialen und makroökonomischen Indikatoren eine Trendwende nach 10 Jahren Krise einzulegen und allmählich etwas Luft zum Atmen zu bekommen. Eine Abkehr von desolaten Marktinterventionen, die Dollarisierung der Wirtschaft, höhere Ölpreise und lockerere Öl-Sanktionen der USA verhalfen dazu.

Nur geschah diese Trendwende auf extrem niedrigem Niveau: Die Armutsrate scheint 2022 auf 50,5 Prozent gesunken zu sein, was der niedrigste Wert seit Jahren war, doch noch immer äußerst schwach. Die Inflation betrug 2023 je nach Schätzung 100 bis 330 Prozent, was zwar deutlich weniger als die 130.000 bis rund 1 Million Prozent (!) aus 2018 war, doch noch immer so schlecht, dass es keiner Erklärung bedürft. Nicht nur das: Die Inflation gibt lediglich die Veränderungsrate der Preise wieder, doch selbst, wenn sie morgen bei 0 Prozent läge, wären die Lebenshaltungskosten für viele Venezolaner bereits viel zu hoch, um sie mit ihren mageren Löhnen zu decken. Vom sanften Wirtschaftsaufschwung profitiert in erster Linie die Oberschicht. Wer im hippen Viertel Las Mercedes in Caracas flaniert, sieht den Aufschwung, die Investitionen und auch ein sanftes Wiederaufleben des Tourismus; wer sich im Rest von Caracas, geschweige denn im Rest des Landes umsieht, findet die Folgen aus einem Jahrzehnt ungebremstem Wirtschaftskollaps.

Der Tag danach_

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Wahlzettel bei der Präsidentschaftswahl 2024: 12 Mal Maduro, 3 Mal Edmundo González.
Quelle: Consejo Nacional Electoral de Venezuela, wikimedia

Drangsalieren und Manipulieren

Die neue Strategie der Opposition und ihr mutmaßlicher riesiger Vorsprung schaffen für die Regierung Schwierigkeiten. Sie musste noch nie in einem derart hohen Maße die Ergebnisse manipulieren, da die Opposition die Wahlen gewöhnlich boykottierte und die Regierung noch auf etwas mehr Unterstützung setzen konnte. Also versucht sie durch altbekannte Taktiken, gar nicht erst ein solches Ergebnis entstehen zu lassen.

Die Regierung erschwert es Venezolanern, sich für die Wahl zu registrieren, insbesondere den Flüchtlingen im Ausland. Delphos schätzt, dass allein das der Opposition eine Million Stimmen kosten könnte (was in der obigen Prognose sogar bereits berücksichtigt ist). Wahllokale wurden kurzfristig geändert, weitere Medien verboten, Unterstützer der Opposition drangsaliert sowie verhaftet und Wahlbeobachter aus den USA und der EU nicht zugelassen. Fast schon lächerlich – und damit womöglich Ausdruck für die Unsicherheit der Maduro-Regierung – war, dass ein Flugzeug mit mehreren lateinamerikanischen Ex-Staatschefs an Bord nicht aus Panama abheben konnte. Die Ex-Präsidenten sollten die Wahl beobachten, doch Venezuela schloss ohne Begründung seinen Luftraum, solange sie sich an Bord befanden.

Fast von selbst dürfte sich erklären, dass Maduro Oppositionspolitiker und -mitarbeiter verhaften lässt. Machado liefert sich mit den Behörden ein Katz-und-Maus-Spiel. Sie selbst scheint zwar nicht verhaftet zu werden, dafür aber die Menschen in ihrem Umfeld, etwa ihr Sicherheitschef und mehrere Kampagnenmitarbeiter (einige flüchteten sich in die Botschaft Argentiniens, von wo aus sie weiterarbeiten). Zudem darf sie nicht fliegen, ihre Fahrzeuge werden sabotiert und auf ihren Strecken tauchen Straßenblockaden auf und Tankstellen schließen grundlos. Die Regierung setzt auf Schikane, doch Machado gelingt es dennoch, Hunderte Wahlkampfveranstaltungen abzuhalten. 

Die Logik des Wahlausgangs

Die große Frage ist, warum die Maduro-Regierung eine Wahlniederlage anerkennen sollte, selbst, wenn sie desaströs ausfallen sollte. Maduro kontrolliert die Wahlbehörde, die Justiz und das Militär. Er kann sich nominell zum Sieger erklären lassen und er kann das mit Waffengewalt durchsetzen. Der einzige Grund dagegen ist, dass ein Restrisiko bleibt: Maduro könnte neue Massenproteste fürchten, bei welchen die Loyalität der Eliten und Soldaten erneut auf die Probe gestellt würde.

Gut zu wissen: Was wissen wir darüber, wie sich das Militär positioniert? Nicht viel. Verteidigungsminister Vladimir Padrino López kritisierte Umfragen, in welchen Edmundo González einen großen Vorsprung hat, doch erklärte zugleich, das Recht verteidigen zu wollen und verlangte, dass “derjenige, der verliert, nach Hause geht”.

Bereits die Tatsache, dass Maduro nach dem Wahlausschluss von Machado die Opposition mit Edmundo González überhaupt einen Kandidaten aufstellen ließ, war ein Signal. Womöglich reagierte er auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Oder auf den Druck der USA, welche eine freie und faire Wahl zur Bedingung machten, um heftige Ölsanktionen zu lockern. Diese zwei Szenarien würden andeuten, dass Maduro tatsächlich bereit sein könnte, die Macht aufzugeben. Oder er wollte die Opposition einfach nominell antreten lassen, um sich mehr Legitimation zu verschaffen. Egal, was das Resultat ist, am Ende wird es hingebogen – unabhängig davon, wie peinlich-offensichtlich das geschehen mag und was für Proteste im Anschluss ausgesessen werden müssen.

Die whathappened-Redaktion erkennt nicht, warum Maduro kampflos von der Macht ablassen sollte. Weder passt das zu seinem Verhalten in den vergangenen 11 Jahren, noch zu seiner Kommunikation im Wahlkampf: Sollte er nicht gewinnen, drohe Venezuela ein “Blutbad”, ein “brüderlicher Bürgerkrieg aufgrund der Faschisten”. Es wird außerdem schwierig werden, Maduro glaubwürdige Garantien zu bieten, dass er weder in Venezuela noch seitens der USA juristisch belangt wird – und ohne Immunität wäre ein Abtritt für ihn ein Himmelfahrtskommando. Doch selbst, wenn er für einen solchen Vorschlag offen wäre, würde es ihm in die Hände spielen, erst einmal zu eskalieren, da er so seine Verhandlungsmasse erhöht.

Ein kleines Fazit

Mit hoher Sicherheit wird die Regierung also zumindest die Ergebnisse verzögern und im Anschluss einen Sieg Maduros bekanntgeben – und sei es, um zu testen, wie viel Druck die Bevölkerung, das Ausland und die Eliten machen. Machado dürfte somit recht behalten: Maduro lässt sich nicht ausschließlich an der Wahlurne besiegen. Venezuela muss erst durch eine politische Krise gehen, um seinen Präsidenten abzuschütteln.

Siegt Maduro erneut – sprich, schafft er es, seine Macht für eine weitere Amtszeit zu konsolidieren –, steht Venezuela vor mehr vom selben. Es bleibt ein autoritärer, verarmter, korrupter und inkompetenter Staat, dessen Regierung zwar vorerst ihre schlimmsten Policy-Impulse zurückgestellt hat, aber dem Gros der Bevölkerung auf absehbare Zeit nichts bringen wird. In Umfragen erklärt bis zu ein Drittel (!) aller noch im Land lebenden Venezolaner, im Falle eines Maduro-Wahlsiegs auswandern zu wollen. Die tatsächliche Zahl wird zwar viel niedriger ausfallen, doch als Misstrauensvotum ist das überwältigend und mehrere Hunderttausend Menschen könnten tatsächlich das Land verlassen.

Verliert Maduro, hätte Venezuela die Chance auf eine echte Zeitenwende. Doch ob es überhaupt so weit kommt, wird sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht schon morgen entscheiden. Die nächsten Wochen und Monate aus Protesten, Gewalt, Diplomatie und Elitenmanövern werden das Schicksal des Landes bestimmen. Die whathappened-Redaktion würde sich freuen, wenn sie sich in dieser Prognose irrt und Venezuela überraschend schnell ein neues Kapitel aufschlagen kann.

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