Zeit, für ein Update.
12.11.2023
Die Lage | “Greedflation”? | Löhne und Preise | Die Glaskugel
(15 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)
- Die Inflation hat in den Industrieländern nachgelassen. Deutschland ist von 8,8% (Okt 2022) auf 3,8% herabgeklettert (Okt 2023).
- Hauptgründe sind Entspannungen in Lieferketten, bei pandemiebedingten Nachfrageüberhängen und staatlichen Ausgaben – und natürlich die deutliche Verschärfung der Geldpolitik.
- Höhere Leitzinsen kühlen die Wirtschaft herab. Ungefähr jetzt dürften die ersten Erhöhungen vollständig Wirkung zeigen.
- Für die Zentralbanken ist es eine komplizierte Frage, wie sie in den kommenden Monaten mit den Zinsen verkehren wollen. whathappened hält eine Stagnation für einige Zeit für am wahrscheinlichsten.
- Ein wichtiger Faktor: Bildet sich eine Lohn-Preis-Spirale? Bislang gab es diese nicht, doch jüngste Tarifabschlüsse haben an Fahrt aufgenommen.
- Dieser Explainer diskutiert außerdem das Konzept der “Greedflation“, für welche wir in ihrem engeren Sinne wenig empirische Unterstützung finden.
Die Lage_
(3,5 Minuten Lesezeit)
Um ein Megathema in der Wirtschaft ist es in den vergangenen Monaten etwas stiller geworden. Die Inflationsraten in den Industriestaaten der Welt haben vielerorts ihren Höhepunkt hinter sich gelassen und befinden sich seitdem im mal stetigen, mal von Plateaus unterbrochenen Fall. Zeit, einen Blick auf die Lage zu werfen und ein paar Diskussionen der vergangenen Monate zu analysieren. Das Timing ist passend: Nicht nur jährt sich der Inflationshöhepunkt, es gibt auch Grund zur Annahme, dass wir den Höhepunkt der Zinswende erreicht haben – und dass sich erste Zinsschritte vollständig bemerkbar machen.
Mehr zu den ökonomischen Hintergründen von Inflation und dem Beginn der aktuellen “Inflationskrise” in unserem Explainer “Die Rückkehr der Inflation” aus November 2021.
Zurück auf den Boden
Die Inflation nähert sich vielerorts wieder ihren Zielwerten. In Deutschland ist sie von einem Hoch von 8,8 Prozent im Oktober 2022 auf inzwischen 3,8 Prozent zurückgegangen. In den USA zeichnen sich 3,3 Prozent ab, nach einem Höhepunkt von 9 Prozent im Juni 2022. Und die Eurozone schafft es gar unter die 3-Prozent-Marke mit 2,9 Prozent, nach 10,6 Prozent im Oktober vergangenen Jahres. In den meisten Industrieländern läuft es ähnlich.
Der abnehmende Inflationsdruck ist für die Bevölkerungen ein gutes Zeichen, wenn auch nicht unbedingt eine Erleichterung. Inflation drückt Veränderungsraten aus, meist zum Vorjahreszeitraum, und starke positive Inflationsraten über einen längeren Zeitraum bedeuten einen kräftigen gesamten Preisanstieg, selbst wenn sich das Wachstum irgendwann verlangsamt. Ein Blick auf den Verbraucherpreisindex zeigt, dass die deutschen Verbraucherpreise im Oktober fast 18 Prozent höher lagen als Anfang 2020. Legt man den für europäische Vergleiche geläufigen harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) zugrunde, beträgt der Anstieg eher 20 Prozent. In bestimmten Produktkategorien, mit welchen Verbraucher viel interagieren, sind die Anstiege noch höher gewesen.
Dazu kommen die Kerninflationsraten. Diese sind in den Industriestaaten meist etwas höher als die normalen Teuerungsraten. In der Kerninflation werden die schwankungsanfälligen Kategorien Energie und Lebensmittel ausgeklammert, was in der “Inflationskrise” eine gewisse Ironie hatte, da es ausgerechnet diese zwei Kategorien waren, welche die Preisdynamik anführten – und jetzt ihren Abstieg. Im Großen und Ganzen folgen aber auch die Kerninflationsraten dem Trend und sinken seit einigen Monaten. Im Oktober 2023 betrug die deutsche Kerninflation 4,8 Prozent, nach einem Höhepunkt im Frühjahr von 5,8 Prozent. Die Kerninflation blieb also deutlich unter den Niveaus der Gesamtinflation, doch erreichte ihr Hoch auch später und bewegt sich von diesem langsamer herab.
Die Gründe
Die Gründe für das Abflauen der Inflation sind in hohem Maße dieselben, welche zu ihrem Anstieg geführt hatten. Erinnern wir uns daran: Die Energiekrise verteuerte ein Vorprodukt, auf welches kaum ein Sektor verzichten konnte und von welchem einige zutiefst abhängig sind. Verschärft wurde sie durch Russlands Invasion der Ukraine, welche zudem Nahrungsmittellieferketten unterbrach und zu einem Preisanstieg bei Lebensmitteln beitrug. Die Erholung aus der Covid-Phase, angepeitscht durch große Konjunkturpakete, führte ab Ende 2020 zu einem teils riesigen Nachfrageüberhang samt steigender Preise, welcher zudem in verstopften Lieferketten resultierte und sich damit selbst verschlimmerte. Eine sehr lockere Geldpolitik, in welcher Zentralbanken mit niedrigen Zinsen die Wirtschaftsaktivität ankurbelten und mit Anleihekäufen Geld in die Märkte schwemmten, tat ihr Übriges.
Während die Erfahrung der meisten (westlichen) Industriestaaten relativ ähnlich verlief, ist sie anderswo doch mitunter sehr unterschiedlich. Entwicklungsländer sind ohnehin höhere Inflationsraten gewohnt. Staaten wie Argentinien und die Türkei manövrieren sich mit skurriler Wirtschafts- und Geldpolitik gekonnt in die Hyperinflation. Russland kämpft mit den Folgen von Sanktionen, Kriegswirtschaft und Rubelschwäche. Es erlebte im März 2022 einen gewaltigen Preisschock, welcher sich durch Basiseffekte im Folgejahr in einem rasanten Minus der Inflationsrate äußerte (da das Preisniveau ab März 2023 ja plötzlich mit einem hohen Vorjahreswert verglichen wurde). China rutschte 2023 bereits zweimal in die unangenehme Deflation, also sinkende Preise, welche Ökonomen Angst vor einem Teufelskreis aus fallenden Firmenumsätzen, Entlassungen und weniger Konsum machen. Japan befand sich monatelang in ebendieser Deflation, doch erlebte zu Jahresbeginn plötzlich 4,4 Prozent Inflation, mehr als in vierzig Jahren zuvor.
Die Inflation beherrschte monatelang die Medien und den Diskurs, stand an der Spitze der Sorgen der Bevölkerungen. Ein Aspekt, welcher in dieser Zeit popularisiert wurde, war jener der “Greedflation”. Dabei ging es darum, dass die hohen Inflationsraten maßgeblich durch opportunistische und anderweitig unbegründete unternehmerische Preistreiberei – “Gier”, eben – angepeitscht oder verursacht worden seien. Was hatte es damit auf sich?
Gut zu wissen: Der Begriff “Shrinkflation” schlug in dieselbe Kerbe und bezog sich auf mutmaßlich gesunkene Packungsgrößen bei gleichem oder höherem Preis.
“Greedflation”?_
(5 Minuten Lesezeit)
Existiert die Gierflation?
Die Evidenz für oder gegen “Greedflation” ist unsauber, doch es gibt wohl mehrheitlich Gründe, an dem Konzept in seiner Reinform zu zweifeln. Neben Anekdoten ist das gewichtigste Argument der Fürsprecher jenes, welches auch in einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) aus Juni 2023 auftaucht, wonach “Unternehmensprofite über die letzten zwei Jahre den größten Beitrag zur Inflation in Europa” geleistet hätten. Vizedirektorin Gita Gopinath erklärte, dass “Firmen erlauben müssen, ihre Gewinnmargen – welche in den letzten zwei Jahren zugelegt haben – sinken zu lassen”, um die Inflation zu reduzieren. Ganz ähnlich äußerte sich später Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB).
Die Verbindung zur Greedflation, welche der IWF wenig überraschend nicht ausdrücklich bezeichnet, bleibt allerdings vage. Erst einmal ganz grundsätzlich: Um Inflation zu erleben, haben entweder Unternehmen initiativ die Preise erhöht oder sie quasi reaktiv nach einer Runde an Gehaltserhöhungen erhöht. Zweiteres war unumstritten kein Verursacher der jetzigen “Inflationskrise”, womit nur ersteres bleibt. Erhöhen Firmen die Preise aufgrund steigender Kosten, so würden keine höhere Gewinnmargen folgen. In diesem Sinne werfen steigende Preise bei steigenden Gewinnmargen für viele Beobachter die Frage nach einer zweifelhaften Rolle der Firmen auf: Absprachen, Marktmachthebelung, Manipulation und so weiter.
Allerdings müssen steigende Gewinnmargen eben nicht zwingend aus illegalen Absprachen oder der Ausnutzung irritierter Kunden resultieren. Steigt die Nachfrage oder sinkt das Angebot, steigen in der Regel die Preise. Genau das ist während der Covid-Pandemie geschehen: Mal fehlte es an Angebot (Lieferkettenkrise), mal war die Nachfrage sehr hoch (Konjunkturpakete). Was in der Covid-“Frühphase” vor allem digitale Güter, Elektronik und Homeoffice-Gerätschaft waren, wurden nach den Öffnungen in der Covid-“Spätphase” Dienstleistungen, Gastronomie und Tourismus sowie Energie in der Energiekrise. Wenn die Nachfrage hoch ist, machen Unternehmen gute Geschäfte – ihre Gewinnmarge steigt. Wenn wir Partikulardebatten, etwa die Frage, ob Krisengewinne von Energiekonzernen vertretbar waren, einmal beiseitelegen, ist dieser Zusammenhang in einer Marktwirtschaft erst einmal unbedenklich und selten moralisch verwerflich: Besteht mehr Nachfrage bei ähnlichem Angebot, steigen die Preise. Tatsächlich kann das auch eine positive Funktion haben, wenn höhere Preise die Signale für den Ausbau von Kapazitäten setzen und so Mangelproduktion entgegenwirken. Das geschah 2021 etwa bei Halbleitern.
Auch scheint der Anstieg der Unternehmensprofite im historischen Vergleich durchaus harmlos zu sein, wie eine Studie eines regionalen Ablegers der US-Notenbank Fed für die USA argumentiert. In Erholungsphasen nach Krisen würden sie oft relativ stark zur Inflation beitragen, bevor sie im Anschluss schnell an Einfluss verlieren, da die Kosten aufholen – die Gewinnmargen würden demnach in Antizipation von Kostensteigerungen wachsen. Das sei auch diesmal passiert: Ein hoher “Profitanteil” an der Inflation in der ersten Hälfte 2021, welcher danach schnell abnahm und 2022 bereits ziemlich niedrig gewesen sei. Sowohl Muster als auch Intensität des “Profitanteils” an der Inflation seien ziemlich im Rahmen mit dem historischen Durchschnitt von 1948 bis 2020.
Passend dazu kam auch das ifo-Institut für Deutschland zu dem Schluss, dass 2022 nur 17 Prozent der Inflation durch höhere Unternehmensprofite zu erklären seien. 11 Prozent gingen auf höhere Löhne zurück. Der Rest – 69 Prozent – hinge eben doch mit gestiegenen Kosten zusammen.
In diesem Sinne ließe sich die Aussage des IWFs relativ harmlos lesen: Mehr als die Hälfte der Inflation mag durch höhere Gewinnmargen erklärbar sein, doch davon könnte ein Großteil eine Reaktion auf veränderte Konsumverhalten und angespanntere Angebotslagen gewesen sein oder eine Vorbereitung auf antizipierte Kostensteigerungen. “Gier” zu verorten würde dann nur insoweit Sinn ergeben, wie jedem Geschäft immer Gier attestiert werden könnte, da es überhaupt einen Preis verlangt, also die Nachfrage monetarisiert. Und auch die Aussage, dass sinkende Gewinnmargen gegen die Inflation helfen würden, stimmt selbstverständlich, beschreibt aber eher einen mechanischen Zusammenhang, als unmoralische Machenschaften anzuklagen.
Die Kritik an der Greedflation wird dabei nicht nur von libertären Thinktanks wie dem amerikanischen Cato-Institut oder liberalen Medien wie dem britischen Economist geteilt, sondern auch vom linksgerichteten Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Sie alle beklagen mangelnde Evidenz und missverstandene Zusammenhänge, vor allem den Schnellschuss von höheren Margen zu “Gier”.
Gut zu wissen: Nicht jeder stimmt dabei zu. Der Chefökonom von UBS Global Wealth Management, Paul Donovan, argumentierte im Mai, dass Firmen durchaus die psychologische “Anfälligkeit” von Kunden inmitten von Kriegen und Krisen genutzt hätten, um nicht benötigte (sprich, kostenausgleichende) Preiserhöhungen durchzusetzen.
Funktioniert der Wettbewerb?
Auf das Thema Greedflation einen Blick zu werfen, dient übrigens nicht nur dazu, einen Liebling von Twitterposts und Zeitungskolumnen anzupiksen, sondern hat auch Relevanz für Policy. Bestünde Greedflation, würde das auf fundamentale Probleme im Wettbewerbssystem und bei den entsprechenden Regulatoren hindeuten. Die Hinweise dafür sind bislang spärlich; einzelne Untersuchungen in mögliche Absprachen in Sektoren mit hohen Preissteigerungen fielen negativ aus, beispielsweise bei Treibstoff in Deutschland. Die Existenz von Greedflation würde zudem ein Argument für Preisinterventionen bieten, also etwa die Verhängung von Preisdeckeln. Solche Maßnahmen gelten jedoch als sehr “invasiv”, können also unter Umständen hohe Effekten auf die Angebotsmenge oder Wettbewerbsfähigkeit einer Branche haben. Sie sollten also nicht allzu leichtfertig gewählt werden.
Gut zu wissen: Unter Ökonomen sind Preisinterventionen hoch umstritten, selbst linken Ökonomen sind sie oftmals nicht geheuer. Während ihnen aber mancherorts ein Nutzen zugestanden wird, galten sie in der Inflationsbekämpfung bislang gewöhnlich als völlig fehl am Platz: Hohe Preise per Preisdeckel zu stoppen würde lediglich zusätzlichen Verteilungsdruck schaffen (da das Angebot schwindet), aber den eigentlichen Grund für die Inflation nicht aufhalten. In der aktuellen “Inflationskrise” werden allerdings neue Perspektiven gewagt. Die amerikanische Ökonomin Isabella Weber, welche für den Einsatz gezielter Preiskontrollen zur Inflationsbekämpfung plädiert und damit lange wenig Sympathien sammelte, hat regelrechte Prominenz erlangt und wird plötzlich äußerst ernst genommen.
Es ist wohl gesünder, das Konzept der Greedflation etwas zu beruhigen. Dann bietet es tatsächlich einen harten Kern, welcher empirisch belegbar und für das Verständnis der Situation nützlich ist: Nämlich, dass es bislang keine Lohn-Preis-Spirale war, welche die Inflation trieb, sondern eher eine Preis-Preis-Spirale. Das ist letzten Endes, was IWF und EZB, aber auch etwa die Bank of England (BoE) und andere Analysten argumentieren. Auch wenn es in Kolumnen des Guardians dann eben etwas verquer lautet, dass die BoE “endlich eingesteht, dass Greedflation existiert”.
Löhne und Preise_
(2 Minuten Lesezeit)
Tatsächlich könnte der Verweis auf Gewinnmargen und die wütendere Spielart als Vorwurf der “Greedflation” eine Gegenreaktion auf die Warnungen vor einer Lohn-Preis-Spirale gewesen sein. Ökonomen und Zentralbanker hatten zu Beginn der “Inflationskrise” gewarnt, dass steigende Preise zu steigenden Löhnen führen könnten, welche wiederum zu steigenden Preisen führten – ein möglicher Teufelskreis; die berüchtigte Lohn-Preis-Spirale. Also, die mal stillere, mal lautere Empfehlung, dass allzu kräftige Gehaltserhöhungen doch bitte vermieden werden sollten. Arbeiter sollten “nachdenken und reflektieren“, bevor sie Gehaltserhöhungen verlangten, so Andrew Bailey, Gouverneur der BoE. Kein Wunder, dass linke Beobachter und Gewerkschaften verärgert reagierten und durchaus richtigerweise auf Unternehmensprofite verwiesen (laut IWF machten Gehälter 2022 nur ein Viertel der Inflation aus).
Die Spirale ist nie fern
Ganz vom Tisch ist eine Lohn-Preis-Spirale allerdings noch nicht. Nach einigen Monaten mit hohen Inflationsraten begannen die großen Tarifabschlüsse hereinzuprasseln. Verdi ringte der Deutschen Post im März durchschnittlich 11 Prozent Gehaltssteigerung für 160.000 Beschäftigte ab. Für die 580.000 Mitarbeiter in der kriselnden deutschen Chemie- und Pharmabranche gibt es immerhin 6,5 Prozent. Und den 2,5 Millionen Beschäftigten im deutschen öffentlichen Dienst winken zwischen 8 und 16 Prozent, was vor einigen Jahren absolut astronomische Zahlen gewesen wären. Selbst gegenüber einer jährlichen Inflationsrate von 6,9 Prozent in Deutschland im Jahr 2022 bleibt die Spanne bemerkenswert hoch, doch soll eben auch die 3,1 Prozent Inflation des Jahres 2021 und die antizipierte Inflation 2023 und später abfedern. In den USA ist die Tarifbindung zwar geringer, doch die Autogewerkschaft UAW sorgte dennoch für ein spektakuläres Ergebnis: Nach fast zweimonatigem Streit erzielte sie 25 Prozent Lohnsteigerung für ihre 145.000 Mitglieder.
Abseits der öffentlichkeitswirksamen Tarifeinigungen zahlen immer mehr Unternehmen höhere Gehälter oder bereiten sich darauf vor. 2024 steigern die deutsche Firmen laut einer Analyse der Unternehmensberatung WTW die Gehaltsbudgets um durchschnittlich 4,1 Prozent, nach 4,3 Prozent im Jahr 2023 und 3,8 Prozent 2022. Das war zwar zumindest im vergangenen Jahr geringer als die Inflation, doch ist nahezu doppelt so hoch wie in den Vorjahren. Hauptgrund? Die Inflation, so 71 Prozent der Firmen, gefolgt von der angespannten Lage am Arbeitsmarkt (50 Prozent).
Auf steigende Löhne könnten wieder steigende Preise folgen, insofern sich Firmen imstande oder gezwungen sehen, ihre Margen zu stabilisieren. Die gewachsenen Gewinnmargen der Vormonate könnten das aber vorweggenommen haben, insofern es sich dabei tatsächlich um antizipierte Kostensteigerungen gehandelt haben sollte. Eine Lohn-Preis-Spirale ist also zwar eine Möglichkeit, aber keineswegs gewiss.
Gut zu wissen: Inflation trifft ärmere Menschen überproportional. Im Juli betrug die Inflationsrate für arme Singles in Deutschland 6,5 Prozent, für reiche Singles 5,5 Prozent. Im Oktober 2022 betrug die Differenz gar 3,1 Prozentpunkte. Grund ist in erster Linie, dass die dynamischen Kategorien Energie und Lebensmittel für ärmere Haushalte einen größeren Anteil des Konsums ausmachen.
Die Glaskugel_
(5 Minuten Lesezeit)
Inzwischen hat sich die Lage gewandelt und die Inflation ist deutlich herabgesunken. Weder von der Lieferkettenkrise noch vom Chipmangel, den zwei Megathemen des Jahres 2021, ist heute noch zu hören. Das Geschäft von Containerfirmen ist wieder auf den Boden der Normalität zurückgekehrt; Chipfirmen leiden eher unter Überkapazitäten als zu hoher Nachfrage. Die Energiepreise haben sich in großem Maße normalisiert und treiben den Rückgang der Inflationsraten. Eine Nahrungsmittelkrise hat sich nicht materialisiert, auch wenn die Preise höher als gewohnt bleiben. Die Regierungen sind vorsichtiger mit Konjunkturpaketen und Sozialleistungen.
It’s the Central Banks, stupid
Der wohl größte Faktor in der Inflationsbekämpfung ist die deutlich striktere Geldpolitik. Jahrelang versuchten Zentralbanken, durch ultraniedrige Leitzinsen (in der Eurozone jahrelang auf 0 Prozent) und Sondermaßnahmen wie das Quantitative Easing – Anleihekäufe – die niedrigen Inflationsraten zu steigern. Als sie ab 2021 und 2022 zu rasant wuchsen, fuhren die Notenbanker die Anleihekäufe herunter und steigerten die Leitzinsen auf die höchsten Niveaus seit Jahrzehnten.
Leitzinsen erhöhen die Finanzierungskosten für kommerzielle Banken, welche wiederum höhere Zinsen von ihren (potenziellen) Schuldnern verlangen. Die Kreditaufnahme sinkt, was bedeutet, dass Haushalte weniger konsumieren und Firmen weniger investieren. Die Wirtschaft kühlt herab, womöglich bis zur Rezession. Weniger Nachfrage bedeutet weniger Preisdruck; die Inflation nimmt ab. So die Theorie, doch in der Praxis übersetzt sich ein Zinsschritt nicht unbedingt perfekt auf die Inflationsrate. Einmal, weil viele andere Faktoren gleichzeitig einwirken und eine Zinserhöhung kompensieren können. Zweitens, weil einiges an Zeit vergehen muss. Bis die inkrementell erhöhten Finanzierungskosten durch die Wirtschaft wirken und sich in der Verbraucherinflation spürbar machen, können gut und gerne 18 Monate vergehen. Seit dem ersten Zinsschritt der EZB im Juni 2022 sind es übrigens schon 16 Monate. Und die bislang letzte Erhöhung war im September dieses Jahres.
Leitzinsen, quo vadis?
Im Herbst 2023 scheint es so, als wäre die Zinswende vorerst abgeschlossen. In den USA, in der Eurozone und in vielen anderen Industriestaaten vermieden es die Zentralbanken zuletzt, die Zinsen weiter anzuheben. Stattdessen scheinen die Bänker in einen Abwartemodus zu gehen: Erst einmal sehen, wie sich die Preise weiter entwickeln – und, ob die eigenen Maßnahmen die Wirtschaft womöglich zu sehr abgewürgt haben. Die amerikanische Fed hat ein Doppelmandat, soll also sowohl auf die Preisstabilität als auch auf die Arbeitslosigkeit – sprich, die Wirtschaftslage – Acht geben. Die EZB hat zwar nur die Preise als Mandat, doch dass sie auch auf die Auswirkungen auf das Wachstum und die Finanzstabilität ihrer Mitgliedsstaaten achtet (höhere Leitzinsen bedeuten meist eine höhere Schuldenlast), ist ein offenes Geheimnis.
Die Frage, wie genau es weiter geht, ist eine Million-Dollar-Frage. Nicht umsonst hängen Analysten den Notenbänkern an den Lippen, wenn sie eine Entscheidung verkünden oder kryptisch ihren Kurs erklären. Die Erhöhung, Beibehaltung oder Senkung eines Leitzinses bewegt Aktienmärkte und Anleihenmärkte unmittelbar; und indirekt auch Arbeitsmärkte, Wirtschaftswachstum, Handelsströme, Staatsschulden und vieles mehr.
Wenn die whathappened-Redaktion in ihre Glaskugel blickt, wirkt eine akute Leitzinserhöhung am unwahrscheinlichsten. Zinsschritte wirken zeitverzögert, wie bereits gesagt, und den Zentralbanken dürfte es wichtig sein, ein besseres Bild der Effekte ihrer bereits umgesetzten Maßnahmen zu erhalten, bevor sie weitere beschließen. Gleichzeitig könnten Verwerfungen an den Energie- oder Lebensmittelmärkten, zum Beispiel durch Entwicklungen in der Ukraine oder Nahost ausgelöst, der Inflation einen Schub verpassen und Leitzinserhöhungen wieder notwendig machen. Auch andere Schocks könnten entsprechend wirken, doch Energie und Lebensmittel sind nun einmal traditionell am volatilsten. Dazu kommt das besagte Risiko einer Lohn-Preis-Spirale: Noch haben viele Branchen ihre Reallohnverluste der letzten drei Jahre nicht aufgeholt. Entwickelt sich eine kräftige Dynamik in den Gehaltsverhandlungen, könnte ein sogenannter “Zweitrundeneffekt” – also ein erneuter Schub an Preiserhöhungen – die Folge sein.
Zu guter Letzt könnten die Zentralbanken befinden, dass sich die “Letzte Meile” auf dem Weg zum Inflationsziel, also in der Eurozone von aktuell 2,9 auf 2 Prozent Inflation, zu sehr zieht. Womöglich wird dann noch einmal erhöht, um der Inflationsbekämpfung einen Ruck zu verpassen. Doch selbst bis die Zentralbank zu diesem Schluss gelangt, dürften einige Monate ohne Leitzinserhöhung vergehen.
Leitzinssenkungen sind möglich, weil die Wirtschaftslage in vielen Industriestaaten Schwächen aufweist. Die Eurozone kratzt an der Stagnation, Deutschland an der Rezession. Die USA waren in den vergangenen Quartalen zwar erstaunlich resilient, doch senden immer wieder mal ein sanftes Warnsignal, etwa wenn die Konsumstimmung aufgrund hoher Leitzinsen zurückgeht. Wenn die Zentralbanken den Eindruck bekommen, dass ihre Volkswirtschaften zu sehr ins Schlingern geraten, während die Inflation auf einem handhabbaren Niveau verweilt, könnten sie relativ zügig wieder Lockerungen umsetzen. Dagegen spricht, dass sich akut keine tiefen Rezessionen abzeichnen, sondern eher “weiche Landungen“.
Sowohl Senkungen als auch Steigerungen hätten Risiken, weswegen eine Beibehaltung vorerst am wahrscheinlichsten wirkt. Eine Erhöhung dürfte die Inflation weiter senken, bietet aber keine Garantie dafür und geht sicherlich auf Kosten der Wirtschaftskraft. Eine Senkung käme dem Wachstum zugute, doch droht, die Inflationserwartungen wieder zu steigern und die Erfolge der vergangenen Monate zu gefährden. Fed, EZB und Co. dürften stattdessen lieber ein Weilchen lang Stabilität bevorzugen und genau beobachten, wie sich Inflations- und Wachstumsdaten entwickeln. Insofern die Welt sie nicht dazu zwingt, doch in den einen oder anderen Kurs einzuschlagen.
Deutschlands eigene Inflation
Wenn alles gut geht, ist das Kapitel Inflation für die breite Öffentlichkeit tatsächlich bereits abgeschlossen. Die Teuerungsraten sinken weiter etwas, das Wirtschaftswachstum bleibt stabil, wenn auch etwas lethargisch. Dann können die Zentralbanken zum allmählichen, vorsichtigen Herabsenken der Leitzinsen übergehen. Medial wird das über die Jahre nur eine Randnotiz darstellen.
In Deutschland könnte die Lage ein wenig spezieller sein, zumindest gegenüber den USA. Hören wirst du von der Inflation im besten Fall nicht mehr sonderlich viel, doch mittelfristig muss sich die Bundesrepublik womöglich auf sturkturell höhere Inflationsraten einstellen. Der schwere Fachkräftemangel rund um demografischen Wandel, Teilzeit-Trend und mittelmäßigen Zuwanderungssaldo verengt den Arbeitsmarkt und erhöht die Verhandlungsmacht von Arbeitern. Ganz unabhängig von kurzfristigen Lohn-Preis-Spiralen führt das perspektivisch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu höheren Preisniveaus. Auch die hohen Investitionen, welche für die Digitalisierung und die Energiewende anfallen, werden über einen gewissen Zeitraum hinweg mit hoher Wahrscheinlichkeit steigende Preise bedeuten.
So ganz genau wissen kann man die Zukunft selbstverständlich aber nicht. Die Finanzkrise 2008 kam unerwartet, und genauso die jahrelange Phase an Niedriginflation, welche sie einläutete. Nicht minder unerwartet kamen Covid-Pandemie und Ukrainekrieg, deren Einfluss auf die aktuelle “Inflationskrise” kaum überschätzt werden kann. Jede Prognose auf die Mittelfrist sollte also mit viel Vorsicht behandelt werden.