Von der Antike bis zum Aufstieg Russlands.
25.08.2024
Die Rus | Ost, West und Süd | Kosaken | Russland
(19 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- In der Antike existierten in der heutigen Ukraine neben kleinen slawischen Stämmen vor allem griechische Kolonien und dominierende Reitervölker in der weiten Steppe des Südostens.
- Die Kiewer Rus war ab 880 n. Chr. das erste quasi-indigene Königreich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Sie kontrollierte weite Teile Osteuropas, doch entwickelte recht schnell Fliehkräfte.
- Die Invasion der Mongolen um 1240 beendete die Rus endgültig. Die “Horde” kontrollierte das heutige Russland streng, die westliche Ukraine lockerer.
- Mit dem Ende der Mongolen im 14. Jahrhundert stiegen Polen und Litauen auf. Als Unionsstaat kontrollierten sie die Ländereien der Rus in der heutigen Ukraine.
- Parallel stiegen das Großfürstentum Moskau und das Osmanische Reich als Machtzentren auf.
- Die Kosaken, eine Art Militärverbund, traten ab dem 16. Jahrhundert in diesen Mix. Sie erkämpften aus Polen-Litauen eine erste unabhängige Ukraine.
- In prekärer Lage zwischen den Großmächten baten sie den Zaren von Moskau 1654 um Unterstützung – und machten sich, vermutlich ungewollt, zu dessen Untertanen.
- Die Ukraine wurde endgültig dreigeteilt: Östlich des Dnjepr stand sie unter russischer Kontrolle, westlich des Dnjepr unter polnischer Kontrolle, im Süden unter Kontrolle des Osmanenreichs.
- Im Verlaufe der nächsten zwei Jahrhunderte sollte Russland das gesamte Territorium erobern.
Prolog
Die whathappened-Redaktion mag ihre Geschichtsexplainer, doch ausgerechnet zur Ukraine publizierte sie nie einen. In unserem ersten Osteuropa-Explainer “Russland und die Ukraine”, in welchem wir im Dezember 2021 die Wahrscheinlichkeit einer Ukraine-Invasion falsch einschätzten, gab es eine kleine “Gut zu wissen”-Box mit 90 Worten Turboabriss. Doch jetzt haben wir den passenden Aufhänger: die ukrainische Kursk-Offensive.
Nicht nur, dass zum ersten Mal seit 1944 russisches Territorium militärisch besetzt worden ist. Die Eroberung des kleinen Regionalzentrums Sudscha durch die Ukraine ist ein Echo vergangener Zeiten, denn Sudscha war einst im 17. Jahrhundert von Kosaken gegründet worden. Heute sind die Kosaken eine in Russland ansässige Quasi-Ethnie, welche zu großem Teil im weitläufigen Sibirien und am Uralgebirge lebt. Doch vor rund 400 Jahren schufen sie den ersten Proto-Staat der heutigen Ukraine. Und vor rund 100 Jahren wurde Sudscha die Hauptstadt eines kurzlebigen ersten modernen ukrainischen Staates.
Die Geschichte der Ukraine ist heute auch unabhängig von historischen Ironien relevant. Zum einen, weil die Ukraine eine einzigartige Position an der Peripherie Europas einnimmt. Vielleicht kein anderes Land geriet derart zum Schmelztiegel zwischen graeco-romanischen, slawischen, mongolischen, türkischen, nordischen und zentral- sowie westeuropäischen Einflüssen. Wohl kein anderes Land in Europa bekam seine Spaltung zwischen Ost und West dermaßen stark zu spüren. Wenn der ukrainische Historiker Serhii Plokhy das Land das “Tor Europas” nennt, ist das keine allzu riskante Hyperbel.
Zum anderen, weil die Geschichte der Ukraine politisiert wird. Sie wird zur Legitimation für russische Herrschaftsansprüche bemüht, für die Argumentation einer mutmaßlichen völkischen Einheit, für die Zuteilung von Territorien wie Donbass und Krim, für ukrainischen Nationalismus und zur Erklärung der heutigen russischen Invasion der Ukraine. Das geschieht durch zahlreiche Beobachter in aller Welt, darunter selbst den russischen Präsidenten Wladimir Putin, welcher eine Reputation als Hobbyhistoriker verwaltet.
Der Weg zur Rus_
(8 Minuten Lesezeit)
Mediterrane Kolonien und Steppenherrscher
Die Geschichte der Ukraine beginnt, selbstverständlich, bereits in der Antike. Das Territorium des heutigen Staates war damals grob in drei Teile trennbar: In den waldigen und sumpfigen Gebieten des Nordens lebten sesshafte slawische Stämme, in der weitläufigen Pontischen Steppe des Südens und Südostens lebten nomadische indogermanische Reitervölker wie die Cimmerer (welche die Comic-Figur “Conan der Barbar” inspirierten), die Skythen und die Sarmaten, die sich jeweils ablösten. Noch weiter südlich, auf und nahe der Krim, existierten einige griechische Kolonien, darunter ab ca. 650 v. Chr. Olbia als großes Handelszentrum mit bis zu 10.000 Einwohnern. Interessant war das Gebiet im südlichen Dnjepr vor allem für seine äußerst fruchtbaren Agrarflächen, welche von Herodotus, dem “Vater der Geschichtsschreibung” als so produktiv wie sonst nur der Nil beschrieben wurden. Sie bringen der Ukraine bis heute den Ehrentitel des “Brotkorbs Europas” ein.
Im Kern war das die Lage in der Ukraine bis ins frühe Mittelalter. Die griechischen Kolonien an der nördlichen Schwarzmeerküste waren wohlhabend und lebten vom Austausch mit den Steppenvölkern, bildeten in der östlichen Krim gar das graeco-skythische Bosporanische Reich. Kurz vor dem Jahr Null gerieten sie unter römische Kontrolle, doch blieben kulturell griechisch bzw. graeco-skythisch. Auch blieben die Kolonien zeitlebens umringt von iranischstämmigen Reitervölkern. Doch während die Lage in den frühen Jahrhunderten der griechischen Kolonialisierung recht stabil und friedlich war, kam es in der römischen Ära immer öfter zu Kriegen, Plünderungen und Instabilität. Die nomadischen Reiche rangen um Dominanz in der Steppe und kollidierten immer öfter auch mit den Kolonien; lokale und neu eingewanderte Stämme wie die Goten und Hunnen mischten mit. Der römische Dichter Ovid, welcher von Kaiser Augustus im Jahr 8 nach Tomis im heutigen Rumänien verbannt wurde, beschrieb es folgendermaßen:
Unzählige Stämme in der Umgebung drohen mit erbittertem Krieg
und halten es für eine Schande, ohne Plünderung zu existieren.
Draußen ist es nirgends sicher: Der Hügel selbst wird von brüchigen Mauern
und dem Einfallsreichtum seiner Bewohner verteidigt. […]
Wir sind kaum durch den Schutz der Festung geschützt;
und selbst die barbarische Menge im Innern, die sich mit Griechen vermischt,
flößt Angst ein, denn die Barbaren leben mitten unter uns, ohne Unterschied,
und bewohnen auch mehr als die Hälfte der Häuser.
Ein Machtvakuum
Rund vier Jahrhunderte später sollte von den Kolonien wenig übrig bleiben. Die meisten wurden verlassen. Auch das Reich der Sarmaten, das letzte große Reitervolk in der Pontischen Steppe, ging im Machtkampf sowie der Völkerwanderung der Spätantike unter. Goten und Hunnen übernahmen zeitweise, doch zogen entweder davon oder wurden vom Oströmischen Reich bekriegt. Dieses konnte zumindest die Krim noch etwa bis ins Jahr 1200 kontrollieren und ihre griechische Kultur bewahren.
Griechen, Römer, Skythen und Goten – was fehlt, sind die Slawen. Sie lebten in der Antike in relativ kleinen Stammesgruppen weiter nördlich, in besagten Wald- und Sumpfgebieten, welche unzugänglich genug waren, um in der griechischen und römischen Weltanschauung komplett zu fehlen. “Darüber hinaus”, so Ovid mit Bezug auf ebendiese Gebiete, “liegt nichts außer unbewohnbarer Kälte. Oh, wie nah ich am Ende der Welt bin”. Das Machtvakuum der Spätantike geriet den Slawen zur Chance, sich auszubreiten.
Gut zu wissen: Nicht alle Slawen lebten in Waldgebieten, doch ein prominenter slawischer Stamm waren die Drewljanen, was bereits vom Wort “derewo” für “Holz” stammt.
Die Slawen
Die Slawen sind Ureinwohner der Region, in dem Sinne, dass sie seit mindestens 2000 v. Chr. in Osteuropa ansässig waren. Ihre “Ursprungsregion” dürfte Polesien im Grenzgebiet der heutigen Ukraine, Polens und von Belarus gewesen sein, auch wenn dazu kein Konsens unter Forschern existiert. Als sich der Staub der Spätantike mitsamt der Völkerwanderung gelegt hatte, breiteten sich die Slawen aus. Sie bewegten sich in alle Himmelsrichtungen und landeten in Polen, im Balkan, im heutigen Russland und auch weiter südlich in der Ukraine sowie im heutigen Rumänien, wo Ostrom herrschte. Ihr Kontakt mit Ostrom brachte sie erstmals in die verschriftlichte Geschichtsschreibung.
Beschrieben wurden die Slawen mal als tapfer, großgewachsen und demokratisch organisiert, mal als “permanent mit Dreck bedeckt” (so der oströmische Historiker Procopius). Sie glaubten an Naturgötter, hatten aber eine Hauptgottheit in Form eines Donnergottes. Sie existierten in mehreren Stämmen, welche teils halbnomadisch, teils agrarisch-sesshaft lebten, aber keine nennenswerten zentral organisierten Reiche schufen. Sie gründeten aber durchaus permanente Ortschaften, etwa Kiew am Ufer des Flusses Dnjepr, vermutlich im Jahr 482 n. Chr.
Mit Ostrom pflegten die Slawen ein durchmischtes Verhältnis. Mal handelten sie miteinander und ließen sie sich als Söldner oder foederaten (nicht-römische Krieger unter Vertrag) einstellen, mal bekriegten sie sich. Noch komplizierter war das Verhältnis mit den neuen Reitervölkern, welche die Steppen für sich entdeckt hatten: Erst die ostasiatischen Awaren, später dann das langlebige Reich der Khazaren, welches eines der wenigen offiziell jüdischen Reiche der Weltgeschichte bildete. Die Slawen blieben damit hauptsächlich in den Wäldern und Sümpfen nördlich der Steppe, doch gerieten auch dort zeitweise unter Tributherrschaft der Khazaren.
Die Waräger-Ära
Die Geschichte der Ukraine veränderte sich mit einem Ereignis im Jahr 880: Das Zeitalter der Wikinger erreichte Kiew. Skandinavische Krieger und Händler, Waräger genannt, zogen zu Schiff durch die Wolga und den Dnjepr. Der Waräger-Prinz Helgi, in der slawischen Geschichtsschreibung Oleg genannt, eroberte 880 Kiew und begründete ein Fürstentum sowie die Dynastie der Rurikiden. Es sollte später als Rus oder Kiewer Rus bezeichnet werden. “Rus” geht vermutlich auf den altnordischen Begriff für “rudernde Männer” zurück, wurde von den Finnen dann als “ruotsi” zur Bezeichnung für Schweden, schaffte es dann zu den Slawen als Rus und wurde so in der oströmischen Geschichtsschreibung übernommen. Anfangs waren die “Rus” also ausschließlich die Waräger. Mit der Zeit wurde der Begriff auf ihren neuen Hofstaat angewandt, dann auf ihre Subjekte als Ganzes und zuletzt auch auf das Reich, welches sie geschaffen hatten.
Gut zu wissen: So wie Ostrom heute oft als Byzantinisches Reich bezeichnet wird, sich selbst aber nie so nannte, so ist es auch bei der Kiewer Rus: Sie nannte sich selbst einfach nur Rus.
Dieses Reich etablierte sich erst in den Waldgebieten rund um Kiew und den Dnjepr entlang, später dann auch in den Feldern drumherum. Selbst die Dominanz der teilnomadischen Khazaren und Petschenegen, den seinerzeit dominierenden Steppenvölkern, drängten die Rus zurück, auch wenn sie nie die Steppe selbst unter Kontrolle gebracht bekamen.
Die Rus war ein Mischstaat mit einer nordischen Adelsklasse, welche über eine mehrheitlich slawische Bevölkerung herrschte. Das Verhältnis war nicht immer einfach und beizeiten rebellisch, doch im Großen und Ganzen stabil genug. Die Waräger assimilierten sich mit der Zeit und die ethnische Unterscheidung verschwand zunehmend. Historiker sehen die Thronbesteigung von Wladimir I. im Jahr 978 gemeinhin als Ende des Wikingerzeitalters in der Rus.
Aufstieg und Fall der Rus
Unter Wladimir I. und seinem Sohn Jaroslaw I. stieg die Rus zu einem der wichtigsten Reiche des europäischen Frühmittelalters auf. Es nahm das orthodoxe Christentum an und wurde reich dank des Handels mit Ostrom, zu welchem es enge kulturelle, familiäre und religiöse Verbindungen schuf. Es errichtete Prachtbauten wie das Goldene Tor von Kiew; erreichte in der Adelsklasse einen hohen Bildungsstandard, welcher oberhalb weiter Teile Westeuropas zu liegen schien; und expandierte in fast alle Richtungen, außer in die Steppe, wo nach wie vor nomadische Reitervölker herrschten. Es war die Blütezeit der Rus und der Beginn der Frage, wer sich heute eigentlich alles historisch auf sie berufen kann. Aus russischer Sicht waren Wladimir und Jaroslaw russische Herrscher, aus ukrainischer Sicht ukrainische.
Die Kiewer Rus sollte nach ihrem Höhepunkt nicht mehr lange existieren. Dafür war sie zu groß, hatte zu mächtige Nebenzentren neben Kiew und König Jaroslaw zu viele männliche Kinder. Wie bereits das große fränkische Karolingerreich im Jahr 814, aus welchem Nachfolgerstaaten wie Frankreich und Deutschland hervorgingen, wurde die Rus in Fürstentümer gespalten. Sie waren zwar nominell Kiew unterstellt, doch besaßen faktisch Autonomie. Schnell brachen Machtkämpfe und offene Bürgerkriege aus, welche sich vor allem um das Kronjuwel Kiew drehten und mehrfach in seiner Plünderung resultierten. Das stärkte wiederum die Peripherie: Die Fürsten in Wladimir, Nowgorod (beide heutiges Russland) oder Halych (in Galizien, an der Donau nahe Ungarn) gewannen an Einfluss und sahen gar keinen Bedarf mehr, ihre Legitimation durch die Kontrolle Kiews unterstreichen zu müssen. Die Rus zersplitterte, zumindest politisch. Ihre Existenz als (dezentrale) Einheit hatten gemeinsame Kultur, Religion und ein einheitliches Rechtssystem in die ostslawischen Länder gebracht.
Die Spaltung von Ost, West und Süd_
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Die Mongoleninvasionhr
Die slawischen Ländereien der Rus existierten rund 200 Jahre als Flickenteppich aus Fürstentümern. Im Jahr 1240 endete ihre Geschichte mit der Ankunft der Mongolen. Im Stile der Reitervölker der Vergangenheit stellten sie die Dominanz der Steppe über die nördlichen Waldgebiete wieder her, wie schon Skythen, Sarmaten und Khazaren zuvor. Nur, dass die Mongolen ihren Machtbereich weitaus überwältigender ausbreiteten. In kürzester Zeit eroberten sie ein Weltreich.
Im Jahr 1206 begann Dschingis Khan eine Föderation lokaler Mongolenstämme vereint anzuführen. Bereits 1220 hatte er China und Zentralasien unter seine Kontrolle gebracht. 1223 eroberte er die Länder der Wolga-Bulgaren (siehe Karte oben) und die ersten östlichen Rus-Fürsten. Weiter südlich übernahmen die Mongolen die Pontische Steppe und die Krim. Dschingis Khan starb 1227, doch seine Nachfolger setzten den Eroberungsfeldzug fort. 1238 fiel Wladimir und 1240 eroberten, plünderten und zerstörten die Mongolen Kiew.
Gut zu wissen: Hier beginnt übrigens die unterschiedliche Geschichtsschreibung zwischen Russen und Ukrainern: Laut russischer Historiker im 19. Jahrhundert seien die Einwohner Kiews und des historischen Zentrums der Rus nach der Mongoleninvasion nach Osten, ins heutige Russland, geflohen. Andere Historiker dementieren und verorten sie in den Wald- und Sumpfgebieten der nördlichen Ukraine oder im Karpathengebirge im Westen.
Die Ära der Mongolen, genauer der “Goldenen Horde”, sollte nur knapp ein Jahrhundert andauern, doch prägte die Region in hohem Maße. Erstens beendete sie vollends die Vorherrschaft Kiews, welche ohnehin bereits ins Wanken geraten war, doch nun war die Stadt eine Ruine. Zweitens ermöglichte sie die Migration von Turkvölkern wie den Krim-Tartaren auf die Krim, wo bis dato Ostrom regiert hatte. Drittens strukturierte sie die Machtverhältnisse zwischen den Rus-Fürstentümern auf eine Weise um, welche den modernen Zustand zwischen Ost und West bereits etwas erkennbar werden ließ.
Galizien und Wladimir
Zwei Machtzentren hatten sich kurz vor der Mongoleninvasion herauskristallisiert und sollten während ihr bestehen bleiben: Wladimir im Osten und Galizien-Wolhynien im Westen, wobei letzteres inzwischen auch Kiew kontrollierte. Beide unterwarfen sich den Mongolen als Vasallen. Doch wo Wladimir tatsächlich loyal war und auch geografisch bedingt viel stärker von den Mongolen kontrolliert wurde, behielt Galizien-Wolhynien fast vollständige interne Autonomie und baute seine diplomatischen Verbindungen gen Westen aus, um Verbündete für eine etwaige Rebellion zu sammeln. Gerade die Avancen, welche Prinz Danylo an den Papst in Rom sandte, waren allerdings umstritten. Die orthodoxe Priesterschaft sowie der Patriarch in Konstantinopel waren erzürnt. Der Metropolit, praktisch der Erzbischof, wechselte von Kiew – formell von Galizien-Wolhynien kontrolliert – nach Moskau.
Moskau war 1147 im Fürstentum Wladimir gegründet worden. Auch bedingt durch die Umwälzungen im Zuge der Mongoleninvasion gelang der Stadt der Aufstieg gegenüber anderen aufstrebenden Zentren. Nun erhielt sie den prestigeträchtigen “Metropoliten der ganzen Rus“, welcher bis heute als Titel existiert und in Moskau residiert. An Galizien-Wolhynien gab Ostrom als Trostpreis den “Metropoliten der kleinen Rus”. Das könnte die noch heute existierenden, politisierten Begriffe “Kleine Rus” bzw. “Kleinrussland” für die Ukraine geprägt haben.
Polen-Litauen
Im 14. Jahrhundert sank gleichzeitig die Macht von Galizien-Wolhynien als auch jene seines mongolischen Suzeräns. Stattdessen traten im Westen zwei neue aufsteigende Kräfte auf den Plan: das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen. Sie verleibten sich nach einigen Anläufen jeweils Galizien und Wolhynien ein, in Vollständigkeit bis 1430, wobei der Großteil der Rus mitsamt Kiew an Litauen fiel. Der König Polens erklärte sich zum “Herrscher Rutheniens” oder, auf Latein, “Russiae dominus”; der Großfürst von Litauen nahm den äquivalenten Titel “Herrscher der Rus” an. Die westliche und zentrale Ukraine verlor damit jene weitreichende Unabhängigkeit, welche sie bis dato selbst unter den Mongolen genossen hatte. Zugleich rückte sie in den folgenden Jahrhunderten kulturell, linguistisch und politisch näher an Zentral- und Westeuropa.
Polen und Litauen waren lange Rivalen, doch traten 1385 in eine Personalunion, also ein Bündnis per Heirat. Im Jahr 1569 verschmolzen sich beide Staaten im Vertrag von Lublin in die Polnisch-Litauische Union, ein Staat mit einem Monarchen, einem Parlament, einer Währung und so weiter. Das schuf einen der größten und einflussreichsten Staaten Europas im späten Mittelalter, welcher heute nicht mehr vielen Menschen bekannt ist.
Dominiert wurde Polen-Litauen von Polen, welches alsbald eine “Polonisierung” der zuvor litauisch kontrollierten Rus-Ländereien begann. Für die Rus war das ein zweischneidiges Schwert. Zum einen schuf die Polonisierung mitsamt ihrem Katholizismus und ihrem lateinischen Alphabet viel Unruhe, welche zu mehreren Rebellionen führte. Zum anderen profitierten gerade zu Beginn viele Rus-Adlige von den neuen Herrschern, Polen brachte die Erkenntnisse der Renaissance und trieb die Kolonialisierung der nach wie vor ungebändigten Steppe voran.
Gut zu wissen: In Polen-Litauen ging der Großteil der Rus unter direkte Kontrolle des Königreich Polen. Nur das heutige Belarus blieb intern Teil des Großfürstentums Litauen. Das führt zur heutigen Trennung zwischen Ukraine und Belarus.
Die Osmanen und das Krim-Khanat
Bis hierhin war zu keinem Zeitpunkt der Geschichte der Ukraine die Steppe durch jemand anderes als iranische, türkische oder mongolische Reitervölker kontrolliert worden. Diese dominierten manchmal die Wälder und Felder im Norden, doch nie andersherum. Mit dem Untergang der Mongolen übernahm das tatarische Krim-Khanat, ein Turkvolk. Es hatte enge Beziehungen zu einer anderen Supermacht, welche parallel zu Polen-Litauen aufgestiegen war: dem türkischen Osmanenreich. Dieses war seit 1300 rasant expandiert und hatte bis 1453 das komplette Byzantinische Reich (Ostrom) mitsamt der Hauptstadt Konstantinopel, nun zu Istanbul umbenannt, erobert. Damit wurde es zur dominanten Macht im östlichen Mittelmeer sowie im Schwarzen Meer. Über seine Besitzungen im Ostbalkan wirkte das Osmanische Reich auch auf die heutige Ukraine ein, zudem zwang es das Krim-Khanat in einen Vasallenstatus.
Gut zu wissen: Die wohl lukrativste Handelsbeziehung zwischen Osmanen und Krim-Khanat war der Sklavenhandel. Binnen 200 Jahren verschleppten die Tataren schätzungsweise 2 Millionen Einwohner aus Polen-Litauen, also dem ukrainischen Grenzgebiet. Die islamische Gesetzgebung erlaubte es den Osmanen ausschließlich Nicht-Muslime als Sklaven zu halten.
Moskau
Polen-Litauen und das Osmanenreich kollidierten im Gebiet der heutigen Ukraine, doch neben ihnen entstand ein drittes neues Machtzentrum im Osten. Bis 1476 hatte das Großfürstentum Moskau sich als zentrale Kraft im östlichen Gebiet der Rus etabliert. Ivan III., welcher sich erstmals als Zar bezeichnete (etymologisch verwand mit “Kaiser”), erklärte seine Unabhängigkeit vom Mongolenreich, welches seinen Zenit längst überschritten hatte. Er breitete Moskau aus und machte es sich zum Ziel, “die Rus einzusammeln”. Im frühen 16. Jahrhundert eroberte das Großfürstentum mit Tschernihiw erstmals Gebiet der heutigen Ukraine. In der weiteren Expansion stieß Moskau allerdings mit Litauen zusammen. Dass dieses sich in die Union mit Polen begab, war auch eine Konsequenz aus der neuen Bedrohung durch Moskau.
Die Geschichte der Ukraine und Osteuropas im Gesamten sollte zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert von diesen drei Entitäten geprägt werden: Polen-Litauen, dem Osmanenreich und Moskau.
Die erste Ukraine_
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Kosaken
Die geografische Ukraine war im 16. Jahrhundert ein Spielfeld der Großmächte, doch politisch existierte sie nicht. Das sollte sich alsbald ändern, zum ersten Mal würde ein Vorläufer der Ukraine im modernen Sinne entstehen. Und das hat auch mit der Bedeutung ihres Namens zu tun.
“Ukraina”, die slawische Version des Namens, stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit von “krajna” für “Grenzgebiet” ab. Verwendet wurde der Name erstmals nachweislich im Jahr 1425, wenn auch bezogen auf Ereignisse im 12. Jahrhundert. Das Grenzgebiet meinte im engsten Sinne das Fürstentum Perejaslawl, welches an die Pontische Steppe und somit die Reiche der nomadischen Reitervölker angrenzte. Im weiteren Sinne bezog es sich auf all jenes Gebiet, welches die Grenze der slawisch kontrollierten Welt darstellte.
Litauen und später Polen begannen, dieses Grenzgebiet zu befestigen und mit einem stehenden Heer zu verteidigen. Das bot etwas mehr Sicherheit gegen die Plünder- und Versklavungszüge des Krim-Khanats. Zugleich schuf das Königreich kräftige Anreize für Kolonisten, auf die Steppe vorzurücken und dort – unter hoher Gefahr – Farmen oder Dörfer zu errichten. Vor allem Verbrecher, Schuldner, Leibeigene und viele Juden versuchten ihr Glück im Grenzgebiet.
Zu dieser Zeit entstanden die Kosaken, genauer nachweislich erstmals ab 1492. Sie waren anfangs ein Mix aus semi-nomadischen Abenteurern, (mietbaren) Wächtern und Banditen, welche im Grenzgebiet agierten. Mal überfielen sie Händler, mal beschützten sie Händler und Kolonisten vor tatarischen Überfällen. Litauen und später Polen-Litauen nutzten sie inoffiziell als Bastion gegen das Krim-Khanat und führten sogar ein Register mit “registrierten Kosaken” ein, welche wie Angestellte bezahlt wurden.
Die Kosaken gewannen schnell an Popularität und rekrutierten viele der lokalen Bauern, welche die Kolonialisierung gewagt hatten. Das führte auch dazu, dass sie ein klares lokales Profil erlangten, also plötzlich eine ausdrücklich ukrainische Gruppe darstellten, also des Grenzgebiets. Zugleich blieben sie in erster Linie ein militärischer Bund, angeführt von einem Kommandanten mit dem Titel Hetman (bzw. Ataman), und nicht etwa eine politische Bewegung oder ein Staatskonstrukt. Es gab außerdem nicht eine konkrete Kosakengruppe, sondern zahlreiche, welche miteinander nicht immer viel zu tun hatten, außer, dass sie aus der Ukraine stammten und sich als Kosaken definierten.
Gut zu wissen: Hetman war ursprünglich ein polnischer Titel, welchen die Kosaken übernahmen. Er geht wahlweise auf das deutsche “Hauptmann” oder auf das türkische Ataman, also “Vater der Pferdeleute” zurück. Beritten waren die Kosaken dabei in ihren Anfangstagen selten, da es äußerst teuer war, eine Kavallerie zu unterhalten.
Die Große Rebellion
Mit dem wachsenden Einfluss der Kosaken stieg auch ihre militärische Bedeutung. Plötzlich wurden sie zum außenpolitischen Faktor: Sie attackierten das Krim-Khanat, das Osmanische Reich und selbst Moskau; teilweise auf eigene Faust, teilweise gemeinsam mit den Armeen Polen-Litauens. Ihnen gelangen beeindruckende Erfolge, so etwa mehrere Plünderungen Istanbuls und die Mithilfe zur polnischen Besatzung Moskaus 1610. Die Kosaken erlangten Berühmtheit in ganz Europa und viel Prestige in Polen-Litauen. Ihre Versuche, auch politischen Einfluss zu erhalten, schmetterte die Union allerdings ab. Zudem blickten Warschau und Vilnius mit zunehmender Skepsis auf die selbstbewussten, wenn auch nützlichen Militärverbunde und begannen deswegen, die Kosaken einzuhegen. Kleinere Rebellionen brachen aus, welche Polen-Litauen niederschlug und zum Anlass nahm, die Kosaken möglichst schnell zu Leibeigenen zu verwandeln.
Das ging nur rund 30 Jahre lang gut. Im Jahr 1648 brach die bislang größte Kosaken-Rebellion aus. Angeführt wurde sie von der wohl wichtigsten Kosakengruppe, nämlich jener in Saporischschja, angeführt vom Hetman Bohdan Khmelnytsky. Den Rebellen gelang ein unerwarteter Streich: Sie machten ihre natürlichen Feinde, die Krim-Tataren, zu ihren Verbündeten. Zudem wechselten Tausende “registrierte” Kosaken die Seiten und schlossen sich den Rebellen an. Das Bündnis aus Kosaken und Tataren eroberte die Dörfer und Festen des Grenzgebiets und besiegte mehrere polnische und litauische Armeen. Die Union war militärisch zerrüttet und die Kosaken hatten freie Hand, bis auf Warschau zu marschieren. Auf dem Weg verübten sie Massenmorde an Adligen, katholischen Priestern und vermutlich Zehntausenden Juden.
Hetman Khmelnytsky verzichtete darauf, Warschau zu erobern. Stattdessen zitierte er polnische Gesandte in die Stadt Perejaslawl und diktierte ihnen dort, dass er nun der Herrscher der Rus sei. Er gründete das “Hetmanat”, welches zwar offiziell ein autonomes Reich innerhalb der Union Polen-Litauen, doch faktisch unabhängig war. Auch Kiew war Teil dieses Hetmanats. Bekannt war es auch unter dem Namen Ukraine, seine Einwohner als Ukrainer.
Das Hetmanat
Die bloße Entstehung des Hetmanats war ein beeindruckender Erfolg. Einer Gruppe aus Vagabunden und Außenseitern in der wilden Peripherie dreier Großmächte war es gelungen, einen eigenen Staat zu erschaffen. Zugleich hielt die Freude nur kurz, denn die Lage der Ukraine war prekär. Polen-Litauen war der offene Gegner, welcher seine Ländereien zurückwollte und die Ukraine bekriegte. Khmelnytsky verstand, dass sein Reich nicht ewig alleine gegen die Union bestehen konnte. Er versuchte, mit den Osmanen zu paktieren. Sie erwiesen sich allerdings als unzuverlässig und ihre Vasallen, das Krim-Khanat, hinterging die Kosaken, wohl auch, weil sie kein Interesse daran hatten, dass sich der Kosakenstaat etablieren konnte. Also blieb nur Moskau.
Nach mehreren militärischen Niederlagen gegen Polen-Litauen und dem Tod seines eigenen Sohnes auf dem Schlachtfeld, warf sich Khmelnytsky hinter Moskau. Im sogenannten Vertrag von Perejaslawl 1654 leistete er den Treueeid auf Zar Alexei I., wie er es zuvor bereits mit den Osmanen getan hatte. Es sollte zum vermutlich wichtigsten Ereignis in der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen geraten sowie zu einem Wendepunkt in der Region.
Gut zu wissen: Das Großfürstentum Moskau wurde bereits 1547 durch Iwan IV. zum Zarentum Russland umbenannt. 1721 gründete Peter der Große dann das Russische Zarenreich. In diesem Explainer verwenden wir mehrheitlich auch für das 17. Jahrhundert den Namen Moskau.
Russlands Dominanz_
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Zwischen den Zeilen
Der Vertrag von Perejaslawl war damals wie heute etwas, das von Ukrainern und Russen sehr unterschiedlich interpretiert wird. Die Sowjetunion und nationalistische russische Beobachter feierten und feiern ihn als “Wiedervereinigung”, auch wenn es keinen Hinweis darauf gibt, dass Moskau und die Kosaken so über ihren Pakt dachten. Seit dem Ende der Rus waren immerhin 400 Jahre vergangen. Stattdessen sahen die Kosaken es als Vasallenverhältnis, in welchem sie für Loyalität und militärischen Beistand Schutz vom Zaren erhielten. Dabei orientierten sie sich an dem für sie bekannten polnisch-litauischen Modell. Der Zar machte jedoch früh klar, dass er keinerlei Pflichten für sich sah und die Kosaken nicht einfach Vasallen, sondern Subjekte geworden waren.
Dabei begann der Pakt mit Moskau für die Ukraine vielversprechend. Sie erhielt die erwünschte Anerkennung der Staatlichkeit des Hetmanats und die angeforderte militärische Unterstützung. Moskau und die Kosaken trugen den Krieg nach Polen und Litauen. Da zeitgleich eine schwedische Invasion stattfand, nennt Polen diese Phase die “Sintflut“. Das Land wäre fast komplett zerfallen, doch daran hatte Moskau kein Interesse und ging stattdessen einen Frieden ein. Das erzürnte die Kosaken, welche plötzlich alleine gegen die Union standen und vor allem deren Kontrolle über die Ukraine westlich des Dnjepr nicht mehr brechen konnten. Khmelnytsky war erbost, doch bevor er einen angepeilten Pakt mit dem aufstrebenden Schweden schließen und gegen Moskau vorgehen konnte, verstarb er im Jahr 1657.
Moskau verstand es in den folgenden Jahrzehnten intelligent, die Kosaken gegen sich selbst auszuspielen. Es fachte interne Macht- und Richtungskämpfe an und ließ unerwünschte Hetmane absägen. Es beließ die formale Unabhängigkeit des Hetmanats und erlaubte den Kosaken sogar, das russische Grenzgebiet Sloboda Ukraine zu kolonialisieren – was uns zur Gründung der Stadt Sudscha durch die Kosaken bringt. Zugleich schränkte der Zar die Autonomie der Kosaken nach und nach ein, so etwa, als er die Wahl eines neuen Hetman von seiner Zustimmung abhängig machte. Die Ukraine östlich des Dnjepr fiel de-facto unter die Kontrolle Moskaus, auch wenn weite Teile offiziell dem Hetmanat gehörten.
Damit war final jene Linie gezogen, welche die Ukraine bis heute prägt: Östlich des Dnjepr unter russischer Herrschaft und westlich des Dnjepr unter polnischer Herrschaft. Schon bald würde diese Linie unter russischer Dominanz verschwinden – zumindest auf der Landkarte, allerdings nicht in den Köpfen. Und es sollte weitere 250 Jahre dauern, bis die Ukraine wieder einen Versuch für eigene Staatlichkeit wagen würde.
Am nächsten Sonntag veröffentlichen wir Teil 2 dieses Explainers.
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