Argentiniens erstes Jahr unter Milei

Ein Blick auf die Wirtschaftsperformance eines kontroversen Präsidenten.
15.12.2024

Strukturreformen | Inflation, Arbeitsmarkt & BIP | Mileis Mandat

(15 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Präsident Javier Milei ist seit einem Jahr im Amt. Die Inflation ist nach einem starken Sprung inzwischen deutlich herabgesunken, Tendenz weiter fallend.
  • Der Haushalt ist stabilisiert und verbucht seltene Überschüsse – was er in hohem Maße der kräftigen Inflation und drastischen (realen) Ausgabensenkungen verdankt.
  • Inzwischen steigen die Reallöhne wieder und fürs kommende Jahr zeichnet sich ein BIP-Wachstum ab.
  • Damit kann Milei auf zahlreiche Erfolge verweisen.
  • Dem stehen jedoch eine tiefe Rezession, ein angeschlagener Arbeitsmarkt und eine stark gestiegene Armutsquote gegenüber. Vor allem arme Argentinier leiden schwer unter den Ausgabenkürzungen der Regierung.
  • Durchaus etwas überraschend bleibt die Unterstützung für Milei aber hoch – und auch bei armen Argentiniern recht stabil.
  • Für langfristige Strukturreformen konnte Milei die “Ley Bases” durchsetzen, doch was genau diesbezüglich passieren wird, dürfte sich maßgeblich erst in der Parlamentswahl im Oktober 2025 entscheiden.
  • Sie wird für den Präsidenten und sein politisches Projekt zur Bewährungsprobe. Aus heutiger Sicht stehen seine Chancen auf einen Sieg gut.

Reformprogramm_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Seit dieser Woche ist Argentiniens Präsident Javier Milei genau ein Jahr lang im Amt. Bereits im Mai widmeten wir dem selbsternannten politischen Außenseiter einen Explainer. Das Fazit damals: Seine radikale Sparpolitik hatte erste erfolgsversprechende Signale gezeigt, allerdings bei heftigen sozialen Kosten. Insgesamt war es für eine faire Beurteilung seiner radikalen Sparpolitik in vielerlei Hinsicht noch zu früh, schrieben wir. So weit, so diplomatisch. Jetzt sind wir allerdings ein halbes Jahr weiter und es zeigen sich in Argentinien immer mehr Auswirkungen seiner Politik. Nehmen wir den roten Faden wieder da auf, wo wir ihn im Mai zurückgelassen hatten.

Im Kern geht es in Mileis wirtschaftlichen Programm um zwei Säulen. Erstens, die desolate akute Wirtschaftslage zu stabilisieren. Zweitens, mindestens zwanzig Jahre der Misswirtschaft anzugehen und Argentinien völlig neu aufzustellen. Dafür verfolgte er das weitreichendste Sparprogramm in der Geschichte Argentiniens. Resultat ist nicht weniger als die Aufkündigung des bisherigen sozialen Vertrags im Land. Milei und Unterstützer fordern den Umbau eines kaum noch funktionsfähigen Versorgungsstaates zu einer konkurrenzfähigen und ultraliberalen Marktwirtschaft; Gegner befürchten soziale Kälte und Verarmung durch eine mutmaßlich wirkungslose Austeritätspolitik.

Gut zu wissen: Den Explainer zu Mileis Politik aus Mai 2024 findest du hier sowie noch einmal am Ende dieses Explainers. 

Argentiniens langjährige Krise in einer Grafik aufgezeigt. Die Y-Achse ist logarithmisch, womit jede vertikale Bewegung sehr hohe Veränderungen anzeigt. Das bedeutet, dass alle Länder in dieser Darstellung in den letzten 105 Jahren viel, viel schneller als Argentinien wuchsen.

Ley Bases

Für seine große Vision eines neuen Argentiniens hatte der Präsident schon kurz nach Amtsantritt ein umfangreiches Omnibusgesetz mit 664 Gesetzen, die Ley Bases, vorangetrieben. Nach einigen Blockaden wurde es im April in abgespeckter Form als Paket von 232 Gesetzen durch das Unterhaus angenommen. Im Juni passierte es nach langem Hin und Her auch den Senat. Das war nicht trivial: Der als Außenseiter angetretene Milei hatte zwar im November 2023 die Präsidentschaftswahl gewonnen, seine Partei La Libertad Avanza (anfangs ein Parteienbündnis) befand und befindet sich aber immer noch im Aufbau. Sie hält im Unterhaus nur 15 Prozent, im Senat sogar nur 10 Prozent der 72 Sitze. Milei muss im Kongress also aktiv nach Unterstützern suchen, um seine Gesetzesvorhaben durchzubringen, was oft zu einer schwierigen Aufgabe gerät. Die Ley Bases wurde beispielsweise so knapp wie nur möglich mit 36 Stimmen und einem “tie break” durch den Vizepräsidenten angenommen.

Die Ley Bases lässt sich grob in drei Felder trennen. Sie sieht ein ambitioniertes Privatisierungs- und Deregulierungsprogramm vor, eine radikale Verschlankung der staatlichen Institutionen und Ausgaben sowie Anreize für (ausländische) Investitionen. Das beschreibt ganz allgemein die wirtschaftlichen Prioritäten der Milei-Regierung gut, insbesondere wenn man noch die kräftige Wende in der Geldpolitik – nicht Teil der Ley Bases – dazu nimmt.

Gut zu wissen: Die Geldpolitik nahm einen großen Teil unseres ersten Explainers ein und hat sich seitdem nicht maßgeblich verändert.

Eine Zusammenfassung von Mileis Privatisierungspolitik geht schnell: Es gibt zwar Pläne, staatseigene Betriebe zu privatisieren, bislang ist das aber noch nicht passiert. Die Ley Bases erlaubt es der Regierung, acht große Unternehmen zu veräußern, darunter einen Energieriesen, die Wasserbetriebe und den Schienenfrachtverkehr.

Darüber hinaus enthält das Gesetzespaket ein umfangreiches Gesetz zur Förderung ausländischer Investitionen. Das sogenannte Régimen de Incentivos para Grandes Inversiones (“Anreizregime für Großinvestitionen”, RIGI) unterstützt Investitionen über 200 Millionen USD in bestimmten Sektoren wie Energie- und Rohstofferzeugung unter anderem mit Steuervergünstigungen für 30 Jahre. 

Während große Einzelinvestitionen bisher noch ausbleiben, gibt es Signale, dass sich das in der Zukunft ändern könnte. Der Risikoindex Argentiniens wird bei allen Ratingagenturen immer besser, das Land erhält also wieder mehr Vertrauenswürdigkeit am Finanzmarkt zugesprochen. Der Preis von Staatsanleihen hat sich im letzten Jahr verdreifacht. Auch der nationale Aktienindex Merval stieg dieses Jahr insgesamt um über 140 Prozent. Das sieht zwar alles gut aus, ist aber wenig wert, bis es sich nicht in tatsächliche Geldzuflüsse aus dem Ausland übersetzt. Bis jetzt steigen die Auslandsinvestitionen nur sehr leicht, auch wenn es noch keine offiziellen Zahlen aus den letzten zwei Quartalen gibt. Einmal mehr ist es also zu früh, um Mileis Programm für Investitionsanreize wirklich zu beurteilen.

Die Kettensäge und der Entsafter

In wenigem war Milei bisher so aktiv wie in seiner Sparpolitik und im Abbaus des Staatshaushaltes, an welchen Milei die “Kettensäge” ansetzen wollte. Wie wir bereits berichteten hat er in der Tat radikal eingespart; reduzierte die Anzahl der Ministerien von achtzehn auf acht; stoppte die Erhöhung der Renten und der Löhne im öffentlichen Dienst; strich das Bildungsbudget um rund 40 Prozent zusammen; und stoppte staatliche Investitionen, darunter sämtliche Infrastrukturprojekte.

All diese Maßnahmen zielen für Milei auf nur ein Ziel ab: den Haushaltsüberschuss. Seit dieser im Januar zum ersten Mal in über 16 Jahren erreicht wurde, hat Argentinien den Kurs fortgesetzt. Im zweiten Quartal erreichte es einen Überschuss von 1,1 Prozent des BIP, nach Jahren an Defiziten eine bemerkenswerte Leistung. Zwar gibt es für das dritte und vierte Quartal noch keine Daten, aber da sich an den Voraussetzungen nicht viel geändert hat, wird Milei das Jahr wohl mit dem ersten Nettoüberschuss in einer sehr langen Zeit abschließen. Er selbst behauptet sogar den ersten in 123 Jahren

Sein Ziel ist noch immer ein Überschuss von 2 Prozent. Ob das erreichbar ist, ist fraglich, denn die Möglichkeiten für weitere Einsparungen wirken langsam erschöpft. Außerdem wurde ein beachtlicher Teil der Einsparungen durch die weiterhin hohe Inflation produziert, welche eine Art kalter Progression hervorbringt, die man in Argentinien La Licuadora nennt, den Entsafter. Denn wenn die Preise schnell steigen und die Regierung ihre Ausgaben stabil hält (oder nur leicht steigert), bedeutet das geringere reale Ausgaben. Jetzt sinkt aber auch die Inflation, nicht zuletzt durch den Haushaltsüberschuss, durch den der argentinische Staat zum ersten Mal in langer Zeit mehr Geld aus der Wirtschaft entnimmt, als er hineinpumpt.

Wie steht es um die Wirtschaft?_

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Rezession gegen Inflation

Die Wende in der Geldpolitik und bei der Inflation ist dann auch Mileis Hauptfokus und seine bisher wohl größte Leistung. Nach mehr als drei Jahrzehnten der unkontrollierten Inflation nahm diese im Verlauf des Jahres tatsächlich entschieden ab. Milei hat der Zentralbank verboten, mehr Geld in Umlauf zu bringen, was in der Vergangenheit der Hauptmotor der Inflation im Land war. Im November erreichte die Inflationsrate 2,4 Prozent – wohlgemerkt auf den Vormonat bezogen, doch für Argentinien ist selbst das ein großer Erfolg. Noch im April waren die Preise um 8,8 Prozent gestiegen und im Dezember 2023 gar um 25,5 Prozent – erneut, zum Vormonat.

Auf den Vorjahresmonat bezogen lag die Inflationsrate im November bei beachtlichen 166 Prozent, doch im argentinischen Kontext ist das ein Fortschritt. Den Großteil des Jahres 2024 verbrachte sie oberhalb der 200 Prozent, kratzte zeitweise an 300 Prozent. Der Trend ist damit eindeutig positiv. Bald dürften auch die Zahlen hübscher aussehen: Da das Preisniveau ab Dezember 2023 kräftig angezogen hatte, werden die Inflationsdaten ab Dezember 2024 vorteilhafter sein, da sie sich auf einen höheren Basiswert beziehen.

Gut zu wissen: Die Inflation war direkt nach Mileis Amtsantritt gestiegen, und das nicht zufällig: Mit einer heftigen Peso-Abwertung hatte er Importe massiv verteuert und so das Preisniveau steigen lassen. Das geschah allerdings bewusst: Die Abwertung passte den bis dato völlig realitätsentkoppelten offiziellen Wechselkurs an die Vielzahl von Schwarzmarktkursen an und zwang Argentinier zum Einsatz ihrer gehorteten US-Dollar; die Inflation erleichterte der Regierung die Bedienung inländischer Schulden und dank La Licuadora die Stabilisierung des Haushalts. Wir erklärten in unserem ersten Explainer zu Milei mehr.

Tatsächlich trägt aber mehr als nur die konservative Fiskalpolitik zum Inflationsabbau bei, denn auch die Konsumausgaben der Privathaushalte sind dieses Jahr um 20 Prozent gefallen. Grund sind unter anderem die verteuerten Importe aufgrund von Mileis Peso-Abwertung. Sinkende Konsumausgaben wirken disinflationär, weil dadurch die Nachfrage sinkt – die Preise fallen, weil Anbieter nur so weiter verkaufen können. Für die Konsumenten ist die sinkende Inflation damit ein zweischneidiges Schwert: Einerseits kommt ihnen die sich wiederherstellende Preisstabilität zugute (sprich, sie haben eine besser Vorstellung davon, welche Preise sie morgen erwarten); andererseits ist ein Grund für ebendiese Stabilität nun einmal, dass sie weniger konsumieren können.

Hinsichtlich der großen Wahlkampfversprechen zur Schließung der Zentralbank und der Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft ist seit Mai nicht viel passiert. Die Zentralbank existiert weiterhin und der Peso ebenso. Tatsächlich hat Milei es aber geschafft, wieder mehr Kontrolle über den Dollar im Land zu gewinnen: Durch großzügige Steueramnestien bewegte Milei die Argentinier dazu, rund 15 Milliarden USD in das offizielle Finanzsystem zu spülen, welche sie zuvor praktisch unter der Matratze gebunkert hatten.

Es muss erst schlimmer werden, bevor es besser werden kann

Dank der radikalen Einsparungen sind auch viele Arbeitsplätze verloren gegangen. Laut einer der Baugewerkschaften fielen allein durch die Einstellung staatlicher Infrastrukturprojekte bis zu 150.000 Stellen weg. Die Arbeitslosigkeit erreichte Mitte des Jahres bereits 7,6 Prozent, für den Rest des Jahres warten wir noch auf Daten. Es steht aber zu vermuten, dass Arbeitsplätze eher weiter abgebaut als neu geschaffen wurden.

Auch das trägt wiederum zur sinkenden Inflation bei. Steigende Arbeitslosigkeit drückt die Gehälter, da Arbeitnehmer weniger Verhandlungsmacht besitzen, weswegen Firmen sich niedrigere Preise oder zumindest weniger Preiserhöhungen leiste können. Zugleich reduzieren sinkende Löhne wiederum die Haushaltsausgaben, was wie bereits beschrieben disinflationär wirkt. Es liegt also nahe, dass Mileis große Inflationsleistung zunächst vor allem auf der deutlichen Kontraktion der Wirtschaft und vor allem des Arbeitsmarktes basiert.

Im letzten Jahr und vor allem seit April sind die Reallöhne in der freien Wirtschaft wieder etwas gestiegen. Kumuliert müssen abhängig Beschäftigte seit Oktober 2023 nur noch rund 15 Prozent Kaufkraftverlust hinnehmen – Mitte des Jahres hatte die Kennziffer mit rund 20 Prozent einen Tiefpunkt erreicht. Damit stehen Arbeitnehmer zwar immer noch deutlich schlechter dar als vor Mileis Amtsantritt, wichtig ist aber, dass sich eine Trendumkehr eingestellt hat. Die Löhne steigen real, also inflationsbereinigt, und die Wende in der Lohnentwicklung ist damit echt. 

Gleichzeitig ist die Situation im öffentlichen Sektor weitaus dramatischer. Der Sektor umfasste 2022 rund 19 Prozent aller Arbeitnehmer, gegenüber knapp 11 Prozent in Deutschland und 14,5 Prozent in den USA. Da Mileis Regierung die Ausgaben für den Staatshaushalt drastisch gesenkt hat, lag das Wachstum der Löhne hier bislang weiterhin unter der Inflation, was einen weiteren Verlust der Kaufkraft bedeutet, etwas über 20 Prozent im letzten Jahr. Größere Lohnerhöhungen zum Ausgleich der mittelfristig immer noch sehr hohen Inflation sind von Mileis Regierung nicht zu erwarten. Zuletzt bekamen Universitätsangestellte, die gegen den radikalen Sparkurs der Regierung seit Monaten auf die Straße gehen, die mit Abstand höchste Lohnsteigerung im öffentlichen Dienst: ganze 6,8 Prozent. Gefordert hatten sie mindestens 63,5 Prozent.

Als selbsterklärtem “Anarchokapitalisten” ist Milei der Staatsapparat bekanntermaßen ein Dorn im Auge, er möchte ihn radikal zusammenkürzen und seine Aufgaben möglichst auf die Landesverteidigung und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung reduzieren. Dass der öffentliche Sektor bisher nicht vom relativen Aufschwung der Löhne profitiert, hat also Methode. Bis jetzt hat Milei zwar nur 30.000 der angekündigten 130.000 Staatsangestellten entlassen, dafür aber bis auf symbolische Zugeständnisse alle Löhne und Pensionen der restlichen Beamten eingefroren. Auch so kann der öffentliche Sektor indirekt abgebaut werden: Wenn die Löhne auf dem freien Markt weiter relativ steigen, werden Beamte wohl von selbst dorthin abwandern.

Neben den Menschen im öffentlichen Dienst wird aber auch eine zweite Gruppe durch die Reformen bisher vielleicht nicht mit Absicht, aber konstruktionsbedingt ärmer gemacht: Rentner. Die sind in Argentinien schon lange eine besonders gebeutelte Gruppe, denn beitragsfinanzierte Renten sind natürlich besonders vulnerabel gegenüber der Inflation. Auch unter Milei wurden die Renten weiter nur unterhalb der Inflationsrate erhöht  – de facto also gesenkt. Tatsächlich geschah auch diese nominelle Erhöhung (und reale Senkung) nur entgegen Mileis Widerstand: Der Senat setzte im August das Gesetz zur Rentenerhöhung um 8 Prozent gegen die geschlossenen Nein-Stimmen seiner Partei La Libertad Avanza durch.

Kommt das Wachstum?

Im Mai sagten Experten voraus, das BIP werde dieses Jahr um rund 4 Prozent schrumpfen. Tatsächlich bewegen sich die aktuelleren Prognosen für die Kontraktion des BIP noch immer bei zwischen 3 und 4 Prozent. Seit Mitte des Jahres hat sich der Ausblick aber merklich verbessert, selbst vorsichtige Stellen wie Fitch korrigierten zuletzt ihre Erwartungen der Schrumpfung nach unten und jene des Wachstums im kommenden Jahr herauf. Die steigende Wachstumsprognose basiert dabei vor allem auf einer optimistischeren Einschätzung des Privatkonsums, die wohl wiederum auf der beobachteten Trendwende in der Lohnentwicklung fußt. 

Einige Prognosen sind regelrecht attraktiv: Die US-Großbank JP Morgan prognostiziert ein Wachstum von 5,2 Prozent im Jahr 2025. Das wäre eine bemerkenswerte Leistung für Milei, auch wenn dem von einem schwachen Basiswert geholfen wird und selbst dieses kräftige Wachstum Argentiniens BIP pro Kopf gerade mal auf das Niveau von 2021 zurückbringen würde. Am Ende des Tages geht es in Argentinien aber weniger darum, wie das Wachstum in der Kurzfrist aussieht, sondern viel mehr um eine Trendwende nach Jahrzehnten einer lethargischen Wirtschaftsperformance. Ob diese gelingen kann und Milei die möglichen Früchte eines langsamen Umschwungs ernten kann, hängt auch davon ab, ob er politisch lange genug überleben kann.

Armut und Beliebtheit_

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Erst kommt die Armut

Die größte Gefahr für Milei und der größte Kritikpunkt an seiner bisherigen Regierungstätigkeit ist der drastische Anstieg der Armutsrate. Im ersten Halbjahr 2024 betrug diese 52,9 Prozent – zwar etwas geringer als die 57,4 Prozent, welche ein Institut der Universidad Cátolica Argentina (UCA) noch im Januar errechnete, doch ganze 11 Prozentpunkte mehr als im Vorhalbjahr. Es ist auch der höchste Wert seit der großen Wirtschaftskrise im Land von 1998 bis 2002

Die Zahl der Menschen in absoluter Armut, also jener, die ihre grundsätzlichen Ernährungsbedürfnisse nicht vollständig decken können, wuchs sogar um rund 3 Millionen, eine Steigerung von über 43 Prozent. Insgesamt sind jetzt über 6 Millionen Menschen von absoluter Armut betroffen, mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Das liegt letzten Endes an der hohen Inflation und der real gesunkenen Kaufkraft. Konkret traf die Gruppe der sehr armen Argentinier, dass Milei die seit 2013 bestehenden Precios Cuidados, staatliche Preiskontrollen auf Grundnahrungsmittel, im Laufe dieses Jahres vollständig abschaffte.

Die Preiskontrollen waren eine der sichtbarsten populistischen Maßnahmen der peronistischen Präsidentin Christina Kirchner. Sie waren gegen eine seit 2013 zunehmend außer Kontrolle geratende Inflation gerichtet, sollten diese gleichzeitig bekämpfen und den unmittelbaren Druck auf die ärmste Bevölkerung, die auch die Hauptwählerschaft der Peronisten stellte, mindern. Die Regierung traf Absprachen mit Produzenten und Supermärkten, die Höchstpreise für viele Grundprodukte, vom Brot bis zum Grillfleisch, festlegten. Die Einführung der Preiskontrollen wirkte sich umgehend entlastend auf die Verbraucherpreise aus. Danach wuchs die Inflation aber wieder weiter. Nicht zuletzt, weil die Precios Cuidados dafür sorgten, dass die Produktion vieler der geschützten Produkte einbrach. Die Maßnahmen waren deswegen stets schwer umstritten.

Schmerzhafte Reformen

Aus all diesen Zahlen liegt die Schlussfolgerung nahe, dass Mileis Reformen bisher die ärmsten Argentinier am härtesten treffen. Der Ursprung dieses Ungleichgewichts ist zwar teils ideologischer, vor allem aber struktureller Natur. Milei dreht mit seiner radikalen Abkehr vom Prinzip der Staatsausgaben nämlich ein politisches System auf den Kopf, das sich seit spätestens 2003 über immer höhere Ausgaben am Leben gehalten hatte. Nach der großen Krise 1998-2002, die für Argentinien in etwa so verheerend war wie die Weltwirtschaftskrise für Europa, machten sich die Präsidenten Nestor und Cristina Kirchner durch wirtschaftliche Zugeständnisse beliebt, die sie mit der Notenpresse bezahlten, und die vor allem an die hohe Zahl verarmter Argentinier gerichtet waren.

Wie schon zu Zeiten Juan Perons war das der soziale Vertrag in Argentinien: populistische Zuwendungen gegen die Stimmen der Armen. Bis 2016 stiegen die Staatsausgaben so auf fast 42 Prozent des BIP; bis 2023 fielen sie etwas auf 37 Prozent. Für ein Land, welches nicht zum reichen Europa gehört, derzeit einen (Bürger-)Krieg erlebt oder von staatlich kontrollierter Rohstoffextraktion lebt, ist das eine beachtlich hohe Quote. Chile und Mexiko, in Sachen BIP pro Kopf in der Umgebung Argentiniens, kommen etwa auf jeweils 26 und 28 Prozent Staatsquote. Jeder Rückbau dieses nach jeder Definition überdimensionierten Ausgabenapparates würde fast zwangsläufig die Ärmsten treffen, da sie am ehesten von den staatlichen Dienstleistungen profitieren. Milei geht hierbei jedoch besonders aggressiv vor: Er will die Staatsquote mittelfristig auf 25 Prozent senken.

… und ein beliebter Präsident

Politisch schadet Milei sein Vorgehen bisher nicht. Seine Beliebtheitswerte sind nach wie vor sehr hoch, seit Mai haben sie sich sogar verbessert und liegen jetzt je nach Umfrage zwischen 47 und 54 Prozent. Gerade für einen Präsidenten, der einer derartigen Sparpolitik und einem solchen Verfall der Lebensstandards vorsteht, ist das überaus bemerkenswert. Auch die Unzufriedenheit der Menschen mit ihm geht seit August zügig nach unten. Noch beeindruckender: Selbst die ärmsten 20 Prozent der Argentinier, welche am härtesten unter seiner aktuellen Politik leiden, blicken mit 39 Prozent Zustimmung ziemlich wohlwollend auf ihn.

Zugleich gibt es große Proteste gegen ihn, doch das ist im streitbaren Argentinien nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Im Oktober gingen über 250.000 Menschen auf die Straße, um gegen Mileis Veto eines Gesetzes zu protestieren, das Angestellten an öffentlichen Universitäten einen Inflationsausgleich zugesprochen hätte. Insgesamt erreicht der öffentliche Unmut bisher aber bei weitem noch nicht das Maß, das in einem protestgeübten Land wie Argentinien zu erwarten wäre – insbesondere, erneut, vor dem Hintergrund eines derart heftigen Verfalls bei den Lebensstandards. Präsident Fernando de la Ruá musste 2001 nach unbeliebten Wirtschaftsreformen per Helikopter vom Dach des Präsidentenpalasts fliehen; Milei würde dagegen wieder die Wahl gewinnen, würde sie morgen abgehalten werden.

Wahrscheinlich liegt der Schlüssel zu Mileis anhaltender Beliebtheit in einer gewissen Authentizität sowie seiner selbstbewussten Außenseiterrolle. Er hatte während seines populistischen Wahlkampfs mitsamt Kettensäge genau jene Entbehrungen versprochen, welche die Argentinier jetzt spüren. So bleibt er nach Ansicht vieler Menschen ehrlich und eine authentische Alternative zu einem Establishment, welches nur bei seinen härtesten Unterstützern noch Vertrauen genießt. Diese alteingesessenen Politiker rund um die jahrelang die Regierung dominierenden Peronisten bezeichnet er als “Kaste” und kann sie glaubwürdig – und an nicht wenigen Stellen wohl richtigerweise – für die Probleme im Land verantwortlich machen. Seine Radikalkur sei nach dieser Lesart lediglich die notwendige Medizin. Milei liefert so genau das, was er versprochen hatte: Härte, Entbehrung und Hoffnung für die Zukunft. 

Ein Fazit

Im Moment sieht es so aus, als könnten Mileis Reformen fruchten. Die Rezession könnte recht bald vorbei sein und 2025 durch ein kräftiges Wachstum ersetzt werden. Das Marktvertrauen und den Haushalt hat der Präsident bereits deutlich stabilisiert; bei der Inflation und den Reallöhnen zeichnet sich der richtige Trend ab. Die sozialen Kosten sind bisher gravierend, doch Milei scheint ein anhaltendes politisches Mandat dafür zu besitzen. Das betrifft alles die Wirtschaftslage im Hier und Jetzt sowie in der nahen Zukunft. Für das Argentinien der nächsten Jahrzehnte kommt es darauf an, welche Strukturreformen Milei umsetzt – seine Ley Bases. Legislativ existieren diese seit knapp einem halben Jahr, doch die Umsetzung läuft gerade noch an. Mangels signifikanter Opposition auf der Straße wird sich der weitere Erfolg dieses Reformpakets an der Wahlurne entscheiden müssen.

Im Oktober 2025 sind Zwischenwahlen angesetzt, in welchen die Hälfte des Unterhauses und ein Drittel der Senatoren neu gewählt werden. Für Mileis junge Partei La Libertad Avanza wird die Wahl zur großen Probe. Stand heute stünde ihr ein großer Sieg bevor – in kleineren Umfragen erreicht sie 39 bis 46 Prozent der Stimmen –, doch in zehn Monaten kann sich vieles ändern. Geht Milei im Kongress gestärkt heraus, kann er das Land nach seinen Vorstellungen formen. Es scheint, als wäre knapp die Hälfte der Argentinier damit einverstanden.

Zu Argentinien
Argentinien unter Milei (2024)
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Zu Südamerika
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