ATACMS, HIMARS und Co.: Die Waffen des Ukrainekriegs

Wir bringen ein wenig Licht ins Dunkel der Abkürzungen.

Artillerie | Raketen | Was ATACMS bedeuten wird

(14 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Die Ukraine wird ATACMS erhalten, Raketen mit 300 Kilometern Reichweite – eine seit langem gestellte Forderung.
  • Es handelt sich dabei um eine ballistische Rakete, welche etwa von Marschflugkörpern wie Storm Shadow und Neptune zu unterscheiden ist.
  • HIMARSMLRS und die Panzerhaubitze 2000 fallen dagegen in die Kategorie Artillerie, welche in diesem Krieg eine bemerkenswert wichtige Rolle eingenommen hat.
  • Storm Shadow, HIMARS und künftig ATACMS dienen der Ukraine dazu, die russische VersorgungLogistik und Kommandostruktur zu zerrütten, um einen wirksamen Durchbruch vorzubereiten.
  • Das ist eine wertvolle Strategie, doch der Effekt der ATACMS – und möglicherweise baldiger Taurus-Marschflugkörper aus Deutschland – dürfte marginal sein, wenn auch sicherlich nützlich.
  • Weitaus wichtiger ist die Frage: Kann der Westen der Ukraine ausreichend Munition für bestehende Waffensysteme liefern?

Artillerie_

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Da ist das Ding: Die USA liefern der Ukraine ATACMS. Lange, genauer knapp ein Jahr lang, hatten die Ukraine und ihre risikoaffinsten Unterstützer im Westen auf genau diese Zusage gewartet. Lange hatten sich die USA mit geziert. Am 22. September vollzog US-Präsident Joe Biden dann die Kehrtwende, bei Volodymyr Zelenskys Besuch in Washington. Eine “kleine Zahl” von ATACMS-Raketen sei bereits auf dem Weg.

Washingtons lange Verweigerung rührte teilweise daher, dass es befürchtete, dass die Ukraine mit der Waffe Ziele in Russland statt nur auf dem besetzten Gebiet angreifen könnte. 300 Kilometer Reichweite besitzen ATACMS, womit die Ukraine denkbar viele Ziele in ihrem Nachbarland erreichen könnte. Nur zur Einordnung: Kiew und Moskau trennen 755 Kilometer.

Womöglich wird die ATACMS-Zusage sogleich zum nächsten Erfolg führen: Deutschland sträubt sich bei der Lieferung von Raketen des Typs Taurus, mit ähnlicher Begründung wie bislang die USA und manchmal auch ausdrücklich mit Verweis auf deren Zurückhaltung. Taurus-Raketen besitzen 500 Kilometer Reichweite.

Doch worum genau handelt es sich bei all diesen Waffensystemen eigentlich? Und wie verhalten sie sich zu anderen Systemen, welche in aller Munde sind und waren: Storm Shadow, GLSDB und den hochgejubelten HIMARS? Zeit, für einen Explainer.

Gut zu wissen: ATACMS steht für “Army Tactical Missile System” und wird “Attack-ems” ausgesprochen, was auf Englisch übrigens “Greif sie an” in leicht kolloquialem Tonfall bedeutet.

Rohrartillerie und Raketenwerfer

All die Systeme, von welchen hier die Rede ist, fallen in zwei Kategorien: Artillerie und bestimmte Raketenwaffen. Beide haben das Ziel gemein, auf das Schlachtfeld aus gewisser Distanz und in zerstörerischer Intensität einzuwirken, doch im Detail unterscheiden sie sich bedeutsam.

Bei Artillerie handelt es sich um Geschütze, welche vom Boden aus Geschosse – in der Regel Artilleriegranaten – über oftmals Dutzende Kilometer feuern können. Die “klassische” Artillerie ist Rohrartillerie, also ein großkalibriges Geschütz mit langem Rohr, wie beispielsweise die deutsche Panzerhaubitze 2000. Rohrartillerie kommt noch heute großflächig zum Einsatz, denn sie ist relativ günstig und effektiv darin, gegnerische Stellungen zu zerstören oder Truppen festzusetzen. Manch Artillerie wird gezogen, andere ist motorisiert und zur eigenen Bewegung imstande. Die Beweglichkeit ist nützlich, denn Artillerie ist ein wichtiges Ziel für feindlichen Beschuss. Deswegen kommt sie seit dem frühen 20. Jahrhundert auch nicht mehr in Sichtweite ihres Ziels (und damit eben auch für das Ziel sichtbar) zum Einsatz. Stattdessen bleibt sie in einigem Abstand von der Frontlinie, in schützender Deckung. Der Beschuss des nicht sichtbaren Ziels erfolgt durch menschliche “Artilleriebeobachter” oder technologische Lösungen wie Computersoftware, Radare und Drohnen.

Eine modernere Art der Artillerie ist die Raketenartillerie. Bei ihr handelt es sich um Geschütze, welche eine oder mehrere Raketen abfeuern können (in zweiterem Fall handelt es sich um einen Mehrfachraketenwerfer). Der Unterschied zwischen Raketen und “normalen” Artilleriegeschossen ist, dass zweitere einfach nur ballistisch aufs Ziel zufliegen, wohingegen Raketen einen eigenen Antrieb besitzen und weitere Distanzen erreichen können.

Beide Arten von Artillerie haben ihren Nutzen auf dem Schlachtfeld, eine klare Hierarchie gibt es nicht. Raketenartillerie kann sehr viele Raketen auf einmal verschießen, also einen plötzlichen, vernichtenden Schlag auf eine Stellung durchführen. Rohrartillerie hat dafür eine weitaus höhere Schussfrequenz und muss seltener nachgeladen werden, sie kann eine Stellung also konstanter unter Beschuss nehmen und die Bewegung feindlicher Truppen stoppen. Raketenartillerie ist meist mobiler, was sie vor Vergeltungsschlägen schützt. Dafür ist Rohrartillerie mitsamt ihrer Munition allerdings auch deutlich günstiger und einfacher zu produzieren.

Die Artillerie ist zurück

Im Ukrainekrieg kommt der Artillerie eine kaum zu überschätzende Rolle zu. Das war für viele Beobachter überraschend, immerhin schien die Zeit der Artillerie mit dem Aufstieg immer raffinierterer Kampfflugzeuge, Lenkraketen, Drohnen und robusterer sowie mobilerer Panzer der Vergangenheit anzugehören: Zu einfach wäre Artillerie zu neutralisieren, zu wenig könnte sie den mechanisierten Offensiven der Neuzeit entgegenstellen. Doch in seiner Donbass-Offensive im Frühjahr und Sommer 2022 ließ Russland den Ersten Weltkrieg wieder aufleben: Mit heftigem Artilleriebeschuss drängte es die ukrainischen Verteidiger Tag für Tag zurück und zerstörte einfach sämtliche Gebäude, in welchen sich Verteidiger verschanzt hatten. Nachdem sich diese zurückgezogen hatten, rückte die Infanterie nach und besetzte die geräumten Ruinen. So eroberte Russland etwa die Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, doch auch Bakhmut, einige Monate später.

Die Ukraine setzte früh auf Artillerie, um vorrückende russische Truppen zu stoppen oder russisches Artilleriefeuer zu erwidern. Bei ihrer Gegenoffensive in Cherson nutzte sie Artillerie erstmals offensiv. Russland hatte sich in dieser Region (und zwar nur dort) auf der rechten, sprich westlichen, Seite des Flusses Dnjepr festgesetzt; strategisch hochrelevant. Das bedeutete für Russland allerdings auch eine relativ anfällige Logistik, da der “Brückenkopf” klein war und sämtliche Versorgung über wenige Brücken laufen musste. Die Ukraine zerstörte diese Brücken mit ihrer Artillerie und beschoss gezielt Munitionslager, Kommandozentren und schwimmende “Pontonbrücken”, bis die russischen Truppen auf der rechten Dnjepr-Seite in kritischem Maße “ausgehungert” waren. Russland erkannte die Gefahr eines Komplettzusammenbruchs und ordnete im November 2022 vorbeugend den Rückzug von Soldaten und Material auf das andere Ufer an.

All Hail the HIMARS

Wenn in der Cherson-Offensive ein Held geboren wurde, so war es HIMARS. Das “M142 High Mobility Artillery Rocket System” (HIMARS) ist ein Mehrfachraketenwerfer aus den USA, welchen die Ukraine erstmals ab Juni 2022 erhielt. Was ihn auszeichnet, ist eine starke Reichweite von rund 70 bis 80 Kilometern, hohe Präzision, hohe Mobilität und niedriges Gewicht samt geringer logistischer Anforderungen. Dank der Reichweite konnte die russische Artillerie das Feuer der HIMARS oft nicht erwidern. Gelang das doch mal, oder setzte Russland etwa Marschflugkörper des Typs Kalibr ein, so profitierten die HIMARS von ihrer hohen Mobilität dank eines Lastwagenfahrgestells (anstelle eines schwereren Kettengestells): Sie fuhren nach dem Beschuss einfach schnell weg; der Gegenbeschuss landete im Nirgendwo. Das heißt im Fachsprech “shoot and scoot“, also “Schießen und Abhauen”. Schießen tut HIMARS dabei sechs Raketen vom Typ GMLRS, doch theoretisch passt auch eine ATACMS-Rakete hinein – nur hatte die Ukraine bislang eben keine.

Gut zu wissen: Auch die Bundesregierung hat Mehrfachraketenwerfer entsandt, nämlich das Mittlere Artillerieraketensystem (MARS), welches einem US-System namens MLRS entspricht. HIMARS ist eine Verbesserung des MLRS.

M142 HIMARS. Quelle: Department of Defense, rawpixel

Die hohe Präzision, Distanz und Schlagkraft der HIMARS bedeutete, dass sie effektiv für den Beschuss strategisch wichtiger Stellungen hinter der vordersten Front eingesetzt werden konntenKommandozentren, Munitionsdepots, Infrastruktur. Es waren die HIMARS-Systeme, welche erst die Zugänge zum besetzten Cherson zerstörten und dann die feindliche Logistik im “Brückenkopf” zerrieben. HIMARS vernichteten allein bis November 2022 Zehntausende Artilleriegeschosse und 20 Millionen Stück Munition für Kleinwaffen. Ukrainische Offiziere schätzen, dass 70 Prozent der Vormärsche in Cherson dank des Raketenwerfers gelangen. So sehr einige Beobachter über die Idee von HIMARS als “Wunderwaffe” den Kopf schüttelten, war das System doch zweifellos ein “game changer” für diese konkrete Offensive, aus welcher die Ukraine siegreich hervorging.

Jene Strategie, welche die Ukraine in Cherson einsetzte, nutzt sie jetzt in ihrer Sommer- und Herbstoffensive 2023. Sie versucht den Gegner abzunutzen und seine Logistik sowie Kommando- und Kommunikationsstruktur zu zerrütten, bevor sie die Verteidigungsstellungen durchbricht und Territorialgewinne verbucht. Die Aufgabe ist ungemein größer, denn diesmal hat Russland keinen Fluss im Rücken und die Logistik läuft nicht ausschließlich über einige Brücken. Dazu kommt, dass Russland aus den vergangenen Monaten gelernt hat und seine Kommandozentren und Munitionsdepots weiter ins Hinterland abgezogen hat – außerhalb von HIMARS-Reichweite. Außerdem gelingt es den Invasoren immer besser, das Zielsystem der Raketenwerfer zu stören und damit ihre Präzision zu verringern. Was also tun? Die Ukraine hat noch eine andere Waffengattung zur Hand.

Raketen_

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Marschflugkörper (TacTom) und Kampfjet. Quelle: U.S. Navy, wikimedia

Ballistische Raketen und Marschflugkörper

Neben Artillerie eignen sich auch Raketenwaffen für die Abreibung des Gegners. Eine Rakete ist in erster Linie einfach ein Flugkörper mit Rückstoßantrieb und Treibsatz, welcher mit einem Sprengsatz ausgestattet sein kann. Einige Raketen funktionieren wie “klassische” Artilleriegeschosse, indem sie einfach in einer ballistischen Bahn vom Abschuss- bis zum Zielort fliegen, also durch Eigenbeschleunigung und Schwerkraft. Abgefeuert werden sie jedoch meist nicht von einem Geschütz, sondern durch einen Treibsatz von einer speziellen Abschussvorrichtung; ein eigener Antrieb bringt sie auf Flugbahn. Das nennt sich ballistische Rakete.

Sogenannte Marschflugkörper oder Lenkraketen (cruise missiles) sind moderner. Sie können dauerhaft aktiv auf ihren Flug einwirken, ihn beispielsweise verzögern oder beschleunigen, das Ziel, die Richtung oder die Flughöhe ändern. In jedem Fall haben Raketen fast immer eine größere Reichweite als Artilleriegeschosse. Im Englischen ist die Differenzierung übrigens besonders simpel: Die moderneren, lenkfähigen Raketen sind “missiles“, alles andere “rockets“.

Gut zu wissen: An dieser Stelle sei eingeräumt, dass die Trennung zu Artillerie nicht ganz sauber ist. Manch Artillerie feuert eben doch Raketen als Geschoss ab, vor allem, nun ja, die oben vorgestellte Raketenartillerie. Doch wenn es um die Nomenklatur von Militärsystemen geht, führt an ein bisschen Verwirrung meist kein Weg vorbei. Wir erlauben uns außerdem im Folgenden der Einfachheit halber “Marschflugkörper” gelegentlich als Raketen zu bezeichnen.

Raketen werden nicht nur in ballistische Raketen und Marschflugkörper unterteilt, sondern auch in ihre Einsatzform und Reichweite. Boden-Boden-Raketen werden am Boden abgefeuert und gegen Ziele am Boden eingesetzt, was auch die See umschließt. Luft-Boden-Raketen werden von einem Flugzeug abgefeuert. Luft-Luft-Raketen kommen, kaum überraschend, im Luftkampf zum Einsatz.

Bei der Reichweite wird zwischen Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen unterschieden. Kurzstreckenraketen (shorter-range ballistic missile, SRBM) haben eine Reichweite von 150 bis 800 Kilometern. Mittelstreckenraketen (noch einmal unterteilt in sogenannte MRBMs und IRBMs) kommen auf 800 bis 5.500 Kilometer. Die populär recht guten bekannten Interkontinentalraketen (IBCMs) besitzen mehr als 5.500 Kilometer Reichweite und dienen fast ausschließlich zum Transport von Nuklearsprengköpfen. Da diese für sämtliche menschliche Kriege bislang irrelevant waren, sind Kurzstreckenraketen oder “kleinere” Mittelstreckenraketen im “Alltag” relevanter und werden unter “Theater ballistic missiles” (TBM) zusammengefasst, also grob übersetzt: “Raketen für den Kriegsschauplatz”. Für diesen Explainer ist allerdings vor allem eine andere Subkategorie interessant: In den Kurzstreckenraketen verstecken sich die “Tactical Ballistic Missiles” (kaum hilfreich ebenfalls TBM abgekürzt; auf Deutsch “Gefechtsfeld-Kurzstreckenraketen”). Sie haben eine Reichweite von unter 300 Kilometern. Damit genügen sie für die allermeisten Schlachtfeldanwendungen. Da sie zugleich weitaus günstiger sind als längere Kurz- oder Mittelstreckenraketen, sind sie das Mittel der Wahl für den “Masseneinsatz”.

Storm Shadow

Im Ukrainekrieg sind eine Reihe von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern zum Einsatz gekommen. Auf ukrainischer Seite waren es mindestens 15 unterschiedliche. Der prominenteste dürfte der Marschflugkörper “Storm Shadow” sein, von Großbritannien und Frankreich entwickelt sowie seit Mai 2023 geliefert (in Frankreich heißt er “SCALP-EG”). Die übergebene Variante von Storm Shadow besitzt eine Reichweite von 250 Kilometern, Tarnkappentechnik und ein Turbojet-Triebwerk. Es kann nicht nur den Zielanflug intelligent justieren, sondern verifiziert sein Ziel auch noch per Infrarotsensor, bevor eine Doppelsprengladung wirkt: Erst sprengt die Lenkrakete per Hohlladung ein Loch in die Panzerung des Ziels, dann folgt die zerstörerische Hauptladung.

Storm Shadow ist für den Einsatz gegen statische, gut geschützte, wertvolle Ziele gedacht: Kommandozentren, Munitionslager, Flugplätze, Häfen, Brücken, Straßen, Kraftwerke oder Schiffe. Genau so setzt die Ukraine den Marschflugkörper ein. Sie bombardierte damit etwa einen Industriepark im besetzten Luhansk, tötete einen russischen Generalmajor in Saporischschja und beschädigte eine wichtige Brücke zur Krim. Anfang September 2023 beschädigte die Ukraine mittels Storm Shadow ein U-Boot und ein Landungsschiff im Hafen von Sewastopol auf der Krim. Als Zeichen dafür, wie schwierig es ist, den Marschflugkörper abzuwehren, folgte nur neun Tage später – also an diesem Freitag – ein Schlag gegen das Marinehauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte im selbigen Sewastopol. Zu diesem Zeitpunkt waren mutmaßlich mehrere hochrangige Generäle in dem Gebäude.

Storm Shadow-Rakete kurz vor dem (zweiten) Einschlag im russischen Marinehauptquartier im besetzten
Sewastopol, Krim; September 2023. Quelle: Illia Ponomarenko, X

Eine andere spannende ukrainische Rakete ist die eigens entwickelte “Neptune”, eigentlich ein Anti-Schiff-Marschflugkörper, welchen Kiew aber auch gegen Landziele eingesetzt hat. Sie hat mutmaßlich 400 Kilometer Reichweite, doch existiert allem Anschein nach nur in sehr geringer Stückzahl. Ihr Einfluss im Krieg war bislang eher gering – abgesehen von der erfolgreichen Versenkung des russischen Flaggschiffs Moskwa im April 2022 und der Zerstörung eines wertvollen S-400-Luftabwehrsystems im August 2023.

Gut zu wissen: Auf russischer Seite ist das prominenteste eingesetzte Raketensystem das 9K720 Iskander, welches hauptsächlich für SRBMs, also Kurzstreckenraketen, zum Einsatz kommt, doch in bestimmten Konfigurationen auch Marschflugkörper abfeuern kann. Die wichtigsten russischen Marschflugkörper sind die Kalibr-Raketen, welche im gesamten Krieg zum Einsatz kamen, von der Eröffnungssalve am 24. Februar bis heute. Die Kinschal gilt derweil als hochmoderne ballistische Luft-Boden-Rakete, welche in Überschallgeschwindigkeit fliegt und womöglich bis zu 2.000 Kilometer Reichweite hat. Trotz einiger bestätigter Einsätze im Ukrainekrieg – laut ukrainischen Angaben gegen die Zivilbevölkerung, laut Russland gegen Munitionslager und Luftabwehrsysteme – bleibt die Kinschal noch relativ unbekannt.

Was ATACMS bedeuten wird_

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Was ATACMS verändern kann…

Bei ATACMS handelt es sich um TBMs, also Tactical Ballistic Missiles. Die Reichweite von ATACMS beträgt genau 300 Kilometer, womit sie zu den reichweitenstärksten TBMs gehören (daher werden sie medial gelegentlich unpräzise als “Langstreckenraketen” bezeichnet). Abgefeuert werden sie beispielsweise von HIMARS oder MLRS, also den bereits erwähnten Raketenwerfern.

Die Vorteile von ATACMS für die Ukraine sind tatsächlich relativ simpel: Sie erhält mehr Raketen für ihr vermutlich knappes Repertoire und kann damit ein wenig breiter attackieren, statt nur die allerwertvollsten Ziele wählen zu müssen. Und sie weitet mit den 300 Kilometern die Reichweite aus, auf welcher sie zuschlagen kann, nämlich auf sämtliches besetztes Gebiet. Das spielt eine Rolle, da Russland als Reaktion auf HIMARS und später Storm Shadow viele seiner Munitionsdepots und Kommandozentren in eine sichere(re) Distanz verschoben hatte. Mit ATACMS werden davon einige wieder erreichbar. Je weiter Russland seine Logistik- und Kommandoknotenpunkte von der Front entfernen muss, umso geringer ist ihre Effektivität. Zugleich ist ATACMS mit einer Spitzengeschwindigkeit von 3.700 Kilometern pro Stunde und steiler Flugkurve schwierig abzufangen. Und während Storm Shadows als Luft-Boden-Raketen von einem Kampfjet abgefeuert werden müssen und damit von den Witterungsbedingungen sowie den Kapazitäten der ukrainischen Luftwaffe abhängig sind, ist ATACMS als Boden-Boden-Rakete davon völlig unabhängig.

Die Version, welche die Ukraine erhält, besitzt offenbar zahlreiche “Bomblets” anstelle eines einzigen Sprengkopfs. Das heißt, dass die Rakete nicht unähnlich zu Streumunition ein relativ weites Gebiet zerstören kann. Menschenrechtler kritisieren, dass nicht detonierte Bomblets noch jahrzehntelang eine Gefahr für Zivilisten darstellen können. Rein militärisch haben Streumunition und Bomblets allerdings den Vorteil, dass sie sich gut für die Neutralisierung von weitflächigen Logistik- und Kommandozentren, befestigten Stellungen oder Luftabwehrsystemen (welche meist aus mehreren verteilten Elementen bestehen) eignen. Die ATACMS mit einem einzelnen Gefechtskopf, welche Washington womöglich auch noch liefert, sind derweil durchschlagskräftiger und könnten zum Beispiel gegen die Kertsch-Brücke auf die Krim zum Einsatz kommen.

Gut zu wissen: Eine vollwertige Zerstörung der Kertsch-Brücke ist nahezu ausgeschlossen. Selbst moderne Raketen besitzen dafür nicht die benötigte Sprengkraft. Es bräuchte schon einen Atomschlag, um die Brücke zu zerstören, so ein ukrainischer Analyst gegenüber Kyiv Independent.

… und was es nicht verändern kann

Das Potenzial der ATACMS ist allerdings limitiert. Die Ukraine dürfte anfangs nur eine kleine Zahl der äußerst teuren ballistischen Raketen erhalten, womit sie sie nur selektiv einsetzen kann. Die Ziele sind außerdem nicht mehr so zahlreich wie früher, denn Russland hat seine Munitionslager nicht nur weiter ins Hinterland verschoben, sondern auch dezentralisiert, stapelt die Munition also nicht mehr brav an einem Ort. Zudem ist Russland besser darin geworden, seine Munitionslager zu verstecken und seine Logistik zu diversifizieren. Wenn HIMARS den sarkastischen Titel als “Wunderwaffe” zumindest in der Cherson-Offensive noch beeindruckend ernstzunehmend ausgefüllt hatte, so wird ATACMS nicht dieselbe Wirkung entfalten. Es wird weder die Gegenoffensive noch den Krieg entscheiden. Die Rakete könnte allerdings für den ein oder anderen eindrucksvollen Schlag sorgen, während die Infanterie sich an der vordersten Front den Weg durch Minenfelder und russische Verteidigungsstellungen bahnt.

Eine ganz ähnliche Abwägung gilt für andere Systeme, welche die Ukraine erwartet oder noch erwarten könnte. Der deutsche Luft-Boden-Marschflugkörper “Taurus” hat knapp 500 Kilometer Reichweite, würde die strategischen Optionen der Ukraine also kräftig ausweiten. Die Bundesregierung sperrt sich bislang gegen eine Lieferung – vor allem Kanzler Olaf Scholz und dessen SPD, während Grüne und FDP sie befürworten -, doch könnte ihre Verweigerung nach Washingtons ATACMS-Wende aufgeben. Ähnlich lief es schließlich bereits bei der Lieferung von Kampfpanzern, wo Berlin ebenfalls erst eine Lieferzusage aus Washington abwartete. Die amerikanische “Ground Launched Small Diameter Bomb” (GLSDB) ist derweil relativ günstig und äußerst präzise, mit immerhin 150 Kilometern Reichweite. Sie soll irgendwann in den kommenden Monaten an die Ukraine gehen. Weder Taurus noch GLSDB würden den Krieg entscheiden, doch sie würden Kiew fraglos stärken.

Die wahre Wunderwaffe

Der womöglich größere Effekt der ATACMS-Zusage ist seine Symbolik. Denn die Ukraine hat jetzt im Grunde alles zugesagt bekommen, wonach sie gefragt hatte. Die “Aufrüstungsspirale” des Westens ist vollendet: Was mit Stingers, Panzerfäusten und Javelins begann – kleines Material, um einen materiell überlegenen Gegner zu bremsen – steigerte sich zu Artillerie, Schützenpanzern, Kampfpanzern, Marschflugkörpern, (noch nicht gelieferten) Kampfjets und endet nun mit ATACMS.

Theoretisch verabschiedet sich der Westen damit von einer “Fessel”, welche er sich seit Beginn des Krieges argumentativ selbst auferlegt hatte: Die Angst, dass eine zu aktive Unterstützung der Ukraine zu einer direkten Konfrontation mit Russland führen könnte. Sowohl seitens Washingtons als auch Berlins war das ein offizieller Grund, warum Lieferungen vermieden oder verzögert wurden (dazu kamen Zweifel an der militärischen Notwendigkeit und Sorgen über die eigenen Bestände). Passend dazu verlangten beide von Kiew das Versprechen, die westlichen Waffensysteme nicht gegen Ziele in Russland einzusetzen. Die USA modifizierten gar insgeheim ihre gelieferten Mehrfachraketenwerfer, damit sie keine ATACMS mehr abfeuern konnten, sollte Kiew diese auf irgendeinem Wege erlangen – jetzt wird diese Modifikation rückgängig gemacht werden müssen.

Für die Ukraine und ihre Unterstützer wird es jetzt weniger darum gehen, neue Waffensysteme anzufordern, als mehr Munition für die bestehenden. Das ist weniger aufregend als ballistische Raketen oder Marschflugkörper mit Hunderten Kilometern Reichweite, doch letzten Endes ist das die tatsächliche kriegsentscheidende Wunderwaffe: Die Ausdauer, den Krieg zu führen, als Funktion der Munitionsverfügbarkeit. Für Europa und die USA wird das Hochskalieren der eigenen Munitionsproduktion eine gewichtige Herausforderung, doch eine, welche es anzunehmen gilt.

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