Viele Gefahren trennen Peking und sein Jahrhundertziel. Eine Analyse.
Zu wenig Wachstum | Zu hohe Schulden | Riskante Interventionen | Die Jugend wütet
(13 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)
- Chinas hatte nach dem Ende von Zero Covid auf fulminantes Wachstum gehofft, doch Daten der letzten Monate fielen mäßig aus.
- Die Industrie schwächelt, die Verbraucher sind unsicher, die Inflation zu niedrig.
- Staat und Zentralbank halten dagegen, doch ein schwacher Immobiliensektor und hohe öffentliche Verschuldung beschränken die Munition und schaffen ganz eigene Probleme.
- Chinas heftige Regulierungswelle in den letzten zwei Jahren und der Streit mit dem Westen helfen der Stimmung in der Wirtschaft (und den Auslandsinvestitionen) nicht.
- Die Jugend ist frustriert und klagt über mangelnde Perspektiven; Arbeitslosigkeitsdaten unterstreichen das.
- China bleibt wirtschaftlich stark, innovativ und hochdynamisch – doch die Herausforderungen sind real, langfristig relevant und werden die Stabilität der Kommunistischen Partei bedingen.
Zu wenig Wachstum_
(3,5 Minuten Lesezeit)
Wenn du lange genug am Fluss wartest, siehst du die Leichen deiner Gegner vorbeitreiben. So angeblich ein Zitat des chinesischen Generals Sun Tzu, mit welchem dieser in Wahrheit nichts zu tun gehabt haben dürfte und welches sich offenbar zuerst auf einen britischen Roman aus dem Jahr 1975 zurückverfolgen lässt. Ungeachtet der fraglichen Historizität hat China Angst, zur metaphorischen Leiche im Fluss zu geraten. Denn so sehr es auch wirtschaftliches power house bleibt, so ist doch nicht völlig klar, ob es sein Jahrhundertziel erreichen kann, bis 2049 ein vollends entwickelter Staat zu sein.
In einem ersten Explainer zu Chinas Wirtschaft im Juni 2021 hatten wir drei große Risikofaktoren analysiert: Chinas abnehmendes Wachstum, die hohe Überschuldung (wir konzentrierten uns auf den Immobilienmarkt) und die ungünstige Demografie mitsamt langsamem Produktivitätswachstum. In den zwei Jahren seitdem ist einiges hinzugekommen. Zeit, einige Risiken zu updaten und neue aufzuzeigen.
Gut zu wissen: Dieser Explainer wird die Lage am Immobilienmarkt und den demografischen Wandel nur am Rande behandeln. Unser Explainer aus Juni 2021 steigt tiefer ein.
Die Zahlen stottern
Zuerst einmal ein Blick auf den Status Quo. China war nach zwei Jahren radikaler Zero-Covid-Politik in das Dilemma geraten, dass konstante Lockdowns die Produktion, die Konsumstimmung und das Wachstum belasteten. Also wählte die Regierung im Dezember 2022 den Ausweg per Brechstange und gab Zero Covid quasi über Nacht auf. Nach einer “Übergangsphase” aus Durchseuchung, welche 1 bis 1,5 Millionen Menschen das Leben gekostet haben dürfte, schien China wieder auf Kurs zu sein, wirtschaftlich an Kraft zu gewinnen.
Seitdem sind die Ergebnisse allerdings… durchmischt. Chinas BIP-Wachstum im ersten Quartal 2023 fiel mit 4,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr und 2,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal noch ordentlich aus, schlug gar die Erwartungen. Die Konsumausgaben schienen kräftig zu steigen, da die Chinesen post-Zero Covid wieder reisen und einkaufen gingen. Doch all die robusten Zahlen bezogen sich auf äußerst schwachen Basiswerte vom Vorjahr. Und seit einigen Monaten häufen sich auch noch die Warnmeldungen. Die Industrieproduktion, die Einzelhandelsumsätze und die Investitionen enttäuschten im Frühjahr allesamt die Erwartungen. Die Industrieprofite brachen im März und April gar um jeweils 19,2 und 18,2 Prozent ein. Offizielle Einkaufsmanagerindizes (Purchasing Manager Indices, PMIs) deuten an (€), dass der chinesische Dienstleistungssektor seit einigen Monaten immer langsamer wächst und das verarbeitende Gewerbe seit April schrumpft. Nach einer anfänglichen “Covid-Befreiungs-Euphorie” sind Verbraucher- und Firmenstimmung wieder verhalten und die internationale Güternachfrage bleibt reduziert. China wird zum Sorgenkind: Die Großbanken Barclays, HSBC und Citigroup läuten die Alarmglocken und reduzieren ihre Wachstumsprognosen; Analysehaus Oxford Economics spricht davon, dass die Wirtschaft “gegen die Große Mauer” fahre.
Die Deflation ist immer auf der anderen Seite grüner
Die PMIs führen eine weitere Warnung mit sich: Die Preise in der Industrie scheinen zu sinken. Firmen zahlen weniger für ihre Vorgüter und verlangen weniger für ihre verarbeiteten Produkte. Was in den westlichen Industriestaaten Stand 2023 nahezu erstrebenswert klänge, ist in China kein gutes Zeichen: Die Inflation war nie sonderlich hoch, sondern liegt mit knapp 2 Prozent eher etwas zu niedrig. Ein hohes Wachstum geht in der Regel mit höherer Inflation einher, im Umkehrschluss deutet eine niedrige Inflation also an, dass das Wachstum womöglich nicht allzu hoch ausfällt – oder lädt Zweifel (€) an den offiziellen BIP-Zahlen ein.
Gut zu wissen: Einkaufsmanagerindizes (PMI) sind beliebte Metriken für die Gesundheit einer Branche oder eines Sektors, da Firmen mit positiver Dynamik in der Regel mehr einkaufen. Für die Ermittlung des PMI werden Einkaufsmanager unter anderem zu Aufträgen, Inventar, Produktion und Lieferungen befragt. Ein Indexwert zwischen 50 und 100 deutet Wachstum an, darunter eine Schrumpfung. Mehr
Ein Rückgang der Preise klingt wiederum nach schwacher Nachfrage und könnte eine gefährliche Deflationsspirale auslösen: Niedrigere Preise bedeuten sinkende Profite für Unternehmen, welche Druck verspüren, ihre Personalkosten zu streichen und Investitionen zu verschieben. Erwarten Kunden sinkende Preise, verschieben sie ihre Einkäufe, was den Nachfragedruck auf die Hersteller nur noch weiter verschärft – ein Teufelskreis. An dessen Ende stehen nicht nur leidende Firmen und zu wenige Investitionen, sondern auch wütende Mitarbeiter: Allein bis Ende Mai gab es in China dreimal so viele Fabrikstreiks wie im gesamten Vorjahr, und das sind nur jene, welche das China Labour Bulletin (CLB) in Hongkong definitiv zählen konnte. Der häufigste Grund ist, dass Firmen Gehälter zu spät oder überhaupt nicht auszahlen – eine Folge der schwierigeren Marktlage.
Zu hohe Schulden_
(2,5 Minuten Lesezeit)

Die Geldkoffer öffnen?
Die chinesische Regierung versteht die Probleme durchaus, sie kommen auch nicht überraschend. Das Wachstumsziel von 5 Prozent für 2023 war in Anbetracht des schwachen Vorjahres, auf welches sich der Prozentwert bezieht, nie ein Zeichen großen Selbstvertrauens. Auf die jüngsten Warnsignale reagiert die Zentralbank mit einer unerwarteten Leitzinssenkung, der ersten seit zehn Monaten. Sie versucht also, die Kreditvergabe mittels niedrigerer Zinsen anzukurbeln, und damit Investitionen, Konsum und dem Wachstum allgemein einen Schub zu verpassen. Analysten hatten lediglich eine Senkung der Einlagepflicht erwartet, womit kommerzielle Banken also weniger Sicherheitspuffer bei der Zentralbank hätten lagern müssen und mehr Geld zum Verleihen übrig hätten, doch die Notenbank setzt gleich auf den wirkungsvollsten Hebel. Während die Zentralbanker im Westen die Zinsen anheben, um die Wirtschaft und die Inflation herabzukühlen, geht China den umgekehrten Weg: Niedrigere Zinsen, da Wirtschaft und Inflation zu niedrig ausfallen. Weitere Manöver hin zu einer lockeren Geldpolitik (sprich, günstiges Geld für die Wirtschaft) und expansiven Fiskalpolitik (sprich, viele Ausgaben des Staates) dürften in den kommenden Wochen folgen.
Die Medizin hat allerdings Nebenwirkungen. Niedrigere Zinsen werden die Profite der Banken drücken. Diese stehen ohnehin bereits unter Druck. Erstens, weil die schwächelnde Wirtschaft weniger Bedarf für Kredite oder Beratung bei Firmentransaktionen sowie einen lethargischen Aktienmarkt bedeutet; zweitens, weil Chinas Immobiliensektor nach wie vor leidet und die Banken mitzieht.
Gut zu wissen: Die Krise an Chinas Immobilienmarkt bleibt ungelöst. Branchengigant Evergrande ging Ende 2021 bankrott und kämpft nach wie vor um die möglichst sanfte Restrukturierung seines 300 Milliarden USD hohen Schuldenbergs. Weitere Immobilienfirmen geraten ins Wanken. Der Markt für neue Haus- und Wohnungsverkäufe liegt unter dem Niveau von 2019 und könnte noch auf Jahre schwach bleiben, so beispielsweise die Einschätzung von Goldman Sachs.

Chinas Städten geht das Geld aus
Höhere Ausgaben des Staates drohen derweil, eine Schuldenkrise auf lokaler Ebene zu verschärfen, welche es schon jetzt ins internationale Rampenlicht geschafft hat. Seitdem 2021 die nordöstliche Kohlestadt Hegang als erste Stadt Chinas in eine Restrukturierung gehen musste – sprich, zu nah an den Bankrott gerückt war – fallen immer mehr Städte mit Schuldenproblemen auf. Von relativ unbekannten Städten wie Shangqiu (wo die 7,7 Millionen Einwohner ihr Bussystem aufgeben mussten) und Lanzhou (dessen Zinszahlungen entsprachen 2021 74 Prozent der Stadteinnahmen) bis hin zu prominenten wie Wuhan sowie Guangzhou (in beiden führten vorgeschlagene Rentenstreichungen zu Straßenprotesten) und sogar Shanghai (Beamte mussten offenbar Gehaltskürzungen hinnehmen). Zwei Drittel aller Städte und Provinzen haben Schuldenquoten von über 120 Prozent, einige, darunter die Provinz Guizhou im Südwesten, mussten bereits die Zentralregierung um Rettung bitten.
Die Schuldenprobleme sind kein Wunder, wurden doch seit Jahrzehnten hohe Wachstumsraten von Peking zum Maßstab für politischen Erfolg gemacht. Geldausgeben war für die Provinzen und Städte ein einfach umsetzbarer Weg, das Ziel zu erreichen. Dass die Behörden jetzt dazu aufrufen, die Verschuldung zu senken, ist dagegen weitaus komplizierter umzusetzen.
Das Problem ist nicht unbedingt, dass eine katastrophale Massenpleite drohe, denn diese ist unwahrscheinlich. Das drängendere Problem ist, dass die Schuldenlage Peking und die Lokalregierungen darin einschränkt, wie viel fiskalische Anstoßhilfe sie der Wirtschaft bieten können. Im Gegenteil: Je weniger Raum die Städte und Regionen für Investitionen besitzen, auch durch die staatliche Anweisung zur Entschuldung bedingt, umso geringer wird das Wachstum ausfallen.
Riskante Interventionen_
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Die staatlichen Interventionen mögen dem Wachstum nicht unbedingt so helfen, wie die Behörden es sich erhoffen, doch sie sind zumindest sinnvolle Ansätze. Auf zwei andere Weisen bewegt sich die Kommunistische Partei allerdings auf sehr dünnem Boden.
Den Sozialismus in den Kapitalismus bringen
Erstens: So wie Präsident Xi Jinping sich die chinesische Politik untergeordnet hat, so verfährt er auch mit der Wirtschaft, insbesondere ihren selbstbewussten Techgiganten. Seine Regierung regulierte die Wirtschaft zeitweise dermaßen radikal, dass sie im Grunde an dem gesellschaftlichen Kontrakt rüttelte, welcher seit der Marktliberalisierung unter Deng Xiaoping ab 1979 Einzug gefunden hatte. Es begann mit dem plötzlichen Verschwinden des Techmagnaten Jack Ma, Gründer des Amazon-Pendants Alibaba, im November 2020. Zuvor hatte dieser öffentlich über die Behörden hergezogen. Peking stoppte Alibabas Mega-Börsengang (genauer der Finanzsparte Ant Financial), startete Untersuchungen gegen Techkonzerne wie Tencent, Meituan und Baidu, ordnete Zwangsaufspaltungen an, stoppte Börsengänge im Ausland und verteilte Rekordstrafen. Einiges davon ließ sich als Schritt in Richtung soziale Marktwirtschaft werten, anderes wirkte wie Vendetta. Der Techsektor war verschreckt und verlor innerhalb weniger Monate 1 Billion (!) USD Marktwert. Dabei kam er noch glimpflich davon: Den privaten Bildungssektor, also rund um kommerzielle Nachhilfe- oder Lerndienste, verbot Xi Jinping kurzerhand vollständig. Die Firmen durften nur noch als Non-Profits existieren; die wenigen Überlebenden der Branche kombinieren nicht-monetarisierte Bildungsdienstleistungen mit E-Commerce.
Inzwischen hat die Regierung anscheinend etwas eingelenkt. Der Regulierungssturm gegen die Techbranche hat abgeklungen, Jack Ma tauchte wieder auf und durfte öffentlich auftreten und die Behörden versuchen wieder Stabilität und Offenheit für Investitionen zu signalisieren. In der Unternehmenswelt verfängt sich das nur bedingt, denn ihr wurde zu klar gemacht, wie sehr sich die Kommunistische Partei einzumischen bereit ist. Investitionen bleiben zurückhaltend, der Techsektor tritt vorsichtig auf, mehr als Zehntausend Millionäre verlassen das Land jährlich und Jack Ma übt seine neue Professorenstelle lieber in Japan aus.
Gut zu wissen: Wozu aufhören, wenn es so viel Spaß macht? Mitte Februar war der prominente Banker Bao Fan plötzlich verschwunden, bevor er Wochen später im Gewahrsam der Behörden wieder auftauchte und, so seine Firma, eine nicht näher erklärte “Untersuchung” unterstützen würde. Bao gilt als wichtiger Player in der Finanzierung des chinesischen Techsektors. Für diesen ist die Quasi-Entführung eines Szenekopfs ein Déjà-vu.
Der teure Machtkampf
Zweitens: Chinas geopolitischer Konflikt mit dem Westen wirkt sich längst auf die Wirtschaft aus. Exporte in die USA von Gütern, auf welche Washington 2018 einen Strafzoll verhängt hatte, liegen 20 Prozent unter ihrem Niveau aus 2017. Sanktionen erschweren den Import von Hochtechnologiegütern, etwa für die Chipbranche, in welcher China technologisch hinterherhängt. Der heftig sanktionierte Techkonzern Huawei war einst Beinahe-Marktführer im Smartphone-Markt und läuft heute mit circa 4 Prozent Marktanteil nur noch unter Ferner Liefen. Kommentare, dass ein oft beschworenes “Decoupling” (Entkopplung) zwischen China und den USA reines Gerede (€) sei, verfehlen meist den springenden Punkt: Die reinen bilateralen Handelsvolumina bleiben zwar hoch, doch in kritischen Sektoren wie Technologie und Standards geht es regelrecht rasant auseinander.
Kein Wunder, denn die Kombination aus heißer Geopolitik und regulatorischer Unsicherheit treibt gerade ausländische Firmen und Investoren um. Sie wissen nicht, welchen Regeln sie in China morgen unterworfen sind, wie stabil ihre Lieferketten sein werden und wie viel Druck ihre heimischen Regierungen auf sie ausüben werden. Also gehen einige lieber auf Nummer sicher und “decouplen” freiwillig. Anekdotisch gibt es bereits viele Berichte von Firmen, welche Operationen oder Investitionen aus China abziehen, darunter Apple und Siemens. Das sind jahrelange und mitunter unterschwellige Prozesse, doch sie sind real.
Die Jugend wütet_
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Ein literarisches Gespenst geht um
Es passiert selten, dass eine Kurzgeschichte, welche seit Jahrzehnten auf dem Schulplan steht, Hundert Jahre nach ihrer Entstehung plötzlich ein zweites Leben erfährt. Doch Lu Xuns Kurzgeschichte aus dem Jahr 1919 über den Gelehrten Kong Yiji und dessen unglückliches Leben wird plötzlich zu einem kulturellen Protestsymbol. Kein Wunder, war es doch eine Anklageschrift gegen das “alte Regime”, womit Lu die imperiale Qing-Dynastie meinte. Kong war belesen und gebildet, doch scheiterte bei einer wichtigen Zugangsprüfung und gelangte nicht in die imperiale Bürokratie, fand also keine Anwendung für seine akademischen Qualitäten. Da er sich gleichzeitig weigerte, sich praktische Fähigkeiten anzueignen, welche im Dorf Nutzen gehabt hätten – er zelebrierte eine gewisse Faulheit -, blieb ihm nur das Betteln. Als freundlicher, ehrlicher und meist integrer Mensch bezahlte er stets seine Schulden in der örtlichen Taverne und lehrte die Menschen um sich herum das Lesen und Schreiben. Belohnt wurde er dafür nicht: Er wurde ausgelacht, angefeindet und verprügelt; auf der sozialen Leiter war er die unterste Sprosse. Die Geschichte von Kong Yiji ist eine gesellschaftskritische Tragödie.
In Kong Yiji erkennen sich heute ausgerechnet immer mehr junge Chinesen wieder. Die Jugendarbeitslosigkeit im Land beträgt 20,8 Prozent (Stand Mai 2023, bezogen auf 16- bis 24-Jährige), so hoch wie noch nie seit Statistikbeginn 2018. Der OECD-Schnitt beträgt 12,8 Prozent, in den USA sind es circa 9 Prozent. Die chinesische Wirtschaft wächst einfach nicht schnell genug, um die Millionen von Absolventen – dieses Jahr mit 11,5 Millionen vermutlich ein neuer Rekord – in den Arbeitsmarkt zu integrieren. 60 Prozent der Top-100-Firmen in China haben angekündigt, dieses Jahr weniger Absolventen als in den Vorjahren einzustellen. Universitätsabsolventen sind dabei laut eines staatlichen Berichts 1,4-Mal stärker betroffen als die Jugend insgesamt. Und zur Arbeitslosigkeit gesellt sich auch noch in unbekanntem Ausmaß “underemployment”, also eine Beschäftigung unterhalb des eigenen Qualifikationsniveaus.
The Kids Aren’t Alright
Die Jugend ist verunsichert und desillusioniert, beklagt fehlende Perspektiven. Kein Wunder, dass sich viele junge Chinesen in Kong Yiji wiedererkennen, denn auch sie ziehen als “Gelehrte” ungebraucht durchs Land, frönen (nicht ganz freiwillig) der Faulheit und fühlen sich von der Gesellschaft ignoriert und getreten. Mit schicksalsentscheidenden Zugangsprüfungen kennen sie sich obendrein allemal aus. Memes kursieren im heftig zensierten chinesischen Internet, in welchem sich junge Chinesen mit Kong vergleichen. Ihr angeklagtes ancien régime ist allerdings nicht Qing-China, sondern der heutige kommunistische Staat.
Gut zu wissen: Lu Xun gilt als eine der wichtigsten Figuren der modernen chinesischen Literatur und in seiner kulturellen Relevanz als Pendant zu Charles Dickens oder George Orwell. Er war außerdem ein Liebling der Kommunisten unter Mao und stand jahrzehntelang auf dem schulischen Lehrplan. Entsprechend schwierig fällt es der Kommunistischen Partei, einfach sämtliche Memes zu Kong Yiji wegzuzensieren. Sie blockiert zwar Hashtags und löscht allzu populäre Videos, doch verhindert nicht den gesamten Diskurs. Stattdessen kontern die staatlichen Medien die Narrative der “Unzufriedenen” mit eigenen Interpretationen der Kurzgeschichte, wonach die arbeitslosen Akademiker etwa einfach ihren Stolz beiseitelegen und simplere Berufe annehmen müssten.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist mehr als eine einfache Statistik und Anekdote. In ihr zeigen sich viele der Risikofaktoren, welche China betreffen: Schwaches Wachstum, überschuldete Städte und verunsicherte Techfirmen bedeuten weniger Jobs für die Jugend. Der für jeden erkenntliche demografische Wandel in China (unser Explainer aus Juni 2021 erklärt mehr dazu) verstärkt das Gefühl von Perspektivlosigkeit. Genau um diesen zu handhaben benötigt China allerdings seine Jugend, immerhin müssen künftig immer weniger Arbeitskräfte eine immer ältere Gesellschaft am Laufen halten. Wenn sich jetzt immer mehr junge, desillusionierte Chinesen dem “lying flat“- Trend verschreiben – der Müßiggang-zelebrierenden Antithese zur chinesischen Leistungskultur, welche 2021 an Fahrt aufgenommen hatte – so ist das für die Behörden ein Desaster.
Ein Fazit_
(1 Minute Lesezeit)

China weder unterschätzen, noch überschätzen
China steht nicht vor dem Niedergang, noch nicht einmal vor der Stagnation. Bei allen Hiobsbotschaften darf nicht vergessen werden, dass das Land riesig, innovativ und hochdynamisch bleibt. Seine Wachstumsraten werden jene des Westens bei weitem überschreiten, auch wenn es gemessen am Pro-Kopf-Einkommen natürlich von einer deutlich niedrigeren Basis kommt. Für China selbst wird die große Frage sein, ob es im richtigen Tempo auf sein Jahrhundertziel zusteuert. Das erste wurde 2021 geschafft: Chinas BIP pro Kopf hatte sich seit 2011 nicht nur wie versprochen verdoppelt, sondern mit etwa 12.000 USD sogar fast verdreifacht. Das zweite Jahrhundertziel ist vage und schwieriger: Bis 2049 möchte China ein “modernes, wohlhabendes” Land sein, welches die Welt mit “nationaler Stärke und internationalem Einfluss” anführt, so Präsident Xi.
Diesem Ziel steht ein bemerkenswerter Gefahrencocktail entgegen: Wachstumsschwächen, überschuldete Städten, ein wankender Immobiliensektor, regulatorische Fehlschüsse, geopolitische Streitigkeiten, demografischer Druck und unzufriedene junge Menschen sind teils akute, teils strukturelle Schwachstellen (teilweise beides gleichzeitig). Analysten sind sich in Anbetracht dessen nicht einmal mehr sicher, ob China überhaupt jemals an den USA vorbei zur größten Volkswirtschaft der Welt (€) werden kann, was lange Zeit als selbstverständlich galt. Und selbst wenn das gelingen sollte, sehen Beobachter wie die Großbank Goldman Sachs nur einen kurzen Höhenflug, bevor das Land wieder unter die USA rutscht.
Vergleiche zum Systemrivalen beiseite, geht es für die Kommunistische Partei in der Wirtschaftspolitik ums blanke Überleben, denn sie bezieht einen Großteil ihrer Legitimation aus den wachsenden Lebensstandards der Bevölkerung. Entsprechend dürfte sie alles daran legen, Chinas Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen. Es ist ein schwieriger Balanceakt zwischen überschuldeten Städten und arbeitslosen Gelehrten.