Das Ende der Atomenergie

Deutschland vollzieht den Ausstieg. Ein Blick auf eine bewegte Geschichte, einen komplizierten Diskurs und den Rest der Welt.

Atomenergie in Deutschland | Wie sicher ist Atomenergie? | Klimaschutz und Energiesicherheit | Der Rest der Welt blickt auf Deutschland
(20 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Deutschlands Atomausstieg ist vollzogen – das Ende einer 60-jährigen Geschichte und mehrerer Jahrzehnte an Anti-Atom-Bewegung.
  • Die Atomkraft ist schon seit Jahrzehnten eines der kontroversesten Themen in Deutschland – womöglich so sehr wie nirgendwo sonst auf der Welt.
  • Atomstrom ist dabei sicherer als seine Reputation und zudem emissionsarm, auch in “lifecycle”-Analysen.
  • Uneindeutiger ist die Wirtschaftlichkeit der großen, kapitalintensiven Anlagen, welche sich oft erst nach Jahrzehnten rentieren können.
  • Auch der Umgang mit radioaktivem Müll bleibt weiterhin ungeklärt.
  • Während Deutschland den Ausstieg umgesetzt hat, hält der große Rest der Welt an der Atomkraft fest oder baut sie noch aus – auch aus klimapolitischen Gründen.
  • Deutschlands Sonderweg bedeutet noch mehr Druck, die erneuerbaren Energien rasant ins Zentrum des Strommixes zu rücken. Auch aus Gründen der Energiesicherheit.

Atomenergie in Deutschland_

(5 Minuten Lesezeit)

Alles auf Atom

Manch ewiger Kampf ist irgendwann ausgekämpft, mit einem Wimmern statt mit einem Knall. Nach über sechzig Jahren hat die Anti-Atomkraft-Bewegung, lange Zeit der größte Pfeiler der deutschen Umweltbewegung und Ursprungsmythos der Grünen, ihr Ziel erreicht. Gestern, am 15. April 2023, wurden die letzten Atommeiler vom Netz genommen. Deutschland hat den Atomausstieg vollzogen.

In den 1950ern zeichnete sich die bevorstehende Kommerzialisierung der Nuklearenergie ab. Es herrschte reichlich Begeisterung: In den Medien wurde über kernkraftbetriebene Haushaltsgeräte spekuliert, Forscher versuchten die Vorfreude auf Atomherde und Atomautos zu dämpfen. Realistischer schien die Erwartung einer konsistenten, zuverlässigen, effizienten Energieform, welche die Volkswirtschaften – in Deutschland aufgrund des Wiederaufbaus besonders dynamisch und energiehungrig – auf eine neue Stufe heben könne. Die Diskussion der Zeit war lediglich, ob neben der zivilen auch eine militärische Nutzung von Atomkraft angestrebt werden sollte, was letztlich auch auf Drängen der SPD scheiterte. Eine Debatte, wie sie heute existiert, gab es nicht. Tatsächlich war Atomkraft damals eher ein progressives Thema, sie wurde im linken politischen Spektrum gutgeheißen oder nicht gesondert beachtet; Ablehnung gab es eher aus dem rechten Lager, doch sie erreichte noch keine relevante Größenordnung.

Deutschland nahm seinen ersten kommerziellen Reaktor 1960 in Betrieb, bis 1989 werden daraus insgesamt 33 kommerzielle Kraftwerke und viele weitere Forschungsreaktoren. Seit 1989 wurde kein neues Kernkraftwerk errichtet. Nicht alle Kraftwerke waren zur selben Zeit aktiv, da ältere Atomkraftwerke (AKWs) abgeschaltet und zurückgebaut wurden. Im Jahr 1990 waren 26 AKWs gleichzeitig in Betrieb, welche etwa 30 Prozent der Nettostromerzeugung in Deutschland beisteuerten. Der Wert wurde bis zur Jahrtausendwende gehalten, wonach es aufgrund des allmählichen Wachstums der erneuerbaren Energien und dem sich ändernden politischen Klima bergab ging: Bis 2011 war der Anteil auf 18 Prozent gesunken, bis 2021, als nur noch sechs AKWs in Betrieb waren, auf 12 Prozent. Ein Jahr darauf waren es nur noch drei Kraftwerke und etwa 6 Prozent; bis unmittelbar vor dem Ausstieg sank der Anteil in Richtung 4 Prozent, da die Leistung der nicht nachbestellten Brennstäbe nachgelassen hatte.

Gut zu wissen: Daten für den historischen Zeitverlauf des deutschen Strommixes sind nicht einfach zu finden. Der Energiekonzern BP schätzt den Anteil der Nuklearenergie am gesamten Primärenergie-Verbrauch – nicht mit dem Stromverbrauch zu verwechseln, da etwa auch Wärme und Verkehr berücksichtigt sind – für 1975 auf nur 1 Prozent. Er stieg bis 1985 auf 8,7 Prozent (unterstützt von der Ölkrise) und erreichte bis 1999 sein Hoch von 11,6 Prozent, womit er in erster Linie in den Anteil der fossilen Energieträger hineingefressen hatte. Bis 2015 sank der Wert auf 6,5 Prozent. Erneuerbare Energien machten erst ab 2007 mehr als 5 Prozent der Primärenergie aus. Mehr 

Der Anti-Atom-Bürger

Das erste Mal, dass es großen Widerstand gegen die Atomkraft gab, war Anfang der 1970erDas Kraftwerk Wyhl am Kaiserstuhl wird Ziel lokaler, unideologischer Proteste; vergleichbar mit modernen Protesten gegen Windkraftprojekte. 1975 eskaliert der Ärger in eine Kraftwerksbesetzung durch 28.000 teils aus dem ganzen Land angereisten Protestlern, der ersten der Geschichte der Bundesrepublik. Die Protestler besetzen die Baustelle des Kraftwerks mehrere Monate lang, starten Kulturveranstaltungen und gründen eine eigene “Volkshochschule“. Das Thema schafft es in die Schlagzeilen und damit in die öffentliche Wahrnehmung, wo auch aufgrund eines robusten Vorgehens der Polizei viel Solidarität mit den Protestlern heranwächst. In der Gesellschaft wird plötzlich eine Diskussion von Risiken und Kosten der Atomenergie geführt, welche in den Jahren zuvor weitestgehend gefehlt hatte. Weitere Kraftwerke oder Kraftwerksprojekte werden Ziel von Unmut. Was anfangs lokale, oft konservativ dominierte Protestbewegungen waren, welche sich etwa gegen die Dampfschwaden der Kühltürme und Gefahren für den Weinanbau richteten, breitete sich zu einer lose organisierten, bundesweiten Bewegung aus, welche sich in der jüngeren Generation verankerte und damit politisch nach links rückte und die Angst vor einem “GAU”, einer radioaktiven Katastrophe, zum Hauptthema machte. In den späten 1970ern rückte dann die Frage nach der Endlagerung von Atommüll ins Zentrum. Der “Gorleben-Treck” im Jahr 1979, welcher gegen die Einrichtung eines Endlagers in Gorleben, Niedersachsen, protestierte, mobilisierte 100.000 Menschen. Schwere Reaktorunfälle in Pennsylvania, USA (Three Mile Island) 1979, und Tschernobyl, in der heutigen Ukraine, 1986 verschafften der inzwischen organisierteren Anti-Atom-Bewegung noch mehr Zulauf.

Gut zu wissen: Die Atombewegung war über die Jahrzehnte ein Garant für mal mehr, mal weniger raffinierte Slogans. “Lieber heute aktiv, als morgen radioaktiv”, so ein Slogan bei einem Protestkorso 1972. “Harrisburg ist überall”, hieß es nach der Atomkatastrophe im selbigen Ort in Pennsylvania 1979. 

Der Drache ist erschlagen

Letztlich waren es nicht der Revolutionsgeist, nicht die Schlachten zwischen Protestlern und Sicherheitskräften, nicht die dystopischen Warnungen vor einem “Atomstaat”, welche die Kernkraft besiegten. Der Wut über die Atomenergie stieg, die Angst ebenso, doch Atomkraftwerke wurden trotzdem gebaut, wenn auch manchmal nicht am geplanten Ort oder zur vorgesehenen Zeit. Noch in den 1980ern gingen fast ein Dutzend Atomkraftwerke an den Start, drei davon hatten ihren Spatenstich noch im selben Jahrzehnt gehabt. Die Anti-Atom-Bewegung verlor an Schlagkraft, auch wenn sie nie verschwand. Castor-Transporte – bei welchen meist radioaktives Material aus Frankreich in deutsche Zwischenlager gebracht wurde – belebten die Proteste regelmäßig wieder, doch die meisten Erfolge der Bewegung fielen ihr eher in den Schoß, etwa, weil Kraftwerke wegen technischer, juristischer oder wirtschaftlicher Probleme vom Netz genommen wurden. Stattdessen war es der graduelle, innerparlamentarische Kampf, welcher sich letzten Endes mehr auszahlte.

Schon 1983 hatte sich die Partei der Grünen gebildet, in hohem Maße aus der Anti-Atom-Bewegung heraus. Innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre bewegte sie sich von der politischen Peripherie samt radikalem Anstrich in ihr Zentrum und zog mit Gerhard Schröders SPD 1998 in die Regierung ein. Die rot-grüne Koalition handelte im Jahr 2001 mit den Atomkraftwerkbetreibern einen Ausstieg aus. Doch schon die Nachfolgeregierung unter Angela Merkels Union und der FDP kassierte den Atomausstieg faktisch, indem sie die Laufzeiten wieder verlängerte – es war der Ausstieg vom Ausstieg. Er verpasste der Anti-Atom-Bewegung einen Ruck und die Reaktorkatastrophe von Fukushima, Japan, 2011 reanimierte sie vollends. Die Merkel-Regierung verstand die Zeichen der Zeit und brachte in kürzester Zeit den Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg auf den Weg. Dieser ist es, welcher nun in sein Finale gegangen ist, wenn auch aufgrund der jüngsten Energiekrise um viereinhalb Monate verzögert.
 

Wie sicher ist Atomenergie?_

(9 Minuten Lesezeit)

Die sichersten und emissionsärmsten Energieformen. Quelle: Our World in Data, Verschiedene

Kein Diskurs für schwache Nerven

Am 15. April 2023, um circa 22 Uhr, wurden in den drei verbleibenden deutschen Atommeilern Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 die Schalter umgelegt. Noch vor Mitternacht war bei allen die Stromerzeugung so tief gesunken, dass sie automatisch vom Stromnetz abgemeldet wurden. In den nächsten Jahren läuft der Rückbau bis auf die “grüne Wiese”, also so, dass nichts mehr vom Kraftwerk übrig bleibt. Das dauert im Regelfall zehn bis zwölf Jahre, doch mitunter auch zwei Jahrzehnte. Der Umgang mit dem radioaktiven Material verkompliziert den Rückbau; die strengen Prüfungen, die ihn begleiten, ebenso. Die gesellschaftliche Debatte wird diesen Rückbau nur am Rande begleiten.

Mit dem Ende der Atomkraft endet eine der kontroversesten Debatten, welche Deutschland in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte. Kaum irgendwo anders erreichte das Thema derartige emotionale Ausschläge. Wenn Staaten heutzutage auf Atomkraft setzen, wissen sie relativ gut, was sie zu erwarten haben. Als die Bundesrepublik in ihrer wirtschaftsstarken Nachkriegsphase die neuartige Energieform erprobte, hoffte sie auf nicht weniger als einen Heilsbringer und ein Eintrittstor in eine goldene Zukunft – Erwartungen, welche die AKWs nicht halten konnten. Andersherum erreichte die Angst vor der Atomkraft kaum irgendwo anders eine derartige Intensität, bisweilen bis zur Hysterie, wie in Deutschland. Fast schon skurril ist der Vergleich zu den Ländern, welche tatsächlich Katastrophen erlebten: Japans Fukushima-Katastrophe brachte der dortigen Anti-Atom-Bewegung zwar Zulauf, doch weder dieser Vorfall noch die relativ zahlreichen in den Jahren davor veränderten die Politik des Landes nachhaltig. Die Ukraine betrieb derweil das havarierte Tschernobyl-Kraftwerk kurzerhand bis zum Jahr 2000 zur Stromerzeugung weiter, wenn auch ohne den explodierten (und in einem “Sarkophag” einbetonierten) Reaktor Nummer 4. Katastrophe hin oder her, Strom bleibt Strom.

Viele der Themen, welche bereits die “originale” Anti-Atom-Bewegung inspirierten, sind noch heute akut. Gegner sorgen sich um GAUs und beklagen mangelnde Lösungen bei der Endlagerung. Dazu kommen neue Streitfelder: Der Klimawandel ist zum politischen und gesellschaftlichen Megathema geworden, weswegen die Atomkraft im Licht der Klimapolitik eingeordnet wird – nur eben von Unterstützern und Gegnern unterschiedlich. Und zuletzt warf die Energiekrise ein völlig neues Thema auf, welches Experten seit langem beschäftigt hatte, doch in der Öffentlichkeit weniger beachtet worden war: Die Frage nach der Energiesicherheit, an welcher sich Unterstützer und Gegner der Atomenergie abarbeiten. Drumherum geht es immer wieder darum, wie wirtschaftlich die Kraftwerke überhaupt sind.

Der Diskurs war emotional, laut und schrill. Beide Seiten führten eine große Zahl an Meinungen und Fakten an, verpackt in noch mehr Zeitungsbeiträgen und Kolumnen, so viel, dass ein klarer Blick auf die Lage immer schwerer wurde. Es half nicht, dass sich unterschiedliche Fragestellungen vermischten: Mal ging es darum, ob die bestehenden AKWs weiter laufen sollten, mal darum, ob neue gebaut werden sollten; mal um Energiesicherheit, mal um Emissionsintensität – mal um alles gleichzeitig, irgendwie. Hier ein Versuch, einige der Themen zu entwirren.

Wie sicher ist Nuklearenergie? Ziemlich sicher.

Atomenergie ist, soweit die Datenlage eine Aussage erlaubt, sehr sicher – wobei das Urteil letzten Endes auch von der eigenen Risikoaffinität abhängt. 

Erstens, ein Blick auf die historische Bilanz. Gemessen an den Todesfällen, welche sich der Energieform direkt zu attribuieren lassen, schneidet die Atomenergie weitaus besser als fossile Energieträger und auf einer Stufe mit Wind- und Solarenergie ab. Die Analysewebsite Our World in Data trug 2020 mehrere Datensätze zusammen und errechnete so die Todesrate pro produzierter Terawattstunde (TWh) Strom – eine sinnvolle Metrik, da manche Stromquellen länger existieren oder intensiver genutzt werden als andere. Nichts ist so tödlich wie Kohle mit 24,6 Toten pro TWh, gefolgt von Öl (18,4), Biomasse (4,63), Gas (2,82), Wasserkraft (1,3) und Wind (0,04). Erst danach folgt die Atomkraft mit 0,03 Toten pro TWh, ausgestochen nur von der Solarenergie mit 0,02 Toten/TWh und, in anderen Studien, Geothermie. 

Wie kann das sein? Was ist mit den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima? Beide sind in die obigen Zahlen eingerechnet. Tatsächlich ist unklar, wie viele Toten die beiden Ereignisse genau verursacht haben – doch es könnten sehr wenige gewesen sein. In Tschernobyl starben garantiert 30 Menschen, entweder direkt bei der Explosion oder wenige Wochen nach der Notfalloperation. Unklar ist, wie viele Menschen darüber hinaus an radioaktiver Verseuchung starben oder noch sterben werden. Die Schätzungen reichen von wenigen Hundert bis zu etwa 60.000. Die UN schätzt knapp 4.000 Tote; Our World in Data legt in seiner Rechnung einige Hundert an. Wer die Zahl jenseits einer Million verortet hatte, befindet sich bereits im Bereich der exotischsten Schätzungen.

In Fukushima starb niemand direkt durch die Katastrophe. 2018 erklärte die japanische Regierung, dass ein Arbeiter aufgrund von attribuierbarem Lungenkrebs verstorben war. Studien wie etwa seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kamen zu dem Schluss, dass die radioaktive Belastung für die Bevölkerung extrem niedrig war – ironischerweise könnte die Katastrophe nur insofern zu mehr Schilddrüsenkrebs führen, als dieser nun häufiger geprüft und diagnostiziert wird. Der tödlichste Aspekt der Fukushima-Katastrophe war die Evakuierung von über 160.000 Menschen, welche zu viel physischem und mentalem Stress führte. Etwa 2.313 Menschen starben im Rahmen der Evakuierung. Selbst dabei ist es allerdings schwierig, die “Schuld” zwischen Reaktorunfall, Erdbeben und Tsunami sauber zuzuordnen.

Gut zu wissen: Wenn es um katastrophale Einzelereignisse geht, ist ausgerechnet die Wasserkraft vorne. Dammbrüche haben in den vergangenen Jahrzehnten zu fast 180.000 Toten geführt. Der Plural mag ein wenig schmeichelhaft sein: Allein die Katastrophe beim Banqiao-Damm in China 1975 tötete etwa 171.000 Menschen. Gemessen an ihrer Stromproduktion bleibt die Wasserkraft allerdings pro Terawattstunde weniger tödlich als etwa Windenergie.

It’s the Luftverschmutzung, stupid.

Stattdessen ist der größte Faktor bei der Energieerzeugung die Luftverschmutzung. Sie tötet Jahr für Jahr schätzungsweise sieben Millionen Menschen in aller Welt, so etwa die Schätzung der WHO, und verschlechtert die Lebensqualität von noch vielen mehr. Kohle, Öl und in etwas niedrigerem Maße Erdgas tragen maßgeblich zur Luftverschmutzung bei, die emissionsarme Atomenergie dagegen kaum. Dazu kommen Unfälle im Betrieb (z.B. wenn ein Techniker von einem Windrad fällt) oder entlang der Lieferkette (z.B. bei einem Mineneinsturz), doch sie verblassen in ihrer Effektgröße neben der Luftverschmutzung.

Was für Gegner der Atomenergie makaber wirken mag, doch sich statistisch kaum von der Hand weisen lässt, ist, dass die Atomenergie damit zumindest in den vergangenen Jahrzehnten Leben gerettet haben dürfte. Denn der Strombedarf, den sie deckte, wäre in den vergangenen Jahrzehnten auf jeden Fall mehrheitlich durch Kohle, Öl oder Gas kompensiert worden – doch das hätte wieder zu mehr Toten durch Luftverschmutzung geführt (Effekte des Klimawandels sind hier sogar völlig ausgeklammert). Die Studie “Prevented mortality and greenhouse gas emissions from historical and projected nuclear power” (Link) von Pushker A. Kharecha und James E. Hansen aus dem Jahr 2013, veröffentlicht im renommierten Journal American Chemical Society, schätzt, dass Atomkraft 1,84 Millionen Tote aufgrund von Luftverschmutzung verhindert habe. Bis zur Mitte des Jahrhunderts könne sie weitere 420.000 bis 7 Millionen Tote verhindern, abhängig davon, wie sich der weltweite Energiemix entwickelt.

Ein tieferer Blick auf die Daten

Ein kleiner Deep Dive… in zwei Studien zu der Letalität unterschiedlicher Energieformen. Die Studie “Electricity generation and health” (Link) der Forscher Anil Markandya und Paul Wilkinson, 2007 im renommierten Journal Lancet veröffentlicht, kommt über einen 15-Jahre-Zeitraum auf 0,022 Todesfälle pro produzierter Terrawattstunde durch Unfälle und 0,052 durch Luftverschmutzung, was Krebstode einbezieht. Kohleenergie kommt dagegen auf 0,12 Todesfälle durch Unfälle und 24,5 durch Luftverschmutzung. Dazu Hunderte “ernsthafte Erkrankungen” und Tausende “leichte Erkrankungen” durch Luftverschmutzung, welche bei der Nuklearenergie trotz Einbeziehung leichterer Krebsverläufe mit 0,22 pro TWh vernachlässigbar sind. Öl folgt mit 18,4 Toten pro TWh durch Luftverschmutzung und Erdgas mit 2,8 Toten pro TWh. Biomasse liegt dazwischen mit 4,63 Toten pro TWh.

Die Studie “Balancing safety with sustainability: assessing the risk of accidents for modern low-carbon energy systems” (Link) mehrerer Forscher rund um Benjamin K. Sovacool aus dem Jahr 2016 analysiert für den Zeitraum 1950 bis 2014 die Sicherheit mehrerer Energieformen mit niedrigen Emissionen: Wasserkraft, Atomkraft, Wind, Photovoltaik, Biokraftstoffe, Biomasse und Geothermie. Insgesamt hätten diese in den 64 Jahren knapp 183.000 Tode verursacht. Die Atomenergie ist der zweitgrößte Verursacher mit 4.803 Toten, vor der Windenergie mit 335 Toten. Komplett in den Schatten gestellt wird das durch die Wasserkraft: 177.000 Tote gehen auf ihre Kappe, vor allem aufgrund des zuvor erwähnten Banqiao-Dammbruchs in China. Erneut empfiehlt sich ein Blick auf die Tode pro Terawattstunde (hier nur der Zeitraum 1990 bis 2013), da das die Nutzungsintensität der Energieform berücksichtigt: Nuklearkraft ist mit 0,0097 Toten sicherer als Solarenergie (0,019), Windenergie (0,035), Biomasse (0,0164) und Wasserkraft (0,0235 – welche damit trotz ihrer hohen absoluten Todeszahl besser abschneidet als Windenergie). Besonders schlecht schneidet die Nuklearenergie ab, wenn es um die Sachschäden geht: 3 Millionen USD pro Terawattstunde, denn Tschernobyl und Fukushima waren spektakulär teure Ereignisse, doch auch jeder mittelgroße Reaktorunfall zieht hohe Kosten nach sich. Es folgen Windkraft (235.400 USD), Wasserkraft (98.400 USD) und Solar (35.500 USD).

Wie steht es um die Sicherheit der Reaktoren?

Das ist die Vergangenheit, doch dann ist da noch die ZukunftEs wird niemanden überraschen, dass die Kraftwerke von heute nicht mehr die Kraftwerke von 1986 sind. Mit fortschreitender Technologie und Jahrzehnten an Erfahrung verbessert sich in der Regel auch das Sicherheitsprofil. Moderne Kraftwerke haben deutlich mehr Redundanzen, können im Zweifelsfall auch teilweise ohne Stromversorgung abkühlen und nutzen andere Kühlflüssigkeiten als Wasser, was Wasserstoffexplosionen wie in Fukushima verhindern kann (mehr). Das Gen IV International Forum, ein Verband der Atombranche, gibt die geschätzte Frequenz für Schäden am Reaktorkern mit 0,000001 Fällen pro Reaktorjahr (also eins in einer Million) an. Das Risiko für ein Versagen der letzten Barriere, welche ein Austreten in die Umgebung verhindern soll, sei noch um ein Zehnfaches niedriger. Vor einigen Jahrzehnten habe die Frequenz noch bei 0,001 Fällen pro Reaktorjahr gelegen, hat sich seitdem also deutlich verbessert. Die nächste Generation an AKWs – sogenannte Gen-IV-Reaktoren – soll sicher genug sein, um bestimmte Katastrophenszenarios physikalisch unmöglich zu machen, vor allem durch passive Kühlfähigkeiten.

Das alles beschwichtigt Gegner der Technologie kaum: Ihnen geht es um Vorfälle, welche sehr unwahrscheinlich sind, aber katastrophale Folgen haben. Was macht es da schon, wenn der GAU jetzt sehr, sehr unwahrscheinlich ist, doch noch immer katastrophale Folgen hat? Statistisch mag das durchaus eine Rolle spielen, aber die Empfindung ist, dass bereits ein einziger Vorfall der Letzte sein könnte – hier darf von einer gewissen Risikoaversion die Rede sein. Dazu kommt, dass zwei “realisierte” Katastrophen und zahlreiche weniger bedeutsame Reaktorunfälle sich für risikoaverse Beobachter eben nicht wie “sehr, sehr unwahrscheinlich” anfühlen, auch wenn sie über sechzig Jahre gestreckt passiert sein mögen. Ankündigungen, wonach nur noch ein wenig technologischer Fortschritt zu utopischen Sicherheitsniveaus fehle, klingt für Kritiker nach Wunschdenken und kaum glaubwürdigen Industrieversprechungen. 

Ähnlich dürfte auch der Verweis auf die historischen Todeszahlen wenig Anklang finden. Manche Gegner mögen auf die Unsicherheit der Todes- und Betroffenenzahlen hinter Fukushima und Tschernobyl hinweisen, doch es bräuchte eine spektakuläre Hochkorrektur der Zahlen, um den Abstand zu den tödlichen fossilen Energieträgern zu schmälern. Dieser Vergleich lässt sich wiederum attackieren, falls angenommen wird, dass Atomkraft erneuerbare Energien und nicht etwa fossile Energieträger kannibalisiere: Denn wenn mit jeder TWh Atomstrom äquivalent weniger Solarkapazität aufgebaut wird, dann ist nichts an sauberer Luft gewonnen. Auf die vergangenen Jahrzehnte trifft das nicht zu, schließlich waren die erneuerbaren Energien da noch kaum im Strommix angekommen, doch heute und in Zukunft würde dieses Argument eine größere Rolle spielen, wenn es die Atomenergie denn noch gäbe.

Und dann wäre da wieder der Faktor Risikoaversion, um welchen, so der Eindruck der whathappened-Redaktion, sich das Thema Sicherheitswahrnehmung letztlich dreht. Wer befürchtet, dass es nur einen falschen Super-GAU benötigt, um weite Landstriche im Herzen Europas unbewohnbar zu machen und Millionen von Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen, dem ist egal, ob die historische Bilanz der Energieform gut aussieht, ihre Sicherheitsvorkehrungen moderner geworden sind oder einige der Alternativen laufend (aber eben inkrementeller) tödlich sind – Atomkraft wird intolerabel.

Gut zu wissen: Gelegentlich wird auf andere, ungeklärte Gesundheitseffekte verwiesen, so etwa eine Korrelation zwischen Kinderkrebs und der Nähe zu AKWs, welchen eine Studie 2007 angedeutet hatte. Die Studienurheber selbst und andere Forscher betonten, dass gar kein Kausalzusammenhang festgestellt sei, was das Umweltbundesamt allerdings nicht stört, noch dreizehn Jahre später auf die Studie zu verweisen. Andere Kritiker wie Greenpeace warnen, dass Atomkraftwerke nicht gegen Terrorattacken oder Flugzeugabstürze gewappnet seien. Das trifft etwa auf deutsche Kraftwerke zu, doch nicht auf amerikanische AKWs, welche tatsächlich robust genug sind, um Raketenbeschuss oder Flugzeugabstürze zu überstehen.

Klimaschutz und Energiesicherheit_

(3,5 Minuten Lesezeit)

Emissionsarm, aber auch strategisch?

Atomenergie ist eine sehr emissionsarme Energieform. Werden die Treibhausgasemissionen (THG) pro Gigawattstunde (GWh) um die “lifecycle”-Emissionen eines Kraftwerks ergänzt – also alle Emissionen, welche von Bau, Rohstoffgewinnung, Transport und Entsorgung anfallen -, so kommt Nuklearenergie auf 3 Tonnen THG-Emissionen pro Gigawattstunde Strom – und ist die emissionsärmste Stromquelle. Die Windenergie folgt mit 4 Tonnen, dann Solarenergie mit 5 Tonnen. Erdgas schlägt mit 490 Tonnen THG-Emissionen pro GWh zu Buche, Öl mit 720 Tonnen, Kohle mit 820 Tonnen. Zu diesem Schluss kommt Our World in Data unter Bezugnahme mehrerer Studien, darunter “Understanding future emissions from low-carbon power systems by integration of life-cycle assessment and integrated energy modelling” (Link) einer Forschergruppe um Michaja Pehl aus dem Jahr 2017, veröffentlicht in Nature. Andere Studien kommen mehrheitlich zu ähnlichen Schlüssen, auch wenn die Zahlen variieren mögen.

Das wird auch von Kritikern des Atomstroms in der Regel anerkannt, denn die Datenlage ist relativ eindeutig. Sie hinterfragen jedoch, wie nützlich Atomenergie für die Klimapolitik sein kann: Um Kohle, Öl und Gas zu ersetzen, wären wohl Hunderte neue AKWs vonnöten – Greenpeace schätzt mit Bezug auf Daten der Nuklearbranche etwas über 1.000 neue Kraftwerke bis 2050. Um so viele Reaktoren zu bauen, nämlich 37 pro Jahr, fehle jedoch einfach die Kapazität entlang der Wertschöpfungskette. Bislang gehen bis zu 10 AKWs pro Jahr global ans Netz. Auch sind AKWs kein völlig eindeutiger business case: Da sie extrem kapitalintensiv sind, dauert es viele Jahre, bis sie sich rentieren. Im Detail variiert das stark von Land zu Land, doch meist reißen sich Unternehmen nicht darum, neue AKWs hochzuziehen. Und wenn sie es doch tun, dauert es problemlos acht bis zehn Jahre, bis sie fertig sind. Das sei zu lange, um noch effektiv zum Klimaschutz beitragen zu können, so Kritiker. Beliebt sind Verweise auf Frankreichs Reaktor in Flamanville oder Großbritanniens Hinkley Point C, welche ihre Zielmarken um Jahr(zehnt)e verpassen und immer teurer werden. Das ist bei Großprojekten nun wirklich keine Seltenheit und trifft auch längst nicht auf alle AKW-Projekte zu, doch es unterstreicht das Argument der Geschwindigkeit.

Diese lästige Energiesicherheit

Atomenergie machte zuletzt etwa 4 Prozent der deutschen Stromerzeugung ausDas ist keine triviale Zahl, denn sie muss kompensiert werden. Verweise, dass eben gespart werden müsse, laufen entgegen der Prognosen zu steigendem Strombedarf – nicht zuletzt, da Wärme und Verkehr zunehmend elektrisiert werden. Erneuerbare Energien wären eine intuitive Lösung, doch sollten sie, wie in den Vorjahren, nicht schnell genug ausgebaut werden, muss auf emissionsintensive und tödliche Kohle sowie, ironischerweise, den Import von französischem Atomstrom gesetzt werden. Frankreichs inzwischen wohlbekannten Schwierigkeiten, die eigenen Atomkraftwerke in Betrieb zu halten, deuten allerdings ein akutes Problem für Deutschland an: Die Verfügbarkeit von Strom könnte in Gefahr geraten, falls die Energiekrise im Winter 2023/24 wieder an Fahrt gewinnt, die Marktpreise rasant ansteigen und Lieferanten wie Frankreich auch noch in Produktionstiefs geraten. Die deutsche Energiesicherheit ist damit in hohem Maße abhängig von Entwicklungen im Ausland.

Das hat auch wirtschaftliche Folgen. Im Falle einer Stromknappheit dürften als erstes große Industriekunden vom Netz genommen werden, was teure Produktionsausfälle und im Vorfeld Planungsunsicherheit kreiert. Doch selbst, wenn dieser “Energie-GAU” vermieden wird, sind die Auswirkungen einer Stromlücke spürbar. Schon jetzt hat Deutschland die fünftzehntteuersten Strompreise der Welt und wird, mit Ausnahme Tschechiens und Rumäniens, nur von Entwicklungsländern und gescheiterten Staaten (z.B. Mali, Nicaragua) ausgestochen. Das spielt für die Kaufkraft der Bevölkerung, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie und die Standortattraktivität eine Rolle.

Positiv kann sich der Atomausstieg auf die Energiewende auswirken, insofern er zu einem schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien führt. Es handelt sich dabei um eine riskante Wette: Gelingt der Ausbau nicht schnell genug, ist mehr Kohle- und Gasverstromung die Folge. Hohe Bürokratie, langwierige Genehmigungsverfahren und Klagen aufgrund des Naturschutzes beschweren den Ausbau wie noch vor fünfzehn Jahren. Und selbst wenn er gelingt, bleibt die Frage der Grundlast. Erneuerbare Energien können an wind- oder sonnenreichen Tagen einen großen Teil des Strombedarfs stemmen, doch wenn sie nicht verfügbar sind, müssen andere Kraftwerke die benötigte Leistung im Stromnetz sicherstellen. Das werden in Zukunft mehrheitlich Kohle- und Gaskraftwerke sein müssen. Bis kein Sprung in Speichertechnologie- und Infrastruktur gelingt, wird dieses Problem nicht gelöst sein.

Der Rest der Welt blickt auf Deutschland_

(2 Minuten Lesezeit)

Der Anteil der Nuklearenergie an der Stromerzeugung weltweit, 2021/22. In Frankreich sind es 63,3%, in den USA 19%, in Großbritannien 15%, in China 5%. Quelle: Our World in Data, Verschiedene

Wie geht es nun weiter mit der Atomenergie? In Deutschland vermutlich gar nicht, auch wenn beispielsweise die FDP etwas kleinlaut darauf pocht, doch zumindest weiter an der Technologie zu forschen. Im Rest der Welt sieht es etwas anders aus. Dutzende Reaktoren werden in aller Welt geplant oder bereits gebaut, so etwa sechs allein in Frankreich. Japan wendet sich wieder verstärkt der Atomkraft zu. Finnland nimmt derzeit den größten Reaktor Europas und drittgrößten der Welt in Betrieb. China sieht es auf Superlative ab und will in den nächsten 15 Jahren 150 neue Reaktoren hochziehen, mehr als der Rest der Welt zusammen in den letzten 35 Jahren gebaut hatte. “Small Modular Reactors” (SMR) sind im Grunde Mini-Atomreaktoren und werden von mehreren Staaten ausdrücklich als spannende Zukunftstechnologie ins Auge gefasst, da sie versprechen, flexibler, günstiger und effizienter zu operieren. Für energiehungrige Entwicklungsstaaten ist die Atomenergie ein Weg, klimafreundlich ihr Wirtschaftswachstum zu füttern, ohne der Stimmung des Wetters unterworfen zu sein. Atomenergie wird also vom Großteil der Welt als elegante, stabile, innovationsfähige Energieform für das Zeitalter der Klimapolitik wahrgenommen. Nicht alle wollen sie ausbauen, aber von ihr ablassen will fast niemand.

Kuriosität statt Lehrstunde

Deutschlands Entscheidung, seine Kernkraftwerke zu schließen, wird damit mehrheitlich mit Unverständnis oder einer gewissen Belustigung verfolgt. Sei es, weil sich die Bundesrepublik damit ins eigene Fleisch zu schneiden scheine oder weil sie eine emissionsarme Energieform abschafft, während sie den Klimaschutz ins Zentrum ihres Handelns rückt. Auch die deutsche Dekarbonisierung wird sehr aufmerksam verfolgt, allerdings durchaus mit ehrlichem Interesse: Zeigt Deutschland, wie eine Energiewende funktionieren kann, könnte das Vorbildfunktion haben (und misslingt sie, dann wird sie abschrecken). Der Atomausstieg ist inmitten von Klimawandel und Energiekrise dagegen in erster Linie eine Kuriosität.

Völlig allein ist Deutschland bei seinem Atomausstieg jedoch nicht. Italien gab die Atomenergie 1990 auf, Österreich stoppte seinen einzigen Reaktor 1978 per Volksabstimmung noch bevor er in Betrieb ging (heute ist er ein Museum) und Litauen beginnt den Rückbau seines einzigen AKWs aus Sowjetzeiten. Der Club ist damit noch ziemlich klein. Und auch wenn sich nicht abzeichnet, dass andere Länder auf den Ausstieg schielen, so hat Deutschland doch eine Chance, den Skeptikern zu beweisen, dass der Sonderweg funktionieren kann. Es muss es lediglich schaffen, seine Stromversorgung zu dekarbonisieren, ohne auf eigenen oder importieren Atomstrom zu setzen und ohne die eigene Wirtschaft abzuwürgen. Das ist eine Herkulesaufgabe, deren einzige Lösung gezwungenermaßen erneuerbare Energien sind, welche allerdings ein völlig neues Tempo als in den letzten 15 Jahren anlegen müssten. In diesem Zeitraum war zwar viel passiert, doch die Bedarfe sind noch ungleich höher – mit dem Atomausstieg umso mehr. Ein leicht abgewandeltes Motto aus den 1970ern hat damit wieder Bestand, nur diesmal etwas abgewandelt: Lieber aktiv, wenn schon nicht radioaktiv.

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