Das 2022 Jahresreview Teil 1: Politik

Politik in 2022_

Die Themen:
Ein neues geopolitisches Zeitalter | Proteste und Konflikte | Wichtige Wahlen | Deutschland und die Krisen | Optimismus in den USA | Großbritanniens Chaosjahr | Chinas dritte Ära

(insgesamt 22 Minuten Lesezeit)

Ein neues geopolitisches Zeitalter_

(7 Minuten Lesezeit)

Das Ende der Geschichte, nach dem Zerfall der Sowjetunion mitunter ausgerufen, ist vorüber. Der Ukrainekrieg war die Eröffnungssalve in der bedeutendsten Umstrukturierung der globalen Geopolitik seit 1991, passenderweise fast genau ein halbes Jahr nachdem die Flucht aus Afghanistan die Phase des liberalen Interventionismus – am bekanntesten in Form der Kriege in Irak und Afghanistan – symbolisch beendet hatte. Die Folgen sind weltweit, allumfassend und höchst signifikant.

Ein Rückblick auf den Ukrainekrieg

Am 24. Februar marschierte Russland in die Ukraine ein, die ultimative Eskalation eines mal heißen, mal niedrigschwelligen Konflikts seit 2014. Russland misslangen ein blitzartiger Zangenangriff auf die Hauptstadt Kiew sowie der Versuch, die Hauptstadt handstreichartig durch die Eroberung eines nahen Flughafens zu überrennen. Zwei unerwartete Realitäten zeigten sich: Die russische Armee operierte strategisch und taktisch stümperhaft, litt unter schwacher Versorgung sowie Moral und bekam die unterschiedlichen Truppenteile nicht koordiniert. Auf der anderen Seite agierte die ukrainische Armee, unterstützt von der Zivilbevölkerung und paramilitärischen Einheiten, raffiniert, motiviert und mithilfe westlicher Waffen hocheffektiv. Nach einigen Wochen musste sich Russland aus dem Norden rund um Kiew zurückziehen, wo es nur noch mutmaßliche Kriegsverbrechen hinterließ. Die einzigen Erfolge der russischen Armee waren die Eroberung der Provinzhauptstadt Cherson im Süden und des in Ruinen verwandelten Mariupol am Asowschen Meer. 

Das Schlachtfeld verlagerte sich im frühen Sommer in den Donbass. Russland begann einen Artilleriekrieg, welcher an den Ersten Weltkrieg erinnerte, und drückte die Ukraine langsam aus den Hochburgen Sjewjerodonezk und Lyschschansk. Bevor sich die Offensive erschöpfte, hatte Russland die gesamte Region Luhansk erobert.

Im September gelang der Ukraine ein in dieser Konsequenz unerwarteter Gegenschlag, welcher in der Militärtheorie noch auf Jahrzehnte diskutiert werden dürfte. Sie zog Russlands Aufmerksamkeit erfolgreich auf die Region Cherson, wo es die gleichnamige Provinzhauptstadt erobert hatte, und bereitete parallel eine unerkannte Gegenoffensive in der Region Charkiw vor. Als diese begann, war die russische Garnison dermaßen überrascht, dass sie in die unkontrollierte Flucht geschlagen wurde. Die Ukraine befreite Charkiw und weite Teile des Donbass. Im November machte sich dann ein monatelanger Abnutzungskrieg in Cherson bezahlt: Russland konnte seine Truppen in der Region nicht mehr versorgen und zog sich aus seiner einzigen Besatzung jenseits des Fluss Dnjepr, einer riesigen natürlichen Barriere, zurück.

Ihre wichtigen militärischen Erfolge komplementierte die Ukraine durch spektakuläre Aktionen. Sie beschädigte das russische Flaggschiff Moskwa im Schwarzen Meer, womit sie die gesamte Schwarzmeer-Flotte in die Häfen fliehen ließ; attackierte Militärbasen, meist der Luftstreitkräfte, auf der Krim oder Hunderte Kilometer tief im russischen Kernland (womit sie markante Bilder von russischen Badegästen und Rauchwolken im Hintergrund lieferte), beschädigte die äußerst wichtige Krim-Brücke, welche den Ukrainern seit 2018 ein Dorn im Auge war, und ermordete in einem Moskauer Nobelviertel die Tochter des nationalistischen Ideologen Alexander Dugin (das Attentat dürfte ihm gegolten haben). Jede dieser Aktionen – welche Kiew meist öffentlich von sich wies – waren beeindruckende Beweise für die ukrainischen Militär- oder Sabotagefähigkeiten und hochpeinlich für den Kreml. Dieser vergalt die Aktionen mit Bombardement gegen zivile Ziele. Ab Spätherbst wechselte er seine gesamte Strategie dahingehend: Massives Bombardement gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine; Teile des Landes sind regelmäßig von Strom, Wärme und Trinkwasser abgeschnitten. Im südlichen Mikolajiw lebte die Bevölkerung monatelang von salzigem, schmutzigem Wasser (€).

Wie geht es 2023 weiter? Westliche Beobachter und die Ukraine selbst erwarten eine große russische Winteroffensive im Januar oder Februar, vermutlich gegen den Donbass, womöglich entlang der langen Grenze zu Belarus. Moskau macht Anzeichen, sich auf einen langen Konflikt einzustellen, nicht zuletzt mit der Teilmobilmachung im Herbst. Eine zentrale Frage ist, ob der Westen seine Kriegsunterstützung, insbesondere in Form von Militärgerät, aufrechterhält. Es waren ausländische “Javelin”-, “Stinger”-,”Panzerfaust”- und “Bayraktar”-Waffen, welche der Ukraine in der Anfangsphase bei der Verteidigung halfen; es waren westliche HIMARS- und MARS-Artilleriesysteme, welche den erfolgreichen Abnutzungskrieg in Cherson erlaubten. Nur wenn sie weiterhin mit Munition, Waffen und Finanzhilfen ausgestattet wird, hat die Ukraine eine Chance, ihr Territorium zurückzuerobern und die Bedingungen für einen realistischen, halbwegs nachhaltigen Waffenstillstand zu schaffen.

Das neue Paradigma

Die Bedeutung des Ukrainekriegs geht weiter über die Ukraine, Russland und Europa hinaus. Es ist der erste Versuch seit Jahrzehnten, eine Landesgrenze mit Gewalt zu verschieben (wohl der erste seit dem Golfkrieg 1990, der Bergkarabachkrieg passt nur mit Einschränkungen). Das ist nicht nur ein Bruch mit der regelbasierten internationalen Ordnung, sondern ein Versuch, das Rad zurückzudrehen: In der russischen Vision der Welt existieren kleinere, schwächere Staaten nur so lange, wie größere, stärkere Staaten ihre Existenz gestatten. Konflikt zwischen Großmächten ist unvermeidbar, da sie stets auf die Expansion ihres Territoriums oder ihrer Einflusszonen bedacht sind, unterbrochen nur von pragmatischen Kurzzeitallianzen gegen gemeinsame Gegner. Es ist eine Vision, welche mit einem modernen Staatsverständnis und Lebensentwurf nicht vereinbar ist und welche es zurückzuweisen gilt. Die whathappened-Redaktion schrieb sich in zwei Meinungsbeiträgen, im Februar und September 2022, von der Seele.

Putins Russland verabschiedet sich aus der Zivilisation – whathappened, Februar 2022

Dieser Krieg wird noch lange dauern – und der Westen muss bereit sein – whathappened, September 2022

Jenseits der blumigen Worte hat Russlands Zivilisationsbruch ganz praktische Konsequenzen, welche nicht minder als ein neues Paradigma der Geopolitik einläuten. Der Westen schaltet in den Krisenmodus; lernt mancherorts das Militärische neu (Europa) oder findet nach Jahren der außenpolitischen Desillusionierung wieder zu sich (USA), doch beweist in jedem Fall – bei aller Kritik – ungewohnte Einigkeit und Konsequenz. Staaten in aller Welt müssen sich positionieren, ob sie wollen oder nicht; selbst, wenn sie sich vordergründig in Neutralität üben. Neue Achsen entstehen (Moskau-Peking; Schweden sowie Finnland und die “wiedergeborene” NATO); andere Verbünde entwickeln Fliehkräfte (Moskau-Zentralasien). Die Weltwirtschaft spürt den Krieg links und rechts, globale Lieferketten passen sich an, separate Technologiesphären entstehen, Wirtschaftszweige oder Infrastruktur werden “geopolitisiert” und der Priorität der nationalen Sicherheit unterworfen. Gleichzeitig überrascht es kaum, dass viele Beobachter, insbesondere aus den USA – deren Regierung an vorderster Stelle – das Spektakel lediglich als Vorspiel betrachten. Die wahre geopolitische Herausforderung sei China.

Die Volksrepublik besitzt die wirtschaftliche und technologische Dynamik, das diplomatische Gewicht und den Rückhalt der heimischen Bevölkerung, welche Russland allesamt fehlen. Sie operiert seit Jahren zunehmend aktiv und offensiv in ihrer Region, doch baut auch überregional ihren Einfluss bedeutend aus. Im Jahr 2022 schloss China Sicherheitspakte mit Pazifikstaaten, intensivierte seine Drohkulisse gegenüber Taiwan, stieß an der gemeinsamen Grenze mit Indien zusammen und wurde zum prominentesten, mutmaßlich nicht-militärischen Unterstützer Russlands, während es zeitgleich dessen Einfluss in Zentralasien erodierte. 

Für den Rest der Welt gibt es kein Vorbeikommen an China. Für einige Staaten ist es ein Glücksfall mit Haken: Russland sieht das Nachbarland als Lebensversicherung im Konflikt mit dem Westen, doch muss sich mit einer langfristigen Juniorpartnerschaft arrangieren und seinen Einfluss in Zentralasien teilen. Für zunehmend selbstbewusste Regionalmächte wie Iran oder Saudi-Arabien, bietet das erstarkte China mehr Manövrierraum, Linien zu verfolgen, welche der Westen ablehnt – nicht umsonst erhielt Präsident Xi in Riad jüngst einen deutlich wärmeren Empfang als zuvor Präsident Biden, dessen USA eigentlich der traditionelle Verbündete Saudi-Arabiens sind.

Noch wichtiger ist China für die unmittelbare Region und auch für den Westen, welcher in dem Land inzwischen völlig offen einen feindselig agierenden Systemrivalen erkennt. Die USA kontern Chinas Pazifikstaatenoffensive mit einer eigenen und pflegen ihre regionalen Bündnisse rund um “AUKUS” (mit Australien und Großbritannien) und “Quad” (mit Japan, Indien und Australien). Sie wirken auf die südostasiatische ASEAN-Gruppe ein, welche China wirtschaftlich benötigt, doch verärgert auf dessen Aktivitäten im Südchinesischen Meer blickt (mit Ausnahme Kambodschas, Chinas regionalem Verbündeten). Sie entsenden Waffen nach Taiwan und vollziehen einen rhetorischen Tanz rund um die Frage, ob sie die Insel militärisch verteidigen würden (der Besuch von Unterhauschefin Nancy Pelosi war bemerkenswert, aber keine offizielle Politik). Und sie schneiden China gezielt von westlicher Technologie ab. Japan gibt mit Hinblick auf China seine jahrzehntelange pazifistische Politik auf und macht sich an die Aufrüstung, spricht Taiwan zudem offen die Unterstützung aus. Deutschland verabschiedet seine erste nationale Chinastrategie.

Nicht nur China und Russland sind Beweise dafür, dass der gehässige Spitzname der USA als “Weltpolizei” – ein Relikt des erwähnten liberalen Interventionismus – nicht mehr zutriffft; dass die unilaterale Vormacht Washingtons vorüber ist und stattdessen der in außenpolitischen Kreisen so beliebte “Multilateralismus” Einzug gefunden hat. Sei es im Nahen Osten, im Kaukasus, in Ostafrika oder in Südostasien: Regionalmächte agieren immer öfter ohne Rücksicht auf die Einwände eines zunehmend zurückhaltenderen Westens. Sie wissen, dass sich die Konsequenzen im Rahmen halten werden; agieren womöglich mit der Unterstützung eines Chinas oder Russlands im Rücken. Was Washington oder Brüssel denken ist nicht irrelevant, aber in weiten Teilen der Welt deutlich weniger relevant als früher. 

Es ist gewissermaßen die Rückkehr der Geopolitik, nach beinahe 25 Jahren unangefochtener Hegemonie der USA. Die ersten Jahre dieser neuen Phase hatte der Westen verschlafen; nicht vollends, aber eben spürbar. In den nächsten Jahren wird weniger Raum für Trägheit bleiben. 

Der Indopazifik und das pazifische Jahrhundert – whathappened, Oktober 2021

Japan: Zum Pazifismus und zurück – whathappened, Juli 2022

Proteste, Konflikt und Staaten im Zerfall_

(4 Minuten Lesezeit)

Proteste in Iran. Quelle: Taymaz Valley

Iran

Mitte September brachen in Iran die schwersten Proteste seit mehreren Jahren aus, nachdem eine junge Frau in der Gewalt der Sittenpolizei verstorben war. Sie laufen bis heute, inzwischen über ihren hundertsten Tag hinaus, und machen keine Anstalten, abzuklingen, auch wenn das iranische Regime den Informationsfluss nach außen erfolgreich eingeschränkt bekommt.

Für den Ayatollah, seinen religiösen Wächterrat, die militärische Fraktion um die Revolutionsgarden und die zivile Regierung um den Hardliner Ebrahim Raisi – also die Islamische Republik als solche – sind die Proteste die größte Gefahr seit langem. Sie sind nicht nur ungewohnt pluralistisch und werden von prominenten und hochrangigen Teilen der Gesellschaft mitgetragen, sondern fordern auch noch ausdrücklich das Ende der Republik. Die Theokratie reagiert mit einem robusten, teilweise brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte bis hin zum tödlichen Einsatz scharfer Munition; Folter in der Haft; und drakonischer Justizverfolgung inklusive Hunderter Todesstrafen. Konzessionen gab es bislang nur sanfte: Die verhasste Sittenpolizei wurde aufgelöst.

Wie geht es 2023 weiter? Weder ein Ende der Proteste noch der Theokratie zeichnen sich derzeit unmittelbar ab. Die Elite ist eng miteinander verflochten und sieht ihr Überleben als Funktion der Existenz der übrigen Teile. Zudem fordern die Protestler nicht weniger als einen vollwertigen Systemumbruch (wobei im internationalen Diskurs womöglich eine gewisse Heterogenität der Bewegung verloren geht). Sollten Militär und zivile Führung die religiöse Führung absetzen, dürfte das nicht genug für die Protestler sein. So oder so: Umbrüche geschehen meist plötzlich (auch wenn sie danach wie das offenkundigste der Welt wirken) und ein Abklingen der Proteste würde sich aufgrund der spärlichen Informationslage erst relativ spät bestätigen. Erwarte also nicht so schnell ein Fazit zu den Iran-Protesten.

Iran: Der komplizierte Gottesstaat – whathappened, Juni 2021

Iran im Aufruhr – whathappened, Oktober 2022

Ostafrika und der Sahel

Der Bürgerkrieg in Äthiopien hat 2022 wieder Fahrt aufgenommen, nachdem er in einer Quasi-Waffenpause, mindestens aber in einem strategischem Patt, ins Jahr gestartet war. Im Spätsommer begann die Zentralregierung wieder eine großangelegte Offensive gegen die Rebellen in der nördlichen Region Tigray, offenbar erneut unterstützt von Truppen aus dem Nachbarland Eritrea und regionalen Milizen. Nach einigen Erfolgen die plötzliche Wende: Anfang November schlossen die Regierung und die Rebellen wie aus dem Nichts einen Waffenstillstand. Dieser scheint seitdem zu halten und stellt die bislang beste Hoffnung auf ein Ende des zweijährigen Bürgerkriegs dar, auch wenn es Berichte darüber gibt, dass eritreische Truppen noch immer in Tigray agieren.

Der Konflikt in Tigray – whathappened, Mai 2021

Der Bürgerkrieg in Äthiopien und die zwei riskanten Strategien – whathappened, August 2021

Der Sahel rückte gerade Anfang 2022 in den Vordergrund, denn die Stimmung zwischen der jüngsten Militärjunta in Mali und der westlichen Anti-Islamisten-Militärmission erreichte einen Tiefpunkt. Frankreich kündigte im Februar seinen Abzug aus dem Land an, in welchem es seit fast einem Jahrzehnt operiert hatte. Damit war auch das Ende der deutschen Militärmission so gut wie beschlossen. Stand Dezember ist sie noch nicht offiziell beendet, doch das bleibt lediglich eine Frage der Zeit.

Sahel: Die Küste und der Gürtel – whathappened, Februar 2022

Sri Lanka

In der ersten Hälfte des Jahres sorgte Sri Lanka ununterbrochen für Schlagzeilen. Steigende Importpreise, insbesondere für Energie, trafen auf jahrelanges wirtschaftliches Missmanagement sowie die Covid-Krise und stießen Sri Lanka in eine Schulden-, dann Finanz- und dann tiefe Wirtschaftskrise. Grundlegende Güter waren nicht mehr ausreichend vorhanden, weswegen es zu schweren Protesten kam, welche die politische Rajapaksa-Dynastie aus der Regierung schwemmten.

Die Lage hat sich seitdem, unter dem neuen Präsidenten Ranil Wickremesinghe, kaum verbessert. Die Protestwelle hat zwar abgeklungen und die Versorgungslücken machen weniger Schlagzeilen, doch die makroökonomische Lage bleibt fragil und mit jeder Woche, in welcher weitere Geschäfte schließen und Einwohner emigrieren, werden neue strukturelle Wunden gerissen. Die Regierung versucht sich an der Krisenbewältigung, in erster Linie, indem sie mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über Finanzhilfen und mit ihren Gläubigen, darunter dem gewöhnlich unwilligen China, über Schuldenschnitte verhandelt.

How a Ruling Family Tipped Sri Lanka Into Economic Free Fall – Bloomberg

Honorable mentions

Peru sorgte Ende 2022 für Schlagzeilen, als Präsident Castillo an einem nervösen Quasi-Selbstputsch gescheitert war und sich im Gefängnis wiederfand. Die Lage im Land bleibt angespannt: Der Ex-Präsident beklagt, dass er in Wahrheit Opfer eines Putsches sei; seine Unterstützer, vor allem aus ländlichen Gegenden, stimmen zu. 

Afghanistan 
blieb auch 2022, im ersten vollen Jahr der Taliban-Herrschaft, ein Land im Zerfall. Vor allem die Frauenrechte wurden rasant zurückgedreht, doch auch die Wirtschaftsentwicklung der vergangenen 20 Jahre verschwindet.

Im benachbarten Pakistan wurde Premier Imran Khan im April abgesetzt und ist der neuen Regierung seitdem ein Dorn in der Seite. Zwischen großen Pro-Khan-Protestmärschen und einem Anschlagsversuch auf den Ex-Premier bleibt das Land vor allem polarisiert. 

Tunesien bot 2022 mehr Grund zur Annahme, dass Präsident Kais “Robocop” Saied die Demokratie abschafft. Eine Parlamentswahl mit 9 Prozent Wahlbeteiligung im Dezember war kein gutes Omen.

Serbien und der Kosovo stritten fast das gesamte Jahr – je nach Ansprechpartner, weil der Kosovo seine staatliche Souveränität betonen wollte oder weil er ethnische Serben im Norden unterdrücke. Der Streit mit mehreren Eskalations- und Deeskalationswellen nahm mitunter schrille militärische Rhetorik an, was wenig Gutes für Serbiens durchaus wichtige Beziehung zur EU bedeutet.

Das EU-Parlament erlebt den wohl größten Korruptionsskandal seiner Geschichte. Die mutmaßliche Bestechung einer Vizeparlamentspräsidentin sowie anderer Mitarbeiter dürfte die Beziehungen zum beschuldigten Drahtzieher Katar belasten und das Parlament in eine Selbstfindungsphase in Sachen Korruptionsprävention treten.

Die Wahlen, an die du dich erinnern musst_

(4 Minuten Lesezeit)

“Er ist wieder da” gilt dieses Jahr für Israels Netanjahu und, hier, Brasiliens Lula. Quelle: WEF

Wahlen sind wichtig, denn sie sind ein Richtungsweiser. 2022 war ein wechselhaftes Wahljahr. Mancherorts siegten moderate Kandidaten gegen Populisten (Frankreich, Brasilien, Malaysia), anderswo setzten sich die Populisten durch (Philippinen, Ungarn). In Brasilien, Kolumbien oder Australien ging es politisch nach links, in Italien, Israel oder Schweden spürbar nach rechts. Die whathappened-Redaktion zieht insgesamt ein positives Fazit, insbesondere aufgrund der Wahlen, in welchen Populisten verloren: Brasilien, Frankreich und die USA (letztere betrachten wir in einem dedizierten Kapitel).

Brasilien

Lula hat im Oktober Amtsinhaber Bolsonaro geschlagen. Damit enden vier Jahre an teils vulgärem Rechtspopulismus mit völliger Arbeitsverweigerung in der Klima- und Umweltpolitik sowie im Covid-Management, doch durchaus robuster Wirtschaftsentwicklung. Die Sorge vor einem radikalen Linksruck – längst nicht unbegründet in Lateinamerika – ist bei Lula gering: Er ist dem Land aus seiner Amtszeit 2001 bis 2010 bestens bekannt. Wichtig hervorzuheben: Das Bolsonaro-Lager monierte nach der Wahl nur relativ gedämpft Betrug, womit sich (von Bolsonaro bewusst geschürte) Sorgen über eine Staatskrise oder Gewaltausbrüche à la USA nicht bewahrheiteten. Ein recht gutes Jahr für Brasilien.

Brasiliens politisches Erdbeben – whathappened, März 2021 (Explainer zu Lula)

Brasilien unter Bolsonaro – whathappened, Oktober 2022

Kolumbien und Chile

Kolumbien wählte mit Gustavo Petro im Juni seinen ersten linken Präsidenten. Seine betont moderate Politik mitsamt Bündnissen mit Zentrumsparteien bringt dem ehemaligen Guerillero bislang legislative Erfolge ein: Er konnte beispielsweise eine Steuerreform durchsetzen und breite Friedensverhandlungen mit den Rebellenmilizen im Land aufnehmen. Vor allem die Gespräche mit der linksextremen ELN, der größten verbleibenden Miliz, scheinen allmählich Fahrt aufzunehmen.

Auch Chile rückte nach links: Der Abgeordnete und frühere Studentenführer Gabriel Boric wurde im März mit gerade einmal 36 Jahren zum Präsidenten gewählt, dem linkesten seit Chiles Militärputsch 1973, nachdem er eingangs kaum genug Stimmen für die Wahlregistrierung zusammenbekommen hatte. Er profitierte von der Unzufriedenheit der Chilenen nach vier Jahren konservativer Pinera-Regierung; seine Botschaft von sozialer Gerechtigkeit verfing sich und sein Image als Außenseiterkandidat kam gut an. Im September erlebte er eine allerdings eine erste große Schlappe: Die Chilenen stimmten gegen einen äußerst linken Verfassungsentwurf. 2023 dürfte es einen erneuten Anlauf geben.

Italien

Technokraten-Premier Draghi hatte Italien seit Anfang 2021 durchaus erfolgreich angeführt, doch im Juli zogen ihm die Linkspopulisten von der M5S den Boden unter den Füßen weg. Das kam insbesondere dem rechten Lager zugute, welches im September eine überzeugende Mehrheit gewann. Die große Siegerin war Giorgia Meloni von der Fratelli d’Italia (FdI), der einzigen Partei, welche sich nie der Draghischen Einheitsregierung angeschlossen hatte. Die faschistischen Wurzeln der Partei sorgten für nachvollziehbare Sorgen bei Beobachtern, doch Meloni schlug früh relativ moderate Töne an – und regiert bislang tatsächlich entsprechend. Mit den machtaffinen Rechtspopulisten Matteo Salvini und Silvio Berlusconi als Koalitionspartnern darf sie sich allerdings nicht auf eine allzu entspannte Amtszeit einstellen.

Whatever it takes, Vol. 2 – whathappened, Februar 2021 (Explainer zu Italiens strukturellen Problemen)

Italien, das Königreich Draghistan – whathappened, Dezember 2021

Israel

Benjamin Netanjahu ist wieder zurück. Die beeindruckend langlebige (sprich, mehr als ein Jahr andauernde) Anti-Netanjahu-Koalition aus acht Parteien zerfiel vor einigen Monaten, also wählte Israel im November zum fünften Mal in dreieinhalb Jahren. Netanjahu siegte, indem er mit zwei ultrarechten Parteien paktierte. Die Koalition bewies früh Spannungen: “Bibis” rechtsextreme Partner verkündeten im Dezember vorfreudig, Diskriminierung gegen Homosexuelle zu legalisieren; der Premier – welcher bislang keine Reputation als Bastion des Liberalismus genoss – musste dazwischengrätschen.

Israels verrückte Innenpolitik – whathappened-Explainer, März 2021

Israel und die Extremisten – whathappened-Update, November 2022 

Malaysia

Dauer-Oppositionschef Anwar Ibrahim ist zum Premierminister in Malaysia ernannt worden. Für ihn endet damit (vorerst) eine jahrzehntelange politische Achterbahnfahrt, in welcher er zeitweise aus kaum versteckten politischen Gründen in Haft saß. Mit Anwar hat Malaysia eine echte Chance auf liberale Reformen, Anti-Korruption und demokratische Stärkung, doch der Premier steht vor einer schwierigen Aufgabe und verwaltet eine fragile Koalition inmitten einer feindseligen Parteienpolitik. Malaysias Flirt mit den Reformen könnte kurz sein.

Anwar Ibrahim: Honeymoon as Malaysian PM will be brutally short – BBC

Honorable mentions

Kasachstan bestätigte Präsident Tokajew und stützt damit dessen Kurs, die alte Elite um Staatsgründer Nasarbajew abzubauen und Russland auf gesunde Distanz zu halten. Frankreich ließ Macron im Amt, doch erniedrigte ihn ein bisschen durch den Entzug der Parlamentsmehrheit (nicht gut für die Regierungsarbeit). In Ungarn blieb Viktor Orbán überraschend unantastbar. Australien schwenkte von den skandalerschütterten Konservativen zur Labour-Partei und schloss sich damit spät der internationalen Klimapolitik an. Schweden erhielt eine seltene Mitte-Rechts-Regierung. In Nordirland wurde die nationalistische Sinn Féin erstmals stärkste Partei, doch die pro-britischen Unionisten blockierten kurzerhand die Regierungsbildung. Die Philippinen haben keine Angst vor Dynastien und wählen Ferdinand Marcos Jr., Sohn eines gleichnamigen Diktators, zum Präsidenten und die Tochter von Ex-Präsident Duterte zur Vizepräsidentin.

Wie geht es 2023 weiter?

Achte im kommenden Jahr vor allem auf die Präsidenten- und Parlamentswahlen in der Türkei. Staatschef Erdogan tritt zum mutmaßlich letzten Mal an und macht keine Anstalten, das Amt gehen zu lassen: Der Bürgermeister Istanbuls, ein politischer Rivale mit reichlich Profil, wurde jüngst von einem Gericht mit einem Politikverbot belegt. Gewählt wird außerdem in Nigeria, einem der einwohnerstärksten Länder Afrikas mit großem Islamismus-Problem; Argentinien, welches wie immer mit einer fragilen Wirtschaft und dem Einfluss der Kirchner-Dynastie ringt; Thailand, welches irgendwo zwischen Demokratie und Militärjunta-Autokratie pendelt; Pakistan, einer Atommacht, in welcher Ex-Premier Khan gegen das Parteienestablishment wettert; sowie Polen, in welchem die nationalkonservative PiS zuletzt an Wählergunst eingebüßt hat. In Deutschland finden derweil Landtagswahlen in Bremen, Bayern, Hessen und, als Wahlwiederholung, Berlin statt.

Deutschland und die Krisen_

(2,5 Minuten Lesezeit)

Besuchte manche Politiker in ihren Träumen, jagte andere in ihren Albträumen: Atomenergie. Quelle:
Markus Distelrath, Pexels

Kriegsbewältigung

Das erste vollständige Jahr der Ampelkoalition war von zwei Megathemen geprägt: dem Ukrainekrieg und der Energiekrise. Mit dem russischen Einmarsch und dem Beginn eines neuen geopolitischen Zeitalters (siehe erstes Kapitel) verordnete sich auch Deutschland einer “Zeitenwende”: 100 Milliarden EUR wurden für die Bundeswehr mobilisiert, welche sie modernisieren, organisatorisch straffen und schlagkräftiger machen sollen. Dazu versprach Kanzler Scholz, das 2-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen. Im Verlaufe des Jahres verlief die Reform der Bundeswehr jedoch schleppend (€), entsprechend stand Verteidigungsministerin Lambrecht (SPD) regelmäßig unvorteilhaft im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die zweite militärische Dauerfrage war jene nach Waffenlieferungen an die Ukraine. Erst wehrte sich der Bund kurzzeitig prinzipiell gegen die Lieferung letaler Waffen, später ging es um zunehmend gewichtige Waffensysteme, zuletzt verweigerte er sich beispielsweise Kampfpanzern, während er bereits hochmoderne Artillerie und Schützenpanzer lieferte. Ein Teil des Landes diskutierte laufend die Adäquanz des deutschen Beitrags – in absoluten Zahlen der drittgrößte unter allen Unterstützern, anteilig am BIP knapp in der Top 15 -, ein anderer rief gerade vor den ukrainischen Gegenoffensiven nach Waffenstillstandsverhandlungen, welche die whathappened-Redaktion als wenig durchdacht kritisierte.

Krisenbewältigung

Abseits des Ukrainekriegs machte sich die Ampelkoalition an die Bewältigung eines Mix aus wirtschaftlichen Herausforderungen sowie die Umstrukturierung der Wirtschaft. Sie erhöhte den Mindestlohn auf 12 EUR und verabschiedete ein “Bürgergeld”, welches trotz vieler Konzessionen an die Opposition ein großzügigeres Hartz IV bedeutet. Im Kern standen jedoch die drei Entlastungspakete in Höhe von 95 Milliarden EUR sowie ein angekündigter “Schutzschirm” für Unternehmen. Die Regierung entschied Steuererleichterungen, günstige ÖPNV-Tickets, mehrere Einmalzahlungen und Gas- sowie Strompreisbremsen. (Änderungen für Verbraucher ab 2023)

Das Thema Energie dominierte den Diskurs, nicht zuletzt als Haupttreiber des Themas Inflation. Während sich die Entlastungspakete an die Symptombekämpfung richteten, versuchte sich der Bund auch an der strukturellen Lösung der Energiefrage. Neue Gesetze sollten den Erneuerbaren-Ausbau erleichtern, Kohlekraftwerke gingen wieder ans Netz, LNG-Terminals wurden im Rekordtempo aus dem Boden gezogen und die Grünen ließen sich zu einem Kompromiss bei der Atomkraft-Verlängerung quetschen.

Die neue Parteientektonik

Die Ampelkoalition gerät bislang zum Glücksfall für die Grünen, deren Minister in der öffentlichen Wahrnehmung eine gute Figur machen (auch wenn Wirtschafts- und Klimaminister Habeck regelmäßig den Balanceakt zwischen Parteibasis und Gesamtgesellschaft üben muss). Als einzige Regierungspartei konnten sie in den Umfragen gegenüber der Bundestagswahl zulegen. Übler sieht es für die Kanzlerpartei SPD und die FDP aus, zweitere hat gar die 5-Prozent-Hürde in Sichtweite. Die Liberalen hoffen nun, im kommenden Jahr ein klareres Profil als Fortschrittsbringer zu etablieren, statt als unglückliche Mehrheitsbeschaffer. Die Union unter ihrem im Januar gewählten Vorsitzenden Friedrich Merz findet in ihre Rolle als Oppositionspartei und legt in den Umfragen zu, ist mit einigem Abstand stärkste Partei – doch bleibt von den Merkeltagen weit entfernt. Die Linke litt durchgehend und baute Mitte des Jahres ihre Parteiführung um; die AfD rückte mit dem Abgang ihres moderaten Vorsitzenden Meuthen zu Beginn des Jahres weiter nach rechts.

Honorable mentions

Der Bund schaffte Paragraf 219a zu Schwangerschaftsabbrüchen ab und brachte eine Cannabis-Legalisierung auf den Weg. Das Bundeskabinett verlor im April Familienministerin Anne Spiegel (Grüne) nach einem Skandal um Falschaussagen. Ein vereitelter “Putschversuch” warf ein Licht auf rechtsextreme Gruppen. Das Land (oder allermindestens die Medien) diskutierten die Klimaprotestbewegung “Letzte Generation“. 

Grund zum Optimismus in den USA_

(2,5 Minuten Lesezeit)

Noch nicht abgeschrieben: Joe Biden. Quelle: Gage Skidmore

Einen neuen Kurs einschlagen

Die USA fanden 2022 wieder etwas zu sich. In den Midterms straften die Amerikaner Wahlleugner, Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker ab und boten den Demokraten einen überraschenden Erfolg, auch wenn diese noch immer das Repräsentantenhaus an die Republikaner aufgeben müssen. Für Präsident Biden war das die gewichtige Kirsche auf seiner legislativen Torte: Seine Partei und er konnten 2022 das erste Klimapaket der USA durchsetzen und bei einem Chipinvestitionspaket, der gesetzlichen Verankerung der Homosexuellen-Ehe, einer (sehr) sanften Verschärfung des Waffenrechts und den Ukrainehilfen überparteilich mit einigen Republikanern zusammenarbeiten. In Anbetracht der Polarisierung des US-Kongress ist das bemerkenswert.

Die USA im Jahr 2022 – whathappened, November 2022

Vor allem der Ukrainekrieg geriet zur finest hour der Biden-Regierung. Dank ihrer ungewöhnlichen Veröffentlichung von Geheimdienstinformationen Ende 2021 und der frühen Koordination mit westlichen Partnern bot der Westen eine vereinte Front gegen Russland, welche schnell Sanktionen verhängen und Waffenlieferungen beginnen konnte. Seitdem haben die USA fast 50 Milliarden USD an Finanz- und Militärhilfen an die Ukraine geleistet – Hilfen vor dem 24. Februar gar nicht eingerechnet.

Die Nicht-mehr-völlig-Trump-Partei

Waren es 2021 noch die Demokraten, welche mit Flügelkampf auf sich aufmerksam machten, so übernahmen 2022 die Republikaner die Rolle. Ex-Präsident Trump hatte die meisten seiner Kandidaten erfolgreich durch die republikanischen Primaries bringen und für die Midterm-Wahlen platzieren können, doch darin scheiterten die meisten kolossal. Trumps parteiinterne Reputation, ohnehin nicht mehr einwandfrei, erlitt einen weiteren Schaden. Interne Rivalen wie Florida-Gouverneur Ron DeSantis gehen gestärkt in das kommende Jahr. Es könnte auf einen Showdown hinauslaufen, denn Trump hat seine Kandidatur 2024 bereits verkündet.

Ohnehin war es für Trump kein angenehmes Jahr. Mehrere Ermittlungen gegen ihn nahmen Fahrt auf: Das Justizministerium verfolgt ihn aufgrund mutmaßlichen Diebstahls von Geheiminformationen; ein Untersuchungsausschuss im Kongress ließ seinen Versuch, die Wahl 2020 zu kippen, im Stile einer TV-Serie öffentlich sezieren (mit der Kapitolerstürmung als Staffelfinale); ein anderer Ausschuss veröffentlichte seine Steuerunterlagen; und in New York wurde gleich doppelt gegen ihn oder seine Firmen ermittelt.

Trials, pardons, prison time: How Trump’s legal woes could play out and what it means for 2024 – Business Insider

Der Kulturkampf

Die USA bewiesen 2022 erneut, dass sie ein zutiefst polarisiertes Land sind. Der konservativ dominierte Supreme Court rückte in den Vordergrund: Er schwächte die Trennung von Staat und Religion, liberalisierte das Waffenrecht, attackierte die staatliche Klimapolitik und hob die staatliche Verankerung von Abtreibungen auf. Damit mischte sich die eigentliche apolitische Institution in höchstbrisante tagespolitische Fragen ein. Kein Wunder, dass nur ein Viertel der Amerikaner den Court im Juni noch als legitim betrachtete.

Abtreibungen und die Politik – whathappened, Mai 2022

Wie geht es 2023 weiter? Die zwei großen Fragen, welche sich die whathappened-Redaktion stellt: Wird Joe Biden eine erneute Kandidatur ankündigen? Die jüngsten Erfolge des Präsidenten stärken seine Hand, innerparteilich geben ihm selbst die meisten progressiven Abgeordneten inzwischen ein Vorzugsrecht. Und schütteln die Republikaner nach den desaströsen Midterms die rechtspopulistische Trumpisten-Fraktion etwas ab, oder sind sie von ihr dafür bereits zu sehr vereinnahmt? Darüber hinaus sind es vor allem wirtschaftliche Fragen: Fallen die USA in eine Rezession? Wohin geht die Inflation? Welchen Kurs schlägt Biden in seiner Industriepolitik ein?

Großbritanniens Chaosjahr_

(1 Minute Lesezeit)

Hat schonmal die meisten Salatköpfe geschlagen: Rishi Sunak. Quelle: Simon Dawson / No 10 Downing Street

Ein Jahr zum Vergessen für Großbritannienwelches drei Premierminister und zwei Monarchen innerhalb weniger Monate zwischen Sommer und Herbst erlebte. Boris Johnson erreichte irgendwann den Skandal, der das Skandalfass zum Überlaufen brachte, und trat unter viel innerparteilichem Druck ab. Die Parteimitglieder der konservativen Tories stimmten für Außenministerin Liz Truss, deren Pläne bei Fachleuten auf sehr wenig Gegenliebe trafen, doch in der Parteibasis Thatchersche Nostalgie und Brexit-Zukunftsoptimismus auslösten. Stattdessen sorgten sie für einen bemerkenswerten Finanzmarktkollaps.

Truss’ Pläne zu schuldenfinanzierten Steuersenkungen waren an den Märkten äußerst schlecht aufgenommen worden; Aussagen von Schatzkanzler Kwasi Kwarteng, wonach ihm die Märkte egal seien, halfen nicht. Der Pfund und Staatsanleihen verloren schlagartig; kurzzeitig wackelten mehrere große Pensionsfonds und die Zentralbank musste eingreifen. Wenige Wochen (und 180-Grad-Kehrtwenden) später war Truss aus dem Amt vertrieben und Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak, schon bei der Johnson-Nachfolge der Favorit des Parteiestablishments, übernahm. In den Monaten seitdem war Großbritannien zumindest ruhiger. Die alten Brexit-Bauchschmerzen, hartnäckige Inflation, rekordbrechende Streikwellen. Doch zumindest keine neuen Premierminister, keine neuen Monarchen.

Xi trägt China in seine dritte Ära_

(2 Minuten Lesezeit)

Quelle: Defense Visual Information Distribution Service

Eine normenbrechende dritte Amtszeit, die Entfernung aller politischer Lager aus dem Politbüro: China im Jahr 2022 ist nicht mehr dasselbe der drei Jahrzehnte zuvor. Präsident Xi hat formell vollzogen, was Beobachter seit Jahren monieren: Die größte Machtzentralisierung seit Mao Zedong. Der symbolischste Moment beim 20. Parteikongress im Oktober, bei welchem seine Machtergreifung formalisiert worden ist, war die unerklärte Entfernung von Ex-Präsident Hu Jintao. Das war das deutlichste Zeichen, dass Xi nur noch Loyalisten in der Führungsriege toleriert – das und die Besetzung des Politbüros und des Ständigen Ausschusses des Politbüros (PSC), dem höchsten Gremium des Landes, bei welchen die klassischen Fraktionen komplett abserviert worden sind.

Es ist die dritte Ära Chinas: Mao baute die Nation auf, isolierte sie vom Ausland und traumatisierte Wirtschaft und Gesellschaft mit einem radikalen Agrarkommunismus. Deng Xiaoping und seine Nachfolger ließen die Marktwirtschaft einziehen, öffneten China dem Rest der Welt und machten das Land zu einer der spektakulärsten Erfolgsstorys der Menschheitsgeschichte. Xi Jinping bringt den Personenkult zurück, zähmt den Kapitalismus und führt ein China an, welches sein “Jahrhundert der Demütigung” abgeschüttelt hat und seine Interessen global offensiv vertritt. Fast 111 Jahre nach dem Abtritt des letzten Kaisers steht China vor einem imperialen Déjà-vu. 

Xi Jinping und Chinas dritte Ära – whathappened, Oktober 2022

Xis China und seine Tiger – whathappened, März 2021

Zero Covid

Bei allem Selbstbewusstsein wurde China 2022 zugleich von seiner Zero-Covid-Politik eingeholt, welche dem Land zwei Jahre lang sozialen Frieden, wirtschaftliche Stabilität, Überlegenheitsgefühle und Isolation gebracht hatte. Die Omikron-Variante zwang lokale Behörden zu immer radikaleren Maßnahmen, bis hin zu brutalen Lockdowns in Großstädten wie Shanghai. Produktionsstopps und Arbeitsverbote zwangen die Wirtschaft in die Knie. Bis zum Spätherbst – als der Rest der Welt gerade masken- und lockdownfrei die Fußball-WM feierte – erreichte die Stimmung im Land einen Siedepunkt. Ungewöhnlich intensive, ungewöhnlich breite Proteste brachen aus. Obwohl die Unruhen nach einigen Tagen niedergeschlagen waren, reagierte Peking mit einer 180-Grad-Wende: Innerhalb weniger Wochen waren die strengsten Covid-Maßnahmen der Welt vollständig abgebaut. Stattdessen stellt sich das Land nun auf Hunderte Millionen Infektionen und möglicherweise über eine Million Tote ein. Das Gesundheitssystem ist schon jetzt überfordert, die Impfquote ist niedrig.

Chinas wirtschaftliche Bewährungsprobe – whathappened, Juni 2021

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