Der Inflation Reduction Act und sein transatlantischer Streit

Der Inflation Reduction Act und sein transatlantischer Streit

Ein Gesetz, welches weit über die USA hinaus Auswirkungen haben wird. Und Fragen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft berührt.

Der Weg zum IRA | Was steht drin? | Ärger im Atlantik
(12 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Der Inflation Reduction Act (IRA) mobilisiert 391 Milliarden USD für die Klimapolitik in den USA und 108 Milliarden für den Gesundheitssektor. Es ist das erste große Klimapaket der USA auf nationaler Ebene.
  • Die Emissionen des Landes könnten um bis zu 83% stärker sinken, als es ohne IRA der Fall gewesen wäre.
  • Der Weg zum Paket war übrigens reichlich dramatisch – mehrfach schien es, dass das Bidensche Flaggschiffprojekt tot sei.
  • In Europa (und anderswo) führt der IRA mit seinen Steuergutschriften und Kaufprämien allerdings zu Ärger: Was, wenn Firmen abwandern? Droht ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit?
  • Das führt zur realistischen Gefahr eines transatlantischen Handelskriegs – doch noch laufen die Verhandlungen, um diesen zu vermeiden.
  • Spannender ist wohl die Frage, ob der IRA und der Diskurs drumherum endgültig ein Comeback der Industriepolitik bedeuten: Der Staat drängt ordnungspolitisch in die Wirtschaft. Das finden manche wichtig, andere furchtbar.

Der Weg zum IRA_

(4 Minuten Lesezeit)

Am 16. August 2022 durfte US-Präsident Joe Biden endlich den Stift ansetzen. Der Inflation Reduction Act (IRA) war vom Kongress bestätigt worden und würde jetzt zum Gesetz. Der IRA ist nicht weniger als das größte sowie erste (und auf absehbare Zeit letzte) signifikante Klimapaket der USA. Es soll dem Staat mittels einer Steuerreform rund 738 Milliarden USD an Umsatz einbringen und im Gegenzug 391 Milliarden USD für energie- und klimapolitische Ziele ausgeben. Weitere 108 Milliarden USD fließen in den Gesundheitssektor. Bleiben 238 Milliarden USD, um Schulden zurückzuzahlen.

Noch nie haben die USA mehr in die Klimatransformation investiert. Und obwohl das nach einem geteilten Ziel klingt, war Europa selten so nervös ob dessen, was die USA im eigenen Land tun. Nicht nur das: Der IRA wirft grundlegende Fragen darüber auf, wie das Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft im laufenden Jahrzehnt funktioniert. Ein Blick lohnt sich also nicht nur für USA-Interessierte. Was hat es mit dem IRA auf sich?

Ein langer Weg

Der Weg zum IRA war lang, sehr lang. Nach seinem Wahlsieg im November 2020 hatte Joe Biden ein Investitionspaket vorgestellt, welches nach jedem Maßstab gigantisch war: Der Build Back Better Act (BBB) sollte rund 4 Billionen USD für fast jedes erdenkliche Thema mobilisieren, von Klima und Umwelt über Migration, Gewerkschaften, Verkehr, Infrastruktur, Digitalisierung und Gesundheitswesen bis hin zu Sozialausgaben – vielen, vielen Sozialausgaben. Es wären 17 Prozent des US-BIPs, welche über zehn Jahre in die Wirtschaft geflossen wären. Zum Vergleich: Das historische Konjunkturpaket der EU, der Next-Generation-EU-Wiederaufbaufonds, ist “nur” 750 Milliarden EUR schwer (ca. 804 Milliarden USD) und entspricht damit rund 5 Prozent des BIP. Noch nie seit dem “New Deal” unter Roosevelt im Zuge der Great Depression 1929 haben die USA so viel Geld mobilisiert.

Gut zu wissen: whathappened widmete dem BBB im April 2021 einen Explainer namens “Bidenomics” (in welchem von einer geringeren Summe die Rede ist, da der “American Families Plan” als dritte Säule einige Tage später hinzugekommen war). Schon darin hatten wir Inflations- und Handelsstreitrisiken diskutiert.

Heftige Diskussionen brachen aus. Im Kern ging es seinerzeit nicht nur um das Gesetz per se, sondern die gesamte Ausgaben- und Wirtschaftspolitik des Präsidenten. Einige Beobachter blickten euphorisch auf eine soziale, physische, digitale und klimapolitische Transformation der USA; andere warnten vor ebendieser. Selbst unter den inhaltlichen Unterstützern (und umso mehr unter den Gegnern) gab es Sorgen über rasante Inflation und hohe Verschuldung, schließlich hatte Biden zuvor bereits 1,9 Billionen USD auf die Covid-Konjunkturbelebung geworfen. Viel Geld in wenig Zeit, welches die Wirtschaft überhitzen könnte.

Keine Sorge, der BBB ist nicht die Quelle der heutigen “Inflationskrise”. Er wurde nie zum Gesetz. Das demokratisch kontrollierte Repräsentantenhaus stimmte ihm zu, doch der ebenso demokratisch kontrollierte Senat, die zweite Kammer im Kongress, blockierte ihn. Denn wo die Transformation die Progressiven begeisterte, also die Demokraten am linken Flügel, besorgte sie einige Moderate, also jene am rechten Flügel. Aufgrund der hauchdünnen Mehrheit von einer einzigen Stimme und der absoluten Opposition der Republikaner konnten sich die Demokraten allerdings keinen einzigen Abweichler leisten.

Der verhassteste Senator des Planeten

Ein tiefer innerparteilicher Streit brach aus. Die prominentesten Kritiker Kyrsten Sinema und Joe Manchin, beides Demokraten, welche seit Jahren in den konservativen Bundesstaaten Arizona und West Virginia politisch überleben, verlangten Verhandlungen. Die Progressiven drohten im Gegenzug, ein überparteiliches Infrastrukturpaket zu blockieren. Die Kritiker saßen jedoch am längeren Hebel und die Progressiven gaben das Infrastrukturpaket im Herbst 2021 aus der Geiselhaft. Der gigantische BBB wurde derweil in den Verhandlungen kontinuierlich heruntergestutzt.

Sinema gab ihre Opposition irgendwann auf, doch Manchin blieb standfest. Der Senator wurde offenbar von einer Einschätzung der Haushaltsbehörde Congressional Budget Office (CBO) schockiert, wonach der BBB das Haushaltsdefizit um einige Hundert Milliarden, womöglich gar Billionen, Dollar erhöhen würde. Zeitgleich begann die Inflationsrate zu steigen und zum dominierenden Thema in den Nachrichten zu geraten. Mitte Dezember 2021 erklärte Manchin bei Fox News – im Feindeslager, sozusagen -, dass er das Flaggschiffprojekt seiner eigenen Partei nicht unterstützen werde. Es wirkte wie ein feindseliger Abbruch der Verhandlungen. Die Demokraten und das Weiße Haus waren wütend; Manchin geriet zum Hassobjekt. Aktivisten fuhren mit Kayaks vor Manchins Hausboot und hielten laute Proteste ab.

Sag niemals nie

Auch im Hintergrund, im politischen Betrieb, herrschte Schock, doch schon nach kurzer Zeit wurden wieder die Gespräche aufgenommen. Politische Freunde, Parteimitglieder und Persönlichkeiten wie Unternehmer und Klimaaktivist Bill Gates unterhielten sich mit Manchin, wirkten auf ihn ein, vom medialen Scheinwerferlicht unbemerkt. Nach geheimen Verhandlungen wurde im Juli überraschend (selbst für die meisten Kongressabgeordneten) die Einigung verkündet: Eine bedeutend verkleinerte Variante würde es zum Gesetz schaffen. 390 Milliarden USD anstelle von 3,5 Billionen USD, doch besser als nichts. Manch Demokrat (und Nicht-Demokraten sowieso) dürfte sich insgeheim über das kleinere Preisschild gefreut haben. Für Präsident Biden war es nach einem Jahr Geburtsprozess der bislang größte Erfolg seiner Präsidentschaft.

Gut zu wissen: Bloomberg hat einen Longform-Artikel verfasst, in welchem sie die dramatische Entstehungsgeschichte rund um BBB/IRA aufarbeiten und die Rolle von Bill Gates in den Verhandlungen zwischen Manchin und dem demokratischen Parteiapparat beleuchten.

Aus dem Buid Back Better Act war zu diesem Zeitpunkt der Inflation Reduction Act (IRA, “Inflationssenkungsakt”) geworden. Der Name diente dazu, einen Anknüpfpunkt zum neuen Lieblingsthema der US-Öffentlichkeit zu schaffen. Doch was steckt eigentlich im IRA? Und warum spielt es auch für den Rest der Welt eine Rolle?

Was steht drin?_

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Geld für die Gesundheit

Der IRA lässt sich im Grunde in drei Säulen trennen. Erstens, die Ausgaben für Gesundheit. Das Paket verlängert Gesundheitssubventionen im Zuge der Krankenversicherung American Care Act (ACA), also “Obamacare”. Für Menschen, welche die staatliche Krankenversicherung Medicare nutzen, deckelt es außerdem die Preise für Insulin und bremst die erlaubten Preissteigerungen für Medikamente allgemein. Mindestens fünf Millionen Amerikaner im Medicare-Programm, welche bislang mit Medikamentenkosten zu kämpfen hatten, werden profitieren. Das kostet insgesamt 108 Milliarden USD. Doch der IRA erlaubt Medicare erstmals, mit Pharmaunternehmen um die Medikamentenpreise zu verhandeln, womit die spektakulär hohen öffentlichen Gesundheitskosten in den USA endlich etwas zurückgehen dürften. Zusammen mit einigen weiteren Sparmaßnahmen spart sich der Staat insgesamt 281 Milliarden USD im Gesundheitsbereich, so die unabhängige Haushaltsbehörde CBO. Mehr

Gut zu wissen: Die USA geben etwa 19 Prozent des BIP für ihren Gesundheitssektor aus, fast doppelt so viel wie andere Industriestaaten. Deutschland, das ausgabenintensivste Land der EU, gibt unter 12 Prozent aus.

Geld für den Staat

Zweitens, Steuern. Der IRA führt eine neue Mindeststeuer auf große Unternehmen von 15 Prozent ein, was der nationalen Umsetzung eines 2021 beschlossenen Abkommens zwischen 136 Staaten auf OECD-Ebene entspricht. Das bringt laut dem CBO 222 Milliarden USD ein. Daneben gibt es mehr Geld für den Steuervollzug durch die Behörde IRS, um die schätzungsweise 440 Milliarden USD jährlich – 16 Prozent der gesamten Steuerlast – welche sie einfach nicht eingezogen bekommt, zu verringern. Zu guter Letzt folgt noch eine Steuer auf Aktienrückkäufe von Unternehmen und einige weitere kleine Regelungen. Insgesamt erwartet das CBO 457 Milliarden USD an neuen Einnahmen.

Geld für die Klima-Transformation

Drittens, die KlimatransformationDabei handelt es sich um den größten und ausgabestärksten Block des IRA. Die Details sind zahlreich und überwältigend, doch im Grunde geht es darum, die amerikanischen Industrien und Verbraucher von fossilen Energien zu grünen Energien zu bewegen. Das Mittel der Wahl sind großzügige Steuergutschriften und Kaufprämien, welche es für Unternehmen und oder Verbraucher künftig auf grüne Stromproduktion, grüne Industrieproduktion, Elektroautos, Carbon Capture and Storage (CCS), also Einfangen und Einspeichern von CO₂-Emissionen, und vieles Weiteres geben wird. Der größte Block darin, “Clean Electricity Tax Credits” mit 161 Milliarden USD, bezieht sich unter anderem auf neue Anlagen für erneuerbare Energien, Atomkraft und Wasserstoff. Daneben führt IRA Strafen für zu hohen Methanausstoß und neue Gelder für den Umweltschutz ein. Insgesamt fließen 391 Milliarden USD in die Klima- und Umwelt-Maßnahmen.

Modellierungen gehen von hohen Auswirkungen auf die Emissionen der USA aus. Die Rhodium Group schätzt beispielsweise, dass bis 2030 eine Senkung gegenüber 2005 von 31 bis 44 Prozent erreicht werden würde. Der “prä-IRA”-Emissionspfad lief dagegen auf 24 bis 35 Prozent Reduktion hinaus. Das Paket könnte also bis zu 20 Prozentpunkte oder 83 Prozent mehr Klimaeffekt bedeuten – und zwar in der größten Volkswirtschaft der Welt, mit globaler Signalwirkung. Jeder Prozentpunkt in den USA spielt für die weltweite Klimapolitik eine außerordentliche Rolle. Der IRA sei ein “game changer”, so Rhodium. Andere Analysten stimmen zu. Die American Clean Power Association (ACP) erwartet jährlich 66 Gigawatt an neuen Energiespeichern sowie Solar- und Windkapazitäten über das nächste Jahrzehnt, gegenüber 28,5 Gigawatt im bisherigen Rekordjahr 2021.

Gut zu wissen: Um ihre Ziele im Rahmen des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, müssten die USA ihre Emissionen bis 2030 um 50 bis 52 Prozent gegenüber 2005 senken. 

Inflation… Reduction Act?

Ein Blick auf die Zahlen erklärt auch den NamenDer Inflation Reduction Act “entzieht” der Wirtschaft tatsächlich mehr Geld, nämlich 738 Milliarden USD, als er per Ausgaben oder Steuergutschriften “hineingibt”, nämlich 457 Milliarden USD. In der Kurzfrist wird er zwar nichts an der Inflation bewirken – der Name bleibt ein Marketinggag -, doch mittelfristig dürfte er zumindest keine Überhitzung der Wirtschaft herbeiführen. Mit den netto 238 Milliarden USD Überschuss werden außerdem Staatsschulden der USA abbezahlt. Zwar nur unter ein Prozent der 31,5 Billionen USD Schuldenlast, doch das ist wohl besser als nichts. 

Gut zu wissen: Alle Zahlen und Berechnungen, welche wir hier vorstellen (es sei denn, anders angegeben) basieren auf den Zahlen des unabhängigen CBO. Die Berechnungen des Finanzministeriums sind noch optimistischer, aber womöglich etwas weniger zuverlässig. In der medialen Berichterstattung werden meist die Zahlen der Regierung wiedergegeben.

Für die USA wird der IRA weitreichende Konsequenzen haben. Eine teilweise Transformation der US-Wirtschaft ist in Anbetracht der mobilisierten Summen praktisch unvermeidbar. In der Trifekta mit dem Infrastrukturpaket Bipartisan Infrastructure Law (BIL) und dem Halbleiterpaket CHIPS & Science Act bringt der Staat rund 2 Billionen USD an Geldern auf den Weg, für Klima, Gesundheit, Infrastruktur, Halbleiter und Grundlagenforschung. Von den ursprünglichen Prioritäten des BBB mussten nur Sozialausgaben in hohem Maße auf den Schafott, darüber hinaus konnte die Biden-Regierung einen Großteil ihrer legislativen Ziele umsetzen, wenn auch nicht ganz so gradlinig und weitreichend wie erhofft.

Nicht perfekt, aber ein Anfang

Selbstverständlich kommt der IRA kommt wie alle anstrengend ins Leben gequetschten Gesetze mit vielen Schwachstellen daher. Einige Kritik ist ungerechtfertigt: Dass einige Klimagruppen es einen “Klimasuizidpakt” nannten, weil es auch fossile Energien fördert, ist ein absurdes Missverständnis der Zahlen: Für jede “geschaffene” Tonne Treibhausgasemissionen (THG), baue der IRA 24 Tonnen ab, so das Analysehaus Energy Innovation. Andere Kritik ist nachvollziehbar: Bei (Klima-)Ökonomen beliebtere Modelle wie ein CO₂-Preis oder ein Emissionshandelssystem ließen sich politisch nicht umsetzen, da die Demokraten ihre hauchdünne Mehrheit nur für haushaltsrelevante Maßnahmen einsetzen dürfen. Für alles andere bräuchten sie zehn Republikaner im Boot. Deswegen also Steuergutschriften und Verbraucherprämien statt fundamentaler Systemreformen.

Ärger im Atlantik_

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Buy American, in America

Die USA sind endlich Teil der globalen Klimabemühungen, reformieren ihren heimischen Gesundheitssektor und setzen ein internationales Steuerabkommen um. Was gibt es am IRA nicht zu mögen? Das ist keine rhetorische Frage: Warum genau streiten sich Brüssel und Washington über den IRA?

Die kurze Antwort ist, dass der IRA an mehreren Stellen ausschließlich amerikanische Firmen unterstützt. Grüne Energieanlagen erhalten einen zusätzlichen Steuerbonus von 10 Prozent, wenn das in ihnen verbaute Material aus den USA stammt. Bei sogenannten Fertigprodukten – also verarbeitetes Material, im Gegensatz zu Rohstoffen wie Eisen oder Werkstoffen wie Stahl – genügt es, wenn 20 bis 40 Prozent der Herstellungskosten inländisch verortet sind. “Local-Content”, heißt das; nur Kanada und Mexiko, mit welchen es Handelsabkommen gibt, sind eingeschlossen. Die Kriterien für Elektroauto-Steuergutschriften verengen derweil den Kreis der Profiteure auf amerikanische Hersteller. Es ist America First, diesmal in der Biden-Version.

Der letzte in Europa macht das Licht aus

Die großzügigen US-Subventionen bedeuten allerdings, dass weniger amerikanische Firmen künftig den Schritt nach Europa machen – und es einige Firmen von dort über den Atlantik ziehen könnte. Da wäre Autobauer Ford, welcher in Europa Tausende Stellen streicht und zeitgleich in Michigan eine neue Batteriefabrik errichtet, oder Rivale Tesla, welcher vergangenes Jahr zeitweise den Bau seiner Batteriefabrik in Brandenburg pausierte, um zu prüfen, ob er nicht lieber ins Heimatland ausweichen sollte. Auch europäische Firmen sind gegen die Verlockung niedrigerer Kosten und attraktiver politischer Dynamik nicht immun: Die schwedische Batteriefirma Northvolt wird ihr Werk in Schleswig-Holstein – der “größte industriepolitische Erfolg seit Jahrzehnten”, so Ministerpräsident Daniel Günther – womöglich doch nicht bauen. Italiens Energiekonzern Enel wird eine große Solaranlage in den USA errichten. Autobauer BMW steckt rund 1,7 Milliarden USD in neue E-Auto- sowie Batteriekapazitäten auf der anderen Seite des Atlantiks. Die öffentliche deutsche Außenhandelsgesellschaft Germany Trade & Invest (GTAI) erklärt, dass Umleitungen von Investitionen in die USA “wahrscheinlich” seien. Alarmstufe Rot in den europäischen Hauptstädten.

Brüssel protestiert also seit Herbst 2022 in Washington und fordert, “Verbesserungen” im IRA umzusetzen – sprich, die “Buy American”- und “Local-Content”-Regelungen aufzulockern und europäische Firmen profitieren zu lassen. “Diskriminierungen” beklagt der deutsche Industrieverband BDI. Die EU-Finanzminister werten neun Punkte im IRA als Verstoß gegen Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) und sehen den Plan als “Gefahr für die europäische Industrie“. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck beklagte, dass grüne Investitionen aus Europa “weggesaugt” würden. Gerade aus Frankreich kommen Rufe nach einer eigenen “Buy European“-Strategie. Subventionen sollten mit Subventionen gekontert werden, so die Idee. Auch die EU-Kommission nähert sich ihr an und schlägt die Lockerung von Beihilferegelungen vor. Da das jedoch kleinere Mitgliedsstaaten der Finanzkraft der größeren unterwirft und die Balance im Binnenmarkt gefährden würde, müsste auch noch ein Ausgleichfsfonds her. All das führt bei einigen Beobachtern zu Unwohlsein: Was wenn ein waschechter Handelskrieg ausbricht, ein Subventionsrennen? Die EU hätte vermutlich nicht die Kapazitäten, bei diesem mitzuhalten. Der BDI und andere Industrieverbände raten ausdrücklich von einem Kräftemessen ab.

Also hofft Europa derzeit auf eine andere Strategie: Verhandlungen mit den USA; eine Arbeitsgruppe tagt seit Monaten. Bei diesen gibt es durchaus bereits Erfolge. Importierte Leasingautos, welche fast 50 Prozent der Autoexporte ausmachen, werden offenbar unter die IRA-Bestimmungen fallen. Selbst bei den “Local-Content”-Regeln zeichnet sich etwas Bewegung ab, womit europäische Herstellung ebenfalls unter die IRA-Quoten fallen könnte. Stand Mitte Februar 2023 sind die Verhandlungen noch nicht fertig. Die Drohkulisse der EU, wie sie im Falle eines Scheiterns auf den IRA reagieren würde, allerdings auch nicht.

Gut zu wissen: Nicht nur Europa ärgert sich über den IRA, auch Südkorea oder China melden Kritik an. Nichts zu hören ist seitens Kanadas und Mexikos, welche, wie erwähnt, dank ihrer Handelsabkommen mit den USA unter die Bestimmungen des Pakets fallen.

Kein Weltuntergang in Sicht…

Die Sorgen Europas sind teilweise gerechtfertigt, teilweise Fehl am Platz. Ein Grund für die Abwanderung ist nicht nur, dass die USA plötzlich Geld ins Schaufenster stellen, sondern auch, dass Europa mit komplizierter Regulation und äußerst teurer Energie (ganz unabhängig von der laufenden Energiekrise) Firmen zur Hassliebe einlädt – also eigene Strukturnachteile lösen muss. Zudem ist noch gänzlich unklar, wie viel Abwanderung und Ausschluss überhaupt stattfinden wird. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berichtet, dass die “Local-Content”-Regeln schwierig umzusetzen sein werden, da die USA 76 Prozent ihrer kritischen Rohstoffe aus Staaten ohne Handelsabkommen beziehen. Und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht bislang nur “Einzelfälle” von Abwanderungen, welche nämlich zu kompliziert seien, um nur durch ein wenig Subventionen und Steuervergünstigungen auf einem anderen Kontinent bedingt zu werden.

Auch hat der IRA positive Seiten für Europa. Da wäre der amerikanische Beitrag zum Klimaschutz, lange vermisst. Europa profitiert von grünen Technologien, welche in den USA entstehen – vielleicht gelingt es so ja schneller, Speicher- und CCS-Technologien endlich skaliert zu bekommen. Es profitiert auch von den Batterien, die dort produziert werden, da in den kommenden Jahren weltweit reichlich benötigt werden. Mehr grüne Wirtschaftsaktivität in den USA wird mehr Geschäft für Zulieferer anderswo bedeuten, auch wenn diese nicht von den Subventionen profitieren. Und insofern als dass der IRA Lieferketten aus dem Systemrivalen China in den Westen zurücklockt, ist das auch ein Erfolg für Europa.

… doch dafür Industriepolitik

Letzten Endes berührt der IRA und der Streit drumherum tiefere Fragen, nämlich das Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Plötzlich ist Industriepolitik wieder en vogue, also das Steuern der Wirtschaft durch den Staat. Das lädt nach klassischem Ökonomieverständnis Ineffizienzen ein, doch kann bestimmte Branchen auf Kosten der Gesamtwohlfahrt stärken, was politisch erwünscht sein mag. Manche Beobachter sehen Industriepolitik als arrogant-ineffiziente Wohlstandszerstörerin, andere (Frankreich!) als zentrale staatliche Aufgabe und Marktversagensverhinderin. Dazu kommt die Prise Protektionismus: Buy American, Buy European – als Joe Biden Ende Januar auf die internationale Kritik am IRA angesprochen wurde, erklärte er: “Ich werde international dafür kritisiert, dass ich mich zu sehr auf Amerika konzentriere. Zum Teufel damit.” Und bei seiner Rede zur Lage der Nation: “Wir werden sicherstellen, dass die Lieferkette für Amerika in Amerika beginnt”. Protektionismus bedeutet noch mehr Ineffizienz und internationalen Ärger obendrein. Doch er dient in erster Linie eben auch einer innenpolitischen Kalkulation. 

In diesem Sinne hat der IRA viel über die nächsten Jahre auszusagen. Aktuell, in seinen Anfangstagen, kennen wir vorerst nur die Fragen: Wie sehr wird sich der Emissionspfad der USA, das Antlitz ihrer Industrie verändern? Wird das transatlantische Wirtschaftsverhältnis von Kooperation oder Misstrauen gezeichnet? Obsiegt Protektionismus oder Liberalismus? Und wie viel Staat gehört ins Wirtschaftssystem? Es könnte sich um die Anfangstage großer Veränderungen handeln.

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