Wir erproben eine Änderung im Format: Anstelle eines breiten Themenüberblicks eine Handvoll Mini-Explainer. Mehr Tiefe, weniger Breite. Was hältst du davon?
Das Trump-Quartett | BRICS verstehen | No more WFH
(insgesamt 18 Minuten Lesezeit)
Der Tisch in den USA ist gedeckt_
(8 Minuten Lesezeit)

Turbovariante: Fälle um Schweigegeld, Geheimdokumente, Verschwörung und Wahlbeeinflussung jagen den Ex-Präsidenten. Ein Überblick.
Das Quartett ist komplett: Alle vier großen Anklagen gegen Donald Trump sind erhoben. Die whathappened-Redaktion hat sich stets Mühe gegeben, sie schön auseinanderzuhalten, doch Lesern sei es verziehen, wenn sie zwischendrin den Überblick verloren haben. Zeigen wir also kurz chronologisch auf, was die Anklagen sind – und was sie, soweit wir es heute einschätzen können, für die Präsidentschaftswahl 2024 bedeuten.
Fall #1: Das Schweigegeld (in New York)
Schon im April wurde Trump in 34 Fällen der Fälschung von Geschäftsunterlagen angeklagt, die erste strafrechtliche Anklage gegen einen Ex-US-Präsidenten überhaupt. Konkret geht es darin um 130.000 USD, welche er der Pornodarstellerin Stormy Daniels (Stephanie Clifford) vor der Präsidentschaftswahl 2016 gezahlt haben soll, damit diese über eine mutmaßliche Affäre 2006 schwieg. Die Zahlung nahm Trumps damaliger Anwalt Michael Cohen vor. Trump erstattete ihm das Geld über seine Familienholding zurück.
Das juristische Problem am “hush money“-Fall nicht die Zahlung per se, denn Schweigegeld ist nicht illegal. Ankläger Alvin L. Bragg, Bezirksstaatsanwalt aus Manhattan, wirft Trump vor, 34 Mal Geschäftsunterlagen gefälscht zu haben, um das Schweigegeld zu vertuschen. Er will es aber nicht bei diesem “misdemeanor“, also einer Ordnungswidrigkeit, belassen, sondern Trump eine “felony“, also ein Verbrechen, nachweisen. Dafür muss Bragg beweisen, dass das Vergehen stattfand, um eine schwerwiegendere Tat zu ermöglichen. Er hat zwei Wege auserkoren: Ein Bruch von Wahlkampfgesetzen und von Steuergesetzen.
Mit den Wahlrechtsverstößen würde der Vorwurf wohl so lauten: Die Vertuschung der Schweigegeldzahlung habe dazu gedient, die Trump-Wahlkampagne 2016 vor einer negativen Story zu bewahren und so die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dafür hatte Trump ein Abkommen mit American Media Inc., Mutterfirma des rechten Mediums National Enquirer, geschlossen, welche negative Storys über Trump aufkaufte und neutralisierte (“catch and kill“). Die Steuer-Variante konzentriert sich darauf, dass Trump das Schweigegeld als Geschäftsausgabe verbuchte, um Steuern zu sparen. Im Gegenzug deklarierte Michael Cohen die Erstattung als Einkommen.
Die Anklage ist wacklig, denn Braggs Narrativen für eine felony sind angreifbar: Wie verbrecherisch ist es, dass Trump eine negative Story verhindern wollte? Und ironischerweise machte der Staat durch die Schweigegeldzahlung mehr Steuerumsatz, da Cohens “Einkommen” mit einem deutlich höheren Steuersatz belastet wurde – lag also wirklich ein Steuervergehen vor? Kann Bragg das nicht nachweisen, droht Trump per misdemeanor höchstens eine Geldstrafe.
An dieser Stelle eine Besonderheit des US-Justizsystems: Anstelle professioneller Richter entscheiden Jurys über das Urteil. Die Richter sind noch immer wichtig, denn sie haben volle prozedurale Macht und beeinflussen die Jury, doch am Ende muss diese das Urteil sprechen – und zwar einstimmig.
Am 25. März 2024 beginnt das Verfahren, sollte es nicht noch verschoben werden.
Fall #2: Die Geheimdokumente
Wer kennt es nicht? Da wird man aus seinem Job gefeuert und nimmt zum Abschluss noch ein paar kleine Andenken mit: Einen Schlüsselanhänger, den Locher und 33 Kisten mit 11.000 Unterlagen, darunter 300 Geheimdokumenten, von welchen ein Teil die nationale Sicherheit und Nukleargeheimnisse betreffen.
Trump ließ die Geheimdokumente in seinem Privatanwesen Mar-a-Lago in Florida lagern. Vermutlich wäre daraus noch nicht einmal ein Problem erwachsen, hätte Trump sie einfach zurückgegeben, als die Behörden ihr Fehlen realisierten und danach fragten. Doch er verhielt sich unkooperativ. Der vom Justizministerium eingesetzte Sonderermittler Jack Smith, welcher früher in Den Haag zu Kriegsverbrechen im Kosovo-Krieg ermittelte, wirft Trump und zwei Mitarbeitern insgesamt 40 Anklagepunkte vor.
Sie hätten die Herausgabe der Dokumente nicht nur verweigert, sondern die Ermittlungen aktiv behindert, indem sie Dokumente versteckt und Ermittler belogen hätten. Trump habe einen Manager des Anwesens etwa angewiesen, Sicherheitskameraaufnahmen zu löschen. Außerdem habe Trump Geheimdokumente unter Besuchern herumgezeigt. Als Beweis dienen teilweise geleakte Audioaufnahmen.
Das Verfahren ist gewichtig, denn Trump könnten bis zu 20 Jahre Haft drohen. Mit den Audioaufnahmen und den recht eindeutigen Bemühungen, Ermittler auf die falsche Fährte zu führen, haben die Kläger einen sehr starken Fall an der Hand. Bisherige Verteidigungsansätze des Trump-Teams sind allesamt schwach und wurden teilweise von Trumps Verbündeten und, ironischerweise, ihm selbst in geleakten Audioaufnahmen dementiert.
Die zwei Joker des Trump-Teams: Die relativ unerfahrene Richterin Aileen Cannon, welche der Zufallgenerator auf den Fall ansetzte. Sie ist in der Vergangenheit nicht nur mit Fehlern aufgefallen, sondern zeigte auch Sympathien für die Trump-Seite. Dazu kommt, dass das Verfahren in Florida stattfinden wird und eine bei aller nominellen Neutralität doch eher Trump-freundliche Jury hervorbringen könnte. Es genügt ein einziger Juror, um den Schuldspruch zu kippen, egal wie wasserfest der Fall aus Expertensicht sein mag. Das gilt für jeden einzelnen Fall in diesem Explainer.
Turbovariante: Nicht nur Geheimdokumente verschwinden in Mar-a-Lago, Israel vermisst auch einige antike historische Artefakte, welche es 2019 an das Weiße Haus geliehen hatte. Sie sind offenbar in Trumps Privatresidenz wieder aufgetaucht, doch Jerusalem bekommt sie nicht herausgerückt.

Fall #3: Die Verschwörung
Dieser Fall dreht sich um die Vorgänge, welche nach der Wahl 2020 stattfanden: Trumps Behauptungen, dass er nur aufgrund massenhafter Wahlmanipulation verloren habe; die Versuche, alternative Wahlmänner aufzustellen (welche im Wahlmännerkolleg Trump zum Präsidenten erklären würden); Versuche, mittels des Justizministeriums Druck auf die Bundesstaaten auszuüben; Druck auf Vizepräsident Mike Pence, damit dieser die Zertifizierung von Bidens Wahlsieg im Kapitol verweigert; und die Kapitolerstürmung im Januar 2021, welche ebenso die Zertifizierung stoppen sollte.
Anhand dieser fünf Stufen von Wahlbeeinflussung habe Trump eine gezielte Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten durchgeführt und den Kongress behindert, so Sonderermittler Jack Smith, welcher auch diesen Fall leitet. Er muss beweisen, dass Trump wusste, dass er verloren hatte, und die Öffentlichkeit somit in Sachen Wahlbetrug anlog (was etwa dessen Ex-Justizminister Bill Barr bestätigt). Doch falls Smith aufzeigen kann, dass Trump versuchte, Bidens Wahlsieg zu kippen, ist das eigentlich wieder egal: Nur weil man ehrlich glaubt, die Wahl gewonnen zu haben, darf man sich dennoch nicht gegen das Wahlsystem verschwören.
Der Verschwörungsfall ist damit definitiv der gefährlichste für Trump. Nicht nur, weil er am gravierendsten klingt, immerhin geht es hier um die Unterminierung der amerikanischen Demokratie. Er ist auch noch von einer wahrlich spektakulären Menge an Beweisen unterfüttert (davon viele von Trump selbst in Form öffentlicher Aussagen geliefert), deren Qualität die Jury bewerten werden muss. Diese wird übrigens im Regierungsbezirk Washington D.C. gebildet, welcher als sehr liberal und damit Trump-feindlich gilt. Und auch Richterin Tanya Chutkan lässt wenig Liebe für den Präsidenten erkennen und urteilt bislang prozedural stets für die Anklage; schmetterte etwa den Antrag des Trump-Teams ab, den Verfahrensbeginn in den April 2026 und damit weit hinter die Präsidentschaftswahl zu verschieben. Stattdessen geht es am 4. März 2024 los – inmitten der republikanischen Vorwahlen.
Fall #4: Die Wahlbeeinflussung (in Georgia)
Als der republikanische Innenminister (Secretary of State) im US-Bundesstaat Georgia, Brad Raffensperger, am 2. Januar 2021 an den Hörer griff, hatte er seinen Parteifreund und Präsidenten Donald Trump mit einer ungewöhnlichen Aufforderung am Apparat: Raffensperger solle die Ergebnisse im Bundesstaat, welchen Trump in der Wahl 2020 verloren hatte, “reevaluieren”. Er wolle “einfach nur 11.780 Stimmen finden“, so Trump – genau die Zahl, welche er hinter Biden lag. Später deutete Trump an, dass Raffensperger bei Verweigerung eine Ermittlung drohen könne.
Raffensperger nahm das Telefonat auf und veröffentlichte es im Anschluss. Zweieinhalb Jahre später hat die Bezirksstaatsanwältin Fani Willis Trump und 19 Unterstützer, darunter die Anwälte Rudy Giuliani und Sidney Powell sowie Stabschef Mark Meadows, in 41 Punkten angeklagt. Allen Angeklagten wird vorgeworfen, als kriminelle Bande agiert zu haben, um die US-Wahl 2020 zu manipulieren. Dabei geht es nicht nur um das Telefonat, sondern zum Beispiel auch die Belästigung von Wahlmitarbeitern und den Versuch, sich illegal Zugriff auf Stimmzettel zu verschaffen. Die Beweislast ist hoch, betonen Rechtsexperten.
Williams setzt ein Gesetz namens RICO ein, welches gewöhnlich gegen mafiöse Strukturen Anwendung findet. Der Fall wird komplex und lang, doch RICO erleichtert es der Anwaltschaft, die Angeklagten gegeneinander auszuspielen, was auch die große Zahl an Beschuldigten erklären dürfte. Der kingpin, also Mafiaboss, steht fest. Wird er in Georgia verurteilt, muss er für mindestens fünf Jahre in Haft.
Turbovariante: Der Fall in Georgia wird als einziger live im Fernsehen und per Livestream übertragen werden.
Die Auswirkungen
Schaden die Verfahren Trump? Sie halten ihn jedenfalls nicht davon ab, Präsident zu werden. Selbst als Häftling könnte er noch immer das Amt antreten, sollte er gewinnen – das US-Recht ist auf so einen Fall einfach nicht vorbereitet. Als Präsident könnte Trump die Verfahren auf Bundesebene – Verschwörung und Geheimdokumente – stoppen, indem er “sein” Justizministerium dazu anweist oder sich einfach selbst begnadigt. Die Fälle auf Landesebene – Georgia und der Schweigegeld-Fall in New York – lassen sich so allerdings nicht abtun, werden ihn also auch im Falle eines Wahlsiegs weiter verfolgen.
Und wie sieht es um die Wahlchancen aus? In der eigenen Basis zeichnet sich keinerlei negativer Effekt ab. Im Gegenteil, Trump hat seinen uneinholbar scheinenden Vorsprung im Feld der Republikaner noch ausgeweitet – dürfte also Kandidat werden – und hat mit seinem Polizeifoto (mugshot), welches nach der Anklage in Georgia angefertigt wurde, kurzerhand 7 Millionen USD mit T-Shirts, Tassen und anderem Merchandise verdient.
Anders dürfte es bei der breiteren Bevölkerung aussehen. In jüngsten Umfragen verlangen 54 Prozent eine Verurteilung für Trumps Verhalten nach der US-Wahl 2020. Knapp 70 Prozent wollen nicht, dass ein verurteilter Straftäter Präsident werden kann. 63 Prozent nannten die Vorwürfe im Georgia-Fall “ernsthaft”. Mit dem Beginn der Verfahren im kommenden Jahr, welche Trump in seinem Wahlkampf allein terminlich einschränken dürften, wird das Interesse wohl noch zunehmen. Es ist denkbar, dass Trumps unstetige Akzeptanz bei Unabhängigen und moderaten Republikanern dann weiter sinkt – noch stehen sie in den Verfahren tendenziell zu ihm. Schauen wir uns das im Sommer 2024 erneut an.
Turbovariante: In weiteren Verfahren gegen Trump geht es um Betrugsvorwürfe gegen Trump und die Trump Organization; ein Schneeballsystem der Trump Organization, mit welchem Tausende Amerikaner betrogen worden seien; sexuellen Missbrauch gegen die Autorin E. Jean Carroll (Trump hat diesen Fall bereits verloren); und Verleumdung gegen Carroll im Zuge des Missbrauchverfahrens. Diese Fälle sind juristisch und politisch weniger weitreichend.
Die BRICS geben ein Lebenszeichen_
(6 Minuten Lesezeit)

Turbovariante: Die BRICS haben im August für Schlagzeilen gesorgt. Die whathappened-Redaktion hält die Gruppe für überbewertet.
Ah, die BRICS. Eine Staatengruppe aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, welcher ab 2024 auch Argentinien, Saudi-Arabien, die VAE, Ägypten, Äthiopien und der Iran angehören werden. Im August hielten die BRICS-Staaten ihren 15. Gipfel seit der Gründung im Jahr 2006 ab. Am nennenswertesten war die Erweiterung der Gruppe um die obigen Staaten, was auch eine Perspektive für die rund 20 weiteren Interessenten bietet. Darüber hinaus war von einem eigenen Zahlungssystem und einer eigenen Währung die Rede. Wie so oft.
Wenn manche Beobachter von BRICS (künftig unter dem Titel “BRICS-11” oder “BRICS+”) hören, geht ihnen ein Schaudern durch den Körper. 36 Prozent des globalen BIP! 47 Prozent der Weltbevölkerung! Unwiderstehliche Dynamik! Wer kann es künftig noch mit BRICS aufnehmen? Liest man den Diskurs im Internet gar noch etwas weiter, was man nie sollte, oder landet bei einschlägigen Kommentatoren, so sind die BRICS schnell ein regelrechter Heilsbringer: Bald schon, oh ja, strecken sie den heuchlerischen, arroganten Westen nieder und läuten eine glorreiche “multipolare Welt” ein, in welcher die ausbeuterisch-imperialistisch-kapitalistische “Hegemonie” der USA beendet ist und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Friede, Freude und Fairness einkehren. Linke und rechte Beobachter finden sich in solch verqueren Visionen einer “neuen Weltordnung” gleichermaßen wieder und singen gemeinsam etwas, was fast wortgenau aus Peking und Moskau zu vernehmen ist.
Nicht viel vorzuweisen
Die whathappened-Redaktion lässt vermutlich bereits durchscheinen, dass sie nicht allzu viel vom Konstrukt der BRICS hält. Die Gruppe bleibt, so scheint ihr, auf absehbare Zeit ein Papiertiger. Da wäre die Vergangenheit: Die Gemeinschaft hat in ihren 17 Jahren beeindruckend wenig zustande gebracht. Es gibt seit 2015 eine eigene Entwicklungsbank namens New Development Bank (NDB), welche den globalen Süden – also die Entwicklungs- und Schwellenländer – von den Ketten des Westens befreien soll. Nur hat die NDB in ihrer gesamten Existenz nur 33 Milliarden USD in Projekte gesteckt, während die Weltbank alleine 2022 104 Milliarden USD mobilisierte.
Die NDB ist das handfesteste, was BRICS bislang zu bieten haben. Andere Initiativen sind noch leerer. Das BRICS-Kabel sollte ein Unterwasser-Internetkabel sein, welches die BRICS-Staaten in Sachen Internet verbindet und Spionage durch die USA erschwert. Seit der Ankündigung 2012 ist nichts mehr passiert; die dazugehörige Website ging irgendwann still offline. Auch eine BRICS-Kreditratingagentur als Gegengewicht zu S&P, Fitch und Moody’s lief ins Nirgendwo. Das BRICS Contingent Reserve Arrangement (CRA) ist ein Gegenpol zum Internationalen Währungsfonds (IWF), doch weitaus kleiner und allem Anschein nach noch nicht vollständig operabel, obwohl es schon 2014 ins Leben gerufen wurde. Zumindest ist es äußerst schwierig, irgendetwas zum aktuellen Status des Mechanismus herauszufinden, abgesehen von völlig inhaltsleeren Passagen in jubilierenden Artikeln von chinesischen Staatsmedien oder eines US-Institutes, welches im ersten Satz seiner “Über uns“-Sektion die moralischen Versagen der USA und deren “militärisch-industriellen Komplex” beklagt. An BRICS Pay, welches als SWIFT-Ersatz fungieren soll (und damit westliche Finanzsanktionen abstumpfen würde) wird seit 2018 gearbeitet. Ein Eintrag zu CBDCs, also Digitalwährungen, deutet darauf hin, dass die Website in den letzten Jahren aktualisiert worden ist; ansonsten ist unklar, wie sehr das Projekt tatsächlich vorankommt.
Wofür steht BRICS?
Ein Grund, warum die BRICS sich mit ihren Projekten schwertun (und in sich selbst ein weiterer Grund, warum whathappened an der Relevanz der Gruppe zweifelt), ist ihre Heterogenität. Die G7 ist ein Verbund hochentwickelter, liberaldemokratischer Staaten. Ihre größten Streits betreffen, ob die USA ihre Klimainvestitionen auch für ausländische Firmen öffnen und wer denn nun Australien mit Atom-U-Booten beliefern darf. Die BRICS sind dagegen ein recht wilder Haufen aus dynamischen Wachstumsnationen (Indien, längste Zeit China) und lethargischen Krisenfällen (Argentinien, Südafrika, bis zuletzt jahrelang Brasilien). Von der rasanten, unbesiegbaren Wirtschaftsdynamik, welche die leicht zu beeindruckenden Freunde des “Multipolarismus” den BRICS-Staaten zuschreiben, ist nur noch in Indien etwas zu erkennen und immerhin bis 2022 auch China. Einige BRICS-Staaten sind Rohstoffkioske (Russland), andere Agrarexporteure (Argentinien, Äthiopien), wieder andere Petrostaaten, welche den Umbau zu Hightech-Dienstleistungsnationen wagen (Saudi-Arabien, VAE). Aus diesem Mix sinnvolle Wirtschafts- und Investitionskooperationen zu bilden, ist möglich, aber nicht immer intuitiv, schon gar nicht als “one size fits all” zwischen sämtlichen Mitgliedern.
Politisch sieht es kaum besser aus. Einige Mitglieder sind mehr oder minder stabile Demokratien (Argentinien, Indien, Brasilien, Südafrika), andere stabile Autokratien (fast der gesamte Rest). In Äthiopien herrscht heftiger Bürgerkrieg, Iran operiert Milizen in seiner Region, Saudi-Arabien steckt im Jemen fest und Russland führt seit 556 Tagen einen erbitterten Angriffskrieg (welcher ironischerweise die Überlebensfähigkeit der Entwicklungsbank NDB gefährdet). Nicht einmal in der Geopolitik sind sich die BRICS-Staaten einig: Alle mögen sich zwar mehr Mitspracherecht in globalen Fragen gegenüber dem Westen wünschen, doch die Prioritäten weichen stark voneinander ab. Es mischen sich ausgesprochene Feinde des Westens (Russland, Iran) mit pragmatischen Freunden (Ägypten, Indien). Als China die BRICS beim jüngsten Treffen als klare Front gegen die USA ausweisen wollte, hielten Brasilien und Südafrika ausdrücklich dagegen.
Turbovariante: Eines der Hauptziele, mit welchen die BRICS in Verbindung gebracht werden, ist die Dedollarisierung, zum Beispiel durch eine eigene Währung oder eben Systeme wie BRICS Pay. Für Russland und Iran ist es ein Weg, die Sanktionsmacht des Westens zu brechen; China hofft auf seinen Yuan als Thronfolger; und Brasilien (genauer, Präsident Lula) wünscht sich seit jeher mehr Einfluss für den “globalen Süden”. Doch die Rolle des Dollars – er wird in 88 Prozent aller internationalen Transaktionen eingesetzt und macht 58 Prozent der globalen Devisenreserven aus – ist nicht einfach nur Konsequenz feindseliger Manöver Washingtons, wie es mitunter plump dargestellt wird, etwa seitens Peking. Die US-Währung ist stabil, bewährt, verfügbar und wird von einem zuverlässigen Rechtsstaat gedeckt. Der Dollar dominiert, weil der Dollar funktioniert (selbst die NDB setzt noch immer zu vier Fünfteln auf US-Dollar). In diesem Sinne gehen längst nicht alle BRICS+-Staaten gleichermaßen begeistert beim Plan der Dedollarisierung mit.
Der König ist tot, lang lebe Peking
Apropos, China: Das Land dominiert wirtschaftlich in der Gruppe derart, dass es in ihr erkennbar überproportional viel Einfluss ausübt. Seinen Wunsch zur BRICS-Erweiterung setzte Peking offenbar gegen die Zweifel einiger anderer Mitglieder durch – Multipolarismus a la BRICS könnte am Ende des Tages lediglich einen vermeintlichen Hegemon für einen anderen ersetzen. Tatsächlich ist der Wunsch nach mehr Handel mit China auch so ziemlich die einzige Konstante zwischen allen neuen Mitgliedern der BRICS+. Zugleich ist Chinas Reputation in den Bevölkerungen der BRICS-Staaten teilweise durchmischt, teilweise sehr negativ. Vor allem Indien hält wenig vom Nachbarn. Kein Wunder: Nur wenige Tage nachdem Xi Jinping und Indiens Premierminister Narendra Modi gemeinsam auf dem BRICS-Treffen abgelichtet wurden, erklärte China wieder einmal mehrere indische Gebiete zum eigenen Staatsgebiet. 2020 gab es gar einen kurzen gewaltsamen Grenzkonflikt. Wie sollen die BRICS die Welt bewegen, wenn sie sich darüber streiten, wer den falschen Grenzposten bewegt hat?
Wir möchten die BRICS nicht völlig als Lachnummer darstellen. Die reinen Zahlen hinter der Gruppierung sind tatsächlich beeindruckend und der Wille, dem Einfluss des Westens in Wirtschaft und Diplomatie etwas gegenüberzustellen, wird von allen Mitgliedern geteilt. Wenn sich die BRICS vernünftig zusammenraufen und Projekte wie die Dedollarisierung zielstrebig verfolgen würden, wäre das Potenzial groß – doch dieses “wenn” existiert mit wenig Resultat seit 17 Jahren. Besserung zeichnet sich nicht ab. Bis dahin steht BRICS nur für Grundsatzerklärungen und überschwängliche Begeisterung unter jenen, welche den Kniefall des Westens unter dem Vorwand globaler Fairness kaum erwarten können.
No more Work From Home_
(4 Minuten Lesezeit)

Turbo-Zusammenfassung: Unternehmen gehen gegen das Homeoffice vor, so zumindest Anekdoten in den USA. Neue Studien liefern ihnen Gründe.
Das war’s. Homeoffice ist abgesagt. Einen offizielleren Abgesang auf das Homeoffice kann es kaum geben, als die Tatsache, dass selbst Zoom – die Videokonferenzfirma, welche es in der Covid-Krise zum kulturellen Moment geschafft hatte – ihre Mitarbeiter zurück ins Büro zwingt. Richtig: Zoom verbietet das Homeoffice. Na gut, nur an mindestens zwei Tagen pro Woche, doch die Symbolik ist trotzdem markant.
Gerade in den USA fühlt es sich so an, als hätte das Homeoffice zunehmend an Bedeutung verloren. Dutzende große Firmen pfiffen ihre Mitarbeiter in den letzten Wochen und Monaten zurück in die Bürotürme: Disney, Amazon, Alphabet, Apple, Salesforce, Goldman Sachs, JPMorgan – die Liste ist lang. Die genaue Policy variiert, mal sind es vier Tage die Woche, mal fünf, mal drei; mal werden “Heimtage” mit schlechteren Performance-Reviews sanktioniert, mal die Einkunft ins Büro mit Goodies angereizt. Software-Gigant Salesforce spendet für jeden Tag, welchen ein Mitarbeiter ins Büro kommt, 10 USD an lokale NGOs. Google erlaubt seinen Mitarbeitern, für 99 USD pro Nacht im Hotel auf dem Firmencampus zu übernachten, um sich “an den hybriden Arbeitsplatz zu gewöhnen”.
Gut zu wissen: Im Englischsprachigen ist interessanterweise öfter vom (umständlicheren) “work from home” bzw. der Abkürzung WFH die Rede, während “home office” das heimische Bürozimmer meint.
Büros und Produktivität
Für die Firmen dürfte es zwei Gründe geben, warum sie die Heimarbeit einschränken. Erstens, weil sie zumeist ihre teuren Bürogebäude nicht auf Anhieb loswerden oder verkleinern können und sie lieber genutzt sehen. Zweitens, weil das Homeoffice doch niedrigere Produktivität bedeuten könnte. Anfängliche Studien hatten Grund zur Hoffnung geboten, dass “WFH” zu mehr Produktivität führt, doch jüngste Studien deuten das Gegenteil an. Die Stanford University ermittelt in einer Metastudie 10 bis 20 Prozent Produktivitätsverlust für “fully remote”-Arbeiter. Die US-Universitäten MIT und UCLA kommen auf 18 Prozent Minus (zwei Drittel davon hätten sich sofort gezeigt, der Rest ließe sich auf unterschiedliche Lernentwicklungen im Verlaufe der Zeit zurückführen).
Die Kommunikation in der Firma würde leiden, so der größte Punkt in den allermeisten Studien. Vor allem subtile “non-verbale Signale” und spontane Interaktionen würden komplett wegfallen. Die Motivation einiger Mitarbeiter sinke. Fehlende Netzwerke, Mentoring-Verhältnisse und Gelegenheiten, von Kollegen zu lernen, würden die längerfristige Entwicklung beeinträchtigen. Die diffusere Linie zwischen Arbeit und Freizeit sorgt bei manchen Arbeitern für mehr Stress und weniger Wohlergehen, statt andersherum. Auch die empfundene Verbindung zum Arbeitgeber scheint bei Homeoffice-Arbeitern stärker als bei “Bürogängern” zu leiden, wie eine Umfrage in den USA andeutet.
Hände weg vom Homeoffice
Gute Gründe gegen das Homeoffice, zumindest aus Sicht der Arbeitgeber. Die Arbeitnehmer haben ihre Lust am WFH aber keineswegs verloren. Die deutsche Homeoffice-Quote lag 2022 bei 24,2 Prozent, so das Statistische Bundesamt, und im April 2023 bei 24 Prozent, so das ifo-Institut. Der Rückgang ist damit minimal, auch im Vergleich zum Pandemiejahr 2021, als 24,9 Prozent zumindest gelegentlich von zu Hause arbeiteten. 2019 hatte der Anteil lediglich bei 12,9 Prozent gelegen. 61 Prozent aller Unternehmen in Deutschland boten im zweiten Quartal 2023 “WFH” an, so das ifo-Institut, wobei sie im Schnitt 6,4 Tage pro Monat ermöglichen – ein Jahr zuvor waren es noch 6,7 Tage. Eine Umfrage unter Angestellten, ebenfalls von ifo, kommt auf 1,0 Tage pro Woche Homeoffice. Wünschen tun sich die Deutschen derweil 1,8 Tage.
Auch in den USA ist es relativ ähnlich: Im Februar arbeiteten 35 Prozent jener Menschen, deren Job remote durchführbar ist (eine etwas andere Metrik als die Zahlen aus Deutschland oben), permanent im Homeoffice. Ein Jahr zuvor waren es 43 Prozent (2020: 55 Prozent, 2019: 7 Prozent). In einem hybriden Modus arbeiteten im Februar 41 Prozent (Vorjahr: 35 Prozent). Insgesamt war die “Homeoffice-Fraktion” also nur von 78 auf 76 Prozent geschrumpft. Beziehen wir es auf alle Jobs, also äquivalent zu unseren Zahlen zu Deutschland, dürfte ebenfalls rund ein Viertel aller Beschäftigten derzeit WFH betreiben.
Es sieht also so aus, als wäre der Abgesang aufs Homeoffice doch zu früh. Selbst wenn die Studienlage zu Ungunsten der Heimarbeit zu kippen scheint und die Firmen allmählich ihre Geduld verlieren, zeigt sich noch nicht in der Datenlage. Die nächsten Zahlen dürften spannend werden. Dann wissen wir, ob das Homeoffice verliert und die Büros gewinnen oder die Anekdoten nur Anekdoten bleiben und die Heimarbeit nirgendwo hin verschwindet.
Übrigens ein schöner Nebeneffekt für Arbeitnehmer vom Homeoffice: Laut einer Umfrage der Bürosoftware Slack und des Analysediensts Qualtrics verbringen “Schreibtischarbeiter” rund ein Drittel ihrer Zeit mit “performative work“: Arbeit, welche in erster Linie dazu dient, wie Arbeit auszusehen, aber der Organisation nicht wirklich etwas bringt. Nicht etwa nur, weil die Arbeiter faul wären, sondern auch, weil Manager ihre Teams schlecht führen oder falsche Erfolgsmetriken anlegen. Und das lässt sich ja wohl wunderbar von zu Hause erledigen.
Die Aktienmärkte_
Turbo-Zusammenfassung: Viel makroökonomischer Lärm im August, von Konjunktursorgen (z.B. Deutschland, China), über unerwartete Konjunkturstärken (v.a. USA) bis hin zu unklaren Zinspfaden.
Index: 30-Tage-Entwicklung (Entwicklung seit Jahresbeginn)
Dax 40: -0,33% (+12,59%)
S&P 500: +0,31% (+18,09%)
Dow Jones: -1,07% (+5,13%)
Nasdaq 100: +0,89% (+42,61%)
Nikkei 225: +1,71% (+27,20%)
MSCI World ETF (iShares): -1,87% (+16,17%)
Bitcoin: -10,05% (+54,46%)
Quelle: Google Finance, onvista