Das Monatsreview mit vier Mini-Explainern:
Nahost | Milei | Haushaltsurteil | OpenAI
(insgesamt 16 Minuten Lesezeit)
Der Nahostkrieg und Netanjahus Zukunft_
(5 Minuten Lesezeit)
Turbovariante: Krieg, Waffenruhe und wieder Krieg in Nahost. Premier Netanjahu ist innenpolitisch kritisch angeschlagen; ein alter Bekannter bringt sich in Stellung.
Der Krieg
Der November gehörte dem Nahostkrieg. Es war der bislang wohl schwerste Gewaltausbruch zwischen Palästinensern und Israelis überhaupt, schwerer noch als der Bürgerkrieg und Krieg ab 1947. Die whathappened-Redaktion spricht oft von “Runden” im Nahostkonflikt, doch dieser Krieg fühlt sich anders an. Er dürfte eines der herausstechenden Ereignisse werden, auf einer Ebene mit den Intifadas und den größeren Israelisch-Arabischen Kriegen.
Nach dem 7. Oktober begab sich Israel in eine auffällig lange Vorbereitungsphase, bevor es am 27. Oktober die Invasion vollwertig startete. Das Warten könnte sich ausgezahlt haben, denn Israel bewegte sich äußerst schnell, schlug einen Keil durch den Gazastreifen und kesselte den Norden ein. Binnen einiger Tage hatte es Gaza-Stadt faktisch unter Kontrolle. Die Hamas schien dagegen unkoordiniert und wenig effektiv. Nur einige Dutzend israelische Soldaten starben, bei einer Operation dieser Größenordnung bemerkenswert.
Einher ging der Krieg mit einem wahrlich gewaltigen Bombardement, welches weite Teile des Gazastreifens in Schutt und Asche legte. Die investierte Sprengkraft und die über 14.000 Toten – die Zahl wird von unabhängigen Beobachtern als größtenteils glaubwürdig eingestuft – ist in Anbetracht der kurzen Zeit außerordentlich. Die grundlegende Versorgung schien zusammengebrochen zu sein. Einzelereignisse, wie der Sturm des al-Shifa-Krankenhauses und die ungeklärte, doch sehr wahrscheinlich von den Palästinensern ausgelöste Explosion am al-Ahli Arab Krankenhaus, sorgten für Aufsehen. Entsprechend wurde viel Kritik an Israels Kriegsführung laut; selbst Verbündete wie die USA wirkten auf Jerusalem ein. whathappened widmete dem schrilleren Vorwurf des “Genozids” einen Explainer.
Die Pause
Ein von Katar vermittelter Waffenstillstand folgte am 24. November, ursprünglich für vier Tage, dann auf sieben verlängert. Die Hamas ließ knapp 100 von 240 Geiseln frei, davon 23 Thais, welche als Gastarbeiter in Israel gewesen waren. Israel ließ im Gegenzug 240 Palästinenser aus seinen Gefängnissen, wovon drei Viertel noch nicht verurteilt waren, der Rest für Taten unterhalb Mords verurteilt. Am frühen 1. Dezember ging die Waffenruhe zu Ende und der Krieg nahm wieder seinen Lauf.
Für Israel wird es in den kommenden Wochen darum gehen, die Hamas aus dem Süden des Gazastreifens zu vertreiben. Die wichtigsten Einrichtungen der Terrormiliz dürften zwar im Norden gewesen sein, doch die ausgiebige Tunnelinfrastruktur und die lange Wartezeit vor der Offensive haben ihr den Transport von Personal und Ausrüstung einfach gemacht. Die größte Frage dürfte sein, wie Israel damit umgehen wird, dass auch ein Großteil der Gaza-Bevölkerung in den Süden geflohen ist. Dass es sich politisch nicht mehr leisten könne, Tausende Zivilisten zu töten und eine große Fluchtbewegung auszulösen, hat zuletzt auch Washington ausdrücklich gesagt.
Gut zu wissen: Ein Modell, welches zwischen israelischen und amerikanischen Offiziellen diskutiert wird, ist, Hamas-Kämpfern einen Gang ins Exil aus dem Gazastreifen heraus zu bieten. Ähnlich wurde bereits mit der palästinensischen Terrorgruppe PLO 1982 im Libanon verfahren. Die Schwierigkeit ist allerdings, dass die Hamas verwobener mit Gaza ist, als die PLO es mit dem Libanon war, und zudem deutlich ideologischer.
Dead Man Walking
Eine interessante Dynamik, auf welche die whathappened-Redaktion achtet, ist Benjamin Netanjahus politisches Überleben. Der israelische Premier wurde durch den schweren Terrorangriff vom 7. Oktober derart angeschlagen, dass es unwahrscheinlich ist, dass er längerfristig Regierungschef bleiben wird. Wie Premierministerin Golda Meir nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973, in welchem Israels Sicherheitsapparat eine Attacke durch Ägypten und Syrien nicht hatte kommen sehen, wird auch Netanjahu mit hoher Wahrscheinlichkeit abtreten müssen. Seine Zustimmungswerte sind im Keller, Geiselangehörige halten Proteste gegen ihn ab und seine Versuche, das Sicherheits- und Militärestablishment für das Versagen des 7. Oktobers zu beschuldigen, fielen negativ auf ihn zurück. Umfragen bestätigen das: Mal beschuldigen ihn 44 Prozent für den 7. Oktober, mal verlangen 80 Prozent, dass er für die Katastrophe Verantwortung übernimmt, mal wollen ihn 76 Prozent aus dem Amt geschmissen sehen. Allerdings beginnt das Ende der Ära Netanjahu erst, sobald die Aufarbeitung des 7. Oktobers beginnen kann, was wohl eine Abkühlung des Krieges im Gazastreifen voraussetzt.
Aktuell hat sich die israelische Parteienlandschaft in weiten Teilen zusammengerauft, um Krieg zu führen. Oppositionspolitiker, darunter der ehemalige General und Verteidigungsminister Benny Gantz, haben sich der Regierung und dem Kriegskabinett angeschlossen. Gantz zeichnet sich als Netanjahus größter Widersacher ab. Nachdem er sich 2020 in eine kurzlebige, zutiefst unbeliebte Koalition mit Netanjahu begeben hatte, war Gantz erst einmal politisch abgeschrieben. Doch das ist inzwischen lange genug her und der 64-Jährige kristallisiert sich als beliebtester Politiker heraus: Seine Partei würde im Parlament von 12 auf 43 (von 120) Sitzen wachsen, sollten plötzlich Wahlen abgehalten werden; der Likud würde von 32 auf 18 abstürzen, so eine Umfrage Ende November. Die gesamte Opposition wäre mit 79 Sitzen so fest an der Macht, wie es das in Israel fast noch nie gegeben hat.
Die Innenpolitik lauert im Hintergrund
Noch sei zwar “die Zeit für Krieg”, so Gantz, doch erste Positionierungen und Manöver sind bereits erkennbar: Der Ex-General kritisierte Ende November scharf, dass Finanzminister Bezalel Smotrich – Teil einer rechtsextremen Siedlerpartei – inmitten des Krieges Geld für jüdische Siedlungen im Westjordanland bereitstellen wollte. Sobald Gantz sich eines Tages entscheidet, das Kriegskabinett zu verlassen, dürfte das den Startschuss für den Wiederbeginn der Politik in Israel setzen. Neben Gantz wären auch die Ex-Premiers Naftali Bennett und Jair Lapid Kandidaten für ein Post-Netanjahu-Israel.
Das Ende der Ära Netanjahu wäre für die meisten Beobachter begrüßenswert. Der Langzeitpremier ist in linken Milieus seit jeher toxisch, doch hat sich mit seiner Allianz mit Rechtsextremisten und einer hochkontroversen Justizreform auch im weiten moderaten Spektrum äußerst unbeliebt gemacht. Für die Regierungen des Westens wäre es deutlich kommunizierbarer, Israel zu unterstützen, wenn dessen Führung nicht mehr offen davon spricht, im Westjordanland zündeln zu wollen. Netanjahu solle darüber nachdenken, was er seinem Nachfolger auf den Weg geben wolle, so US-Präsident Joe Biden angeblich privat zu ihm.
Und auch jegliche Friedensbemühungen wären ohne Netanjahu aussichtsreicher. In seinen 16 Jahren an der Macht verwaltete Netanjahu die Bestrebungen zu Frieden mit den Palästinensern bestenfalls (insbesondere in seiner Amtszeit 1996 bis 1999) oder schien sie eher zu behindern; bewies jedenfalls aber nie die Initiative und Vision der israelischen “Friedensmacher”, Begin, Rabin und Peres. Das wäre aber wohl ein Thema für einen eigenen Explainer.
Schreiben wir Netanjahu aber lieber nicht zu früh ab: Freiwillig wird sich der hocheffektive Machtpolitiker mit Sicherheit nicht verabschieden. Und in der Vergangenheit hat er eine wahrlich beeindruckende Fähigkeit bewiesen, Rückschläge zu überleben. Wenn es irgendjemandem gelingen kann, den 7. Oktober politisch zu überstehen, dann ist es Netanjahu.
Weiterlesen:
Zum Nahostkrieg
Was ist Genozid? (November 2023)
Israel und die Hamas im Krieg (Explainer zum Terrorangriff, 8. Oktober 2023)
Israel und Palästina, Teil 1 (Explainer zur Geschichte: 1.200 v. Chr. bis 1948)
Israel und Palästina, Teil 2 (1948 bis 1995)
Israel und Palästina, Teil 3 (1995 bis heute)
Zu Israel
Israels verrückte Innenpolitik (2021)
Israel und die Extremisten (2022)
Proteste in Frankreich, Israel und… Iran? (März 2023)
Argentinien wagt das Ungewisse_
(4,5 Minuten Lesezeit)
Turbovariante: Reichlich Ungewöhnliches am neuen Präsidenten, auch an seinen Ideen – doch völlig verrückt sind diese nicht.
Der exzentrischste aller Exzentriker
Wenn man die Wahl hat, zwischen jemandem, der das Land womöglich in Schutt und Asche legen wird, und jemandem, der es sicherlich tun wird, warum es dann nicht mit ersterem wagen? Sehr ähnlich klangen mehrere Meinungsäußerungen, welche die whathappened-Redaktion im Vorfeld der Wahl in Argentinien Mitte November las. Der “Garant” für den Ruin war Sergio Massa, Kontinuitätskandidat der linkspopulistischen Peronisten, welche das Land konsequent heruntergewirtschaftet hatten. Die “Unsicherheit” personifizierte Javier Milei, welcher mit fast 56 Prozent eindrucksvoll zum Präsidenten gewählt wurde.
Milei war ein Chaoskandidat, wie er im Buche stand. Nicht nur, dass seine radikallibertären Positionen im staatsgläubigen Argentinien höchstens ein Nischendasein pflegten, er längste Zeit für cholerische Wutausbrüche in Talkshows bekannt war (der Staat sei ein “Pädophiler im Kindergarten”, so Milei einmal) und er im Wahlkampf mit Kettensäge auftrat, um seine Haushaltspolitik zu verdeutlichen. Der Exzentriker scheint auch ein faszinierendes Privatleben zu führen: Er ließ seine Lieblingsdogge Conan fünffach klonen und setzt die Hunde als wirtschaftliche Berater ein (immerhin sind sie nach bekannten libertären Ökonomen benannt), gab seiner jahrelangen Wohnung den Kosenamen “Kosovo” und versuchte, mit Geistern zu sprechen (angeblich auch mit jenem seiner Ur-Dogge Conan). Als Jugendlicher erhielt er beim Fußball den Spitznamen “der Verrückte”. Später versuchte er es als Profifußballer und Rockmusiker, wurde dann doch Ökonom und arbeitete bei der britischen HSBC und bei der argentinischen Zentralbank.
Gut zu wissen: Es lohnt sich, etwas vorsichtig bei den spektakulären Storys über Mileis Pläne, Ansichten und Privatleben zu bleiben, denn so manche dürfte ein Eigenleben entwickelt haben. Milei selbst sah sich in einem ungewöhnlichen Instagram-Post gezwungen, 26 Behauptungen zurückzuweisen, darunter auch, dass er Inzest mit seiner Schwester betrieben habe (!). Gesichert ist, dass seine Schwester für ihn eine wichtige Bezugsperson ist, als Kampagnenchefin wirkte und künftig wohl eine seiner engsten Beraterinnen sein wird.
Dollarisierung
So wie Milei als Person ungewöhnlich sein mag, so sind es auch seine Pläne für Argentinien. Vieles davon wird sich in den kommenden Wochen klarer abzeichnen, denn am 10. Dezember tritt er sein Amt offiziell an. Fest steht, dass ein großes Privatisierungsprogramm bevorsteht, eine Verschlankung der staatlichen Institutionen und eine deutliche Wende in der Geldpolitik. Wie viel seiner sehr weitgehenden Rhetorik Milei umsetzt, ist aber noch schwierig einzuschätzen. Meint er es ernst, wenn er sagt, dass er die Zentralbank schließen will (“unverhandelbar“, erklärte er jüngst)? Den Staatshaushalt um 40 Prozent verkleinern will? Sich privatisierte Flüsse vorstellen könne, wenn sie dadurch sauberer würden?
Es gibt Zeichen, dass die so häufige Mäßigung einsetzt, welche populistische Kandidaten gerne im Amt erwischt. Milei hat mit Luis Caputo einen moderaten Ex-Zentralbankchef und Finanzminister zum neuen Wirtschaftsminister ernannt. Das allein klingt bereits mehr nach Rationalität als nach Kettensäge, auch wenn es nicht als hinreichende Bedingung herhalten mag.
Die von Milei oft beschworene Dollarisierung – Argentinien würde seine Währung kurzerhand aufgeben und einfach auf den amerikanischen Dollar setzen – wird deutlich verschoben: Frühstens in einem Jahr werde sie erfolgen. Das ist vermutlich gut so, denn Argentiniens extrem geschrumpften Dollarreserven sind aktuell nicht einmal annähernd genug, um die Geldbasis zu ersetzen. Der Peso müsste stark abgewertet werden (damit weniger US-Dollar genügen, um die Geldbasis zu ersetzen), was die Kaufkraft der Bevölkerung schlagartig reduzieren würde. Gepaart mit abgebauten Subventionen – Milei möchte den Staatshaushalt rasant stabilisieren – wäre eine schwere Rezession sehr wahrscheinlich. So erging es auch Zimbabwe bei dessen Dollarisierung 2009. Gut also, dass immerhin etwas mehr Zeit bleibt, um Dollar zu beschaffen oder die Wirtschaftslage zu stabilisieren.
Darüber hinaus würde die Dollarisierung bedeuten, dass künftig die amerikanische Notenbank Fed die Geldpolitik bestimmt. Sie trifft ihre Maßnahmen allerdings nur mit Hinblick auf die USA, womit sie schlimmstenfalls völlig gegen argentinische Interessen laufen würden. Argentinien könnte “seine” Währung künftig nicht mehr herab- oder heraufwerten, um auf wirtschaftliche Schocks zu reagieren.
Gut zu wissen: Theoretisch könnte Milei auch die relativ hohen Dollarbestände der Haushalte konfiszieren lassen. Das wäre, vorsichtig ausgedrückt, politisch hochriskant.
Die Zentralbank schließen
Der Vorschlag der Dollarisierung zielt auf die Bekämpfung der Inflationsrate von rund 140 Prozent ab. Die Einführung des US-Dollars würde Haushaltsdisziplin praktisch erzwingen, denn Buenos Aires kann nicht einfach so Dollar drucken. Sie würde auch die Inflation durch Importgüter aufgrund einer schwachen Währung verringern. Eine sinkende Inflation dank Dollarisierung war übrigens auch die Erfahrung in Zimbabwe. In diesem Sinne ist der Vorschlag nachvollziehbar, wenn auch in seiner Radikalität eben sehr riskant. Mehr Stabilität, weniger Autonomie und womöglich eine chaotische, schmerzhafte Übergangsphase.
Vor demselben Hintergrund ist der Vorschlag, die Zentralbank zu schließen, weniger absurd als er klingt. Eine Zentralbank muss imstande sein, die Inflationserwartungen der Bevölkerung zu beeinflussen. Besitzt sie keine Glaubwürdigkeit, etwa weil sie politisch vereinnahmt ist oder sich als inkompetent erwiesen hat, ist sie kaum imstande, sinnvoll zu wirken. Argentiniens Zentralbank besitzt keinerlei Vertrauen mehr. Sie zu schließen und mit einer Nachfolgeinstitution zu ersetzen, könnte tatsächlich besser funktionieren, obwohl besagte Institution völlig unerprobt wäre – es wäre einmal erneut die Wahl zwischen sicherem Ruin und möglichem Ruin. Und wird dollarisiert, käme einer argentinischen Zentralbank ohnehin nur noch eine verminderte Rolle zu.
Doch nicht alles Kommunisten
Falls sich Milei nicht von selbst mäßigt, könnte es die argentinische Politik für ihn tun. Er besitzt im Kongress keine Mehrheit und wird mit politischen Rivalen zusammenarbeiten müssen. Schon jetzt nähert er sich dem moderaten Lager um Ex-Präsident Mauricio Macri (Teil einer politischen “Kaste”), doch gibt sich auch gegenüber den verhassten Peronisten um Noch-Präsident Alberto Fernández konziliant. Auch andere Ziele von Mileis Wut erhielten nach dem Wahlsieg eine freundlichere Behandlung: Mit dem argentinischen Papst Franziskus (“Kommunist” sowie “Vertreter des Bösen auf der Welt”) telefonierte Milei brav; die Glückwünsche aus China (“Kommunisten”) begrüßte er und Brasiliens Präsident Lula (“Kommunist”) ist zu Mileis Amtseinführung eingeladen. Vielleicht erfährt auch der Klimawandel (“sozialistische Lüge”) in Kürze einen ganz anderen Milei?
Die Schuldenbremse sucht die Ampel heim_
(4 Minuten Lesezeit)
Turbovariante: Blickt man zu lange in die Schuldenbremse, blickt die Schuldenbremse zurück.
Im Nachhinein – und für viele von Anfang an – wirkte es stets wie eine suspekte Konstruktion. Die Bundesregierung hatte 2022 nicht genutzte Kreditermächtigungen aus der Covid-Krise in Höhe von 60 Milliarden EUR in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) übertragen, aus welchem ein weites Bouquet aus Investitionen und Subventionen finanziert werden sollte. Um den Covid-bezogenen zweiten Nachtragshaushalt 2021 überhaupt erst an der Schuldenbremse vorbei zu ermöglichen, welche gewöhnlich streng 0,35 Prozent des BIP als maximale jährliche Schuldenaufnahme gestattet, hatte der Bund damals eine “außergewöhnliche Notsituation” ausgerufen, bestätigt vom Bundestag. Das ergab Sinn, denn es herrschte Pandemie. Die Umwidmung in den KTF bedeutete aber, dass plötzlich ein anderer Zweck galt und die Kredite in einem anderen Jahr zum Einsatz kämen.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte beides in einem Urteil vom 15. November für nichtig. Kredite, welche für eine Notsituation aufgenommen wurden, müssen erstens für ebendiese angewandt werden und müssen zweitens im Jahr genutzt werden, in welchem die Notsituation ausgerufen wurde. Zudem dürfe, drittens, nicht rückwirkend etwas an der Begründung geändert werden, in diesem Fall also der KTF in die Pandemiebekämpfung hineingeschrieben werden.
Für den Bund ist das ein großes Problem, wenn auch eines, welches sich zumindest nicht als überraschend beschreiben ließe. Die Ampelkoalition muss allein mit dem verlorenen KTF ein Loch von 60 Milliarden EUR stopfen, denn seine Kredite stehen nun nicht mehr für Ausgabenwünsche zur Verfügung. Doch da sie dieselbe Umwidmungs- oder Verschiebungstaktik auch mit anderen Kreditermächtigungen gefahren wurde, ist etwa auch der riesige Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) nicht mehr zu halten. Das Gericht hat zwar nicht ausdrücklich über ihn geurteilt, doch zu diesem Schluss kam der Bund nach einer Analyse des Urteils. Aus ihm waren dieses Jahr bereits 43,2 Milliarden EUR kreditfinanziert geflossen, anders als beim noch ungenutzten KTF.
2023, 2024
Zwei Probleme entstanden durch das Urteil. Erstens, war der Haushalt 2023 für nichtig erklärt worden, denn ihn ihm wurden Mittel aus dem Nachtragshaushalt 2021 eingesetzt. Es galt also, den Haushalt zu “heilen”. Zweitens, fehlen plötzlich Mittel, welche für den Haushalt 2024 vorgesehen waren. Dieser muss also entweder mit weniger Ausgaben neu verhandelt werden oder es muss ein Weg gefunden werden, doch mehr Schuldenaufnahme zu ermöglichen.
Für 2023 setzt die Ampelkoalition auf die nachträgliche Ausrufung einer erneuten Notsituation, womit die Schuldenbremse ein weiteres Mal ausgehebelt wäre. Sie muss dafür ausreichend begründen, dass eine außergewöhnliche Notsituation vorlag, was ihr mit Verweis auf die Energiekrise gelingen dürfte (obwohl sich die FDP Anfang des Jahres noch genau dagegen gesperrt hatte), und den Zusammenhang zu den finanzierten Maßnahmen beweisen. Zur Prüfung durch das Verfassungsgericht käme es allerdings ohnehin nur, wenn jemand klagt. Die Union, welche die jetzige Haushaltskrise (“Entscheidungskrise”, so Lindner) durch ihre Klage angestoßen hatte, deutet an, nicht gegen einen Nachtragshaushalt 2023 vorgehen zu wollen. Damit wäre der Haushalt 2023 wahrscheinlich rechtssicher.
Für 2024 wäre eine Aushebelung der Schuldenbremse per Notsituation schwieriger. Sowohl die Union als auch die mitregierende FDP unter Finanzminister Christian Lindner zeigen sich hier weniger willens; zudem wäre der Verweis auf die Energiekrise Stand jetzt weniger stichhaltig, da sich die Lage an den Energiemärkten beruhigt hat. Damit bliebe der Regierung wenig übrig, als neue Einnahmen zu finden oder geplante Ausgaben zu kürzen – doch bei zweiterem ziehen SPD und Grüne viele rote Linien, sei es bei Sozialausgaben oder den Projekten im KTF (beschlossen ist bereits ein vorgezogenes Aus für Strom- und Gaspreisbremsen zu Jahresende statt Ende März). Die FDP wehrt sich derweil gegen Steuererhöhungen. Wahrscheinlich ist eine Kombination aus mehreren Schritten, um die laut Finanzministerium 17 Milliarden EUR große Haushaltslücke für 2024 zu schließen. Gelingt bis zum 15. Dezember keine Lösung, muss Deutschland 2024 wohl mit einem Übergangshaushalt beginnen, welcher die Ausgabemöglichkeiten einschränkt.
Gut zu wissen: Der KTF sollte 100 Milliarden EUR schwer sein, doch wird nun 40,8 Milliarden EUR beinhalten. Für 2024 sind zwar nur Zuschüsse und Investitionen in Höhe von 36 Milliarden EUR geplant, doch die Finanzierung der Projekte muss oft über mehrere Jahre aufrecht erhalten werden. Mangels der gelöschten 60 Milliarden EUR ist das nicht mehr gewährleistet – der Bund muss also entweder stutzen oder aus dem regulären Haushalt finanzieren. Ähnliche Probleme stellen sich bei aus dem WSF finanzierten Projekten, etwa einer Entlastung von Stromkunden bei den Netzentgelten.
Keine Sternstunde
Politisch ist der Vorgang eine Schlappe für die Ampelparteien. Die Union, welche ironischerweise in der Großen Koalition ihrerseits die Umwidmung von Krediten aus dem Zweiten Nachtragshaushalt in den KTF betrieben hatte, kann Kanzler Scholz als überfordert, die Grünen als nicht regierungsfähig und die FDP als fiskalisch unzuverlässig präsentieren.
Auch im Ausland wird die Krise übrigens genau wahrgenommen. Zu Sorge und Verwunderung mischt sich mitunter Häme, gerade aus Griechenland: Deutschland sollte “Notsteuern” einführen, könne Inseln verkaufen, um schnell an Geld zu gelangen, und müsse notfalls eine Troika empfangen, so ein ehemaliger Energieminister sarkastisch.
Entwarnung sei aber gestattet: Eine deutsche Eurokrise ist es nicht, eher eine Gelegenheit für die Bundesrepublik, die Frage nach der Generationengerechtigkeit wieder zu eröffnen: Was ist der richtige Mix aus Investitionen und fiskalischer Stärke? Und wo fangen Investitionen eigentlich an, wo hören sie auf? Mit den Antworten auf diese Fragen im Gepäck ließe sich auch die Schuldenbremse sinnvoll reformieren.
(Fast) Alles auf Anfang bei OpenAI_
(2,5 Minuten Lesezeit)
Turbo-Zusammenfassung: Ein Palastputsch ging schnell vorbei, doch was da vorgefallen ist, verstehen wir noch immer nicht.
Welch ein absurder Monat bei einem der wertvollsten Startups der Welt. Die KI-Schmiede OpenAI hat einen skurril ausgetragenen Führungsstreit erlebt, welcher sich als Englisch gut als meltdown beschreiben ließe. Unser Explainer “OpenAI und der Streit um die Zukunft der KI” zeigt die Ursprungsgeschichte des Mehr-oder-weniger-Non-Profit-Unternehmens, beschreibt die bekannten Dynamiken des Konflikts und erklärt, was es mit einem ganz grundlegenden Richtungsstreit innerhalb des Felds der Künstlichen Intelligenz auf sich hat.
Der Explainer stammte noch vom selben Wochenende, an welchem der Vorgang entstanden war, doch deutete bereits den weiteren Verlauf an: Der geschasste CEO Sam Altman und sein ihm ins Exil gefolgter “Offizier” Greg Brockman waren binnen weniger Tage wieder zurück. Stattdessen traten zwei Mitglieder des Verwaltungsrats, welcher Altman gefeuert hatte, zurück. Chefwissenschaftler Ilya Sutskever schien erst wie die treibende Kraft hinter dem “Palastputsch”, doch stellte sich später plötzlich ins Lager von Altman. Er behält seinen Job, aber ist nicht länger im Verwaltungsrat. Diesem wohnt dafür nun Großinvestor Microsoft mit einem Vertreter bei. Altman und Brockman sind zwar (vorerst?) nicht mehr im Verwaltungsrat, aber zurück in ihren Führungsrollen im Unternehmen.
Zeitweise war nicht klar, ob OpenAI überleben würde. Investoren, welche die Firma in einer gerade verhandelten Finanzierungsrunde mit 86 Milliarden USD bewerten wollten, drohten, ihre Anteile auf null Dollar herabzuwerten. Noch gravierender: 90 Prozent der Belegschaft drohten, die Firma zu verlassen. Viele hätten wohl bei Microsoft eine neue Heimat gefunden, welches ihnen ein offenes Tor signalisierte und in einem spektakulären Coup den gefeuerten Altman engagierte (wenige Tage später war dieser mit dem Segen des Großinvestors doch wieder zu OpenAI zurückgekehrt).
Damit ist die OpenAI-Episode ein beeindruckendes Beispiel für den Einfluss, welchen Fachkräfte in einer Mangelbranche haben. Ohne seine Mitarbeiter war OpenAI nichts, doch es wäre auch nicht imstande gewesen, kurzerhand andere zu finden – KI-Experten auf Weltklasseniveau gibt es nur sehr wenige. Die Belegschaft verstand ihren Hebel und spielte ihn konsequent aus. Dem Verwaltungsrat blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben.
Was war denn nun los?
Was wir immer noch nicht wissen, ist, was genau bei OpenAI vorgefallen ist. Ging es nun tatsächlich um den Richtungsstreit zwischen “mehr Sicherheit in der KI-Forschung, auch für weniger Tempo” und “Sicherheit, aber nicht für weniger Tempo”? Das stand im Kern unseres Explainers. Andere mögliche Begründungen beziehen sich auf mutmaßliche Seitenprojekte von Altman (so wollte er angeblich eine Chipfirma aufbauen, um OpenAIs Engpässe an KI-Chips zu lösen), auf mutmaßliche Ungereimtheiten im Führungsstil und auf einen KI-Algorithmus, welcher dermaßen gut im Lösen von Matheaufgaben gewesen sei, dass Mitarbeiter das sorgenvoll an den Verwaltungsrat herangetragen hätten (es gibt allerdings Zweifel, wie viel an dieser Story dran ist).
Die Theorien gehen gar so weit, dass der Verwaltungsrat den Machtkampf womöglich gar nicht verloren habe: Vielleicht hatte Altman versucht, den Rat zu entmachten, doch dieser kam ihm zuvor. Am Ende mussten zwar einige der Direktoren gehen, doch nicht alle, und Altman und Brockman haben ihre Posten im Verwaltungsrat ebenfalls verloren. Stattdessen sitzen dort nun mehr unabhängige Direktoren. Altmans Selbstputsch wäre also gescheitert.
Nun ist diese Theorie allerdings völlige Spekulation. Sie dient damit lediglich zur Illustration dessen, dass wir keinerlei Ahnung haben, was genau vorgefallen ist und wer welchen Machtkampf letztlich für sich entschieden hat. Für die meisten Beobachter ist es ohnehin genug zu sagen: Bei OpenAI ist alles zurück auf Anfang.
Weiterlesen:
Zu OpenAI und KI
OpenAI und der Streit um die Zukunft der KI (November 2023)
Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Künstlichen Intelligenz (März 2023)
Die Aktienmärkte_
Index: 30-Tage-Entwicklung (Entwicklung seit Jahresbeginn)
Dax 40: +7,95% (+16,55%)
S&P 500: +5,42% (+20,15%)
Dow Jones: +6,41% (+9,38%)
Nasdaq 100: +5,95% (+47,27%)
Nikkei 225: +2,21% (+30,00%)
MSCI World ETF (iShares): +8,25% (+18,06%)
Bitcoin: +11,94% (+133,52%)
Der Höhepunkt der Zinswende fühlt sich erreicht an, die US-Wirtschaft bleibt sehr robust und weder China noch Deutschland sind bislang implodiert – gepaart mit ordentlichen Firmenresultaten und einem anhaltenden KI-Hype lässt das die Stimmung unter Anlegern äußerst gut ausfallen.
Quelle: Google Finance, onvista