… und der Weg voraus für den Autobauer.
15.09.2024
VW verstehen | Was schief läuft | Wie es weiter geht
(14 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- VW kündigt scharfe Sparmaßnahmen an, darunter die ersten Werkschließungen der Firmengeschichte.
- Hintergrund ist eine Krise rund um niedrige Profitabilität (vor allem in der Kernmarke), hohe Transformationskosten und wachsenden Wettbewerb – und das alles inmitten eines schrumpfenden Markts.
- Die Arbeitnehmerseite und die Politik sind in Aufregung. Der Betriebsrat kündigt Widerstand an; die IG Metall will bald über 7% Lohnplus verhandeln.
- Auch die Arbeitnehmerseite erkennt die schwierige Lage an, auch wenn die Ursachenanalyse unterschiedlich ausfällt.
- An Sparmaßnahmen wird vermutlich kein Weg vorbei führen, doch es gibt viele Möglichkeiten zur Ausgestaltung.
- Im besten Fall finden Arbeitgeber und Arbeitnehmer wie schon in den 1990ern gemeinschaftlich eine Linie mit gegenseitigen Kompromissen.
VW verstehen_
(5 Minuten Lesezeit)
Ein Paukenschlag, auch wenn die Pauke bereits seit langem in der Hand lang. Der größte deutsche Autobauer Volkswagen steckt in der Krise. Die Warnzeichen – und auch die Warnungen – hatte es seit Jahren gegeben, doch wenig verdeutlichte es deutschen und internationalen Beobachtern so sehr, wie die Ankündigung der Geschäftsführung um Vorstandschef Oliver Blume am 2. September 2024: Der Konzern prüfe, eine 30 Jahre alte Jobgarantie zum Juni 2025 aufzugeben, betriebsbedingte Kündigungen durchzuführen und zum ersten Mal in seiner 87-jährigen Geschichte Werke in Deutschland zu schließen. Die Aufkündigung der Jobgarantie, seit 1994 in Kraft, ist bereits erfolgt. Wie konnte es so weit kommen?
Ein kurzer Blick ganz weit zurück
VW wurde im Jahr 1937 gegründet, nachdem Adolf Hitler drei Jahre zuvor die Produktion eines “Volkswagens” verlangt hatte. Das erste Werk entstand tatsächlich in Braunschweig und nicht in Wolfsburg, auch wenn letzteres gewissermaßen zur Werksstadt des Konzerns geriet und es in hohem Maße noch heute ist. Der Traum des Volkswagens (seinerzeit “Kraft durch Freude”-Wagen genannt) ließ sich nicht realisieren, denn der Zweite Weltkrieg band Ressourcen: VW produzierte Limousinen, Kübelwagen, Minen, Panzerfäuste und auch den weltersten Marschflugkörper V1 – schätzungsweise zu 80 Prozent unter Einsatz von Zwangsarbeit.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zukunft der Firma, welche allmählich einfach Volkswagen genannt wurde, ungewiss. Die britischen Besatzungsbehörden erwogen eine Demontage oder den Verkauf an ausländische Autobauer, doch unterstützten letztlich auch deswegen den lokalen Produktionsanlauf, um von sich Druck zur Versorgung der Lokalbevölkerung zu nehmen. Der “Käfer” wurde erstmals in Serie produziert und 1949 übergab Großbritannien den Konzern in Treuhandschaft an das Land Niedersachsen und den Bund, unter der Bedingung, dass die Gewerkschaften einen hohen Einfluss nehmen würden.
Gut zu wissen: Der Name Käfer könnte auf einen Artikel der New York Times zurückgehen, in welchem sie 1938 schrieb: “In Kürze wird der Führer sein großes Netz ebener Autobahnstraßen mit Tausenden und Abertausenden von glänzenden kleinen Käfern (little beetles) zupflastern, die von der Ostsee bis zur Schweiz und von Polen bis Frankreich vor sich her summen werden, Vater, Mutter und bis zu drei Kinder passen hinein, die ihr Vaterland das erste Mal durch die eigene Windschutzscheibe sehen”. Der Name setzte sich ab 1961 auch in Deutschland durch, um den Käfer von neuen Modellen abzugrenzen. Davor wurde er Typ 1 oder einfach Volkswagen genannt.
An die Weltspitze und tief herunter
VW gewann schnell an Bedeutung. Bis 1955 wurden 1 Million Fahrzeuge produziert und 1960 wurde der Konzern in großen Teilen privatisiert sowie als AG an die Börse gebracht. VW expandierte international, etwa 1963 nach Brasilien, wo es zu Zeiten der Militärdiktatur 1964-85 in Menschenrechtsverletzungen involviert war, 1978 in die USA und 1984 nach China. Bis 1972 wurde der Käfer mit über 15 Millionen Einheiten das meistgebaute Auto der Welt und brach den Rekord des Ford Model T. Erst 1997 sollte der Käfer-Rekord erneut gebrochen werden, vom Toyota Corolla; 2002 schob sich VWs neuer Kassenschlager Golf dahinter auf Platz 2. In den Folgejahrzehnten war VW stets unter den größten Autobauern der Welt, meist zusammen mit Toyota, GM, Hyundai und Ford.
VW erreichte die Nahezu-Weltspitze, doch das hieß nicht, dass es immer gut lief. In den Jahren 1974/75 gab es eine Krise und 1992/93 noch einmal eine besonders tiefe, da die Automobilnachfrage eingebrochen war. Geschäftsführung und Arbeitnehmerseite rauften sich zusammen und beschlossen eine Viertagewoche samt Gehaltsverzicht, um Geld zu sparen, und als Ausgleich eine Beschäftigungsgarantie bis 2029. In der Mitte der 2000er Jahre gab es einen kurzen Skandal über Schmiergelder und Lustreisen. Und 2015 dann “Dieselgate“, den Abgasskandal, bei welchem herauskam, dass VW seine Abgastests in großem Stile manipuliert hatte. Die rechtliche Aufarbeitung läuft noch heute.
VW und Porsche
Über die Jahrzehnte sammelte VW eine Vielzahl an Marken ein. Der erste Zukauf war 1965 die Auto Union GmbH, aus welcher Audi werden sollte. 1982 folgte die schrittweise Übernahme von Seat als erste nichtdeutsche Marke. 1994 kam Skoda hinzu, vier Jahre später Bentley, Lamborghini und Bugatti. Heute befinden sich insgesamt 10 Marken unter dem Dach von VW.
Besonders war stets das Verhältnis zwischen VW und dem Luxusautobauer Porsche. Ferdinand Porsche, ein deutscher Automobilunternehmer, hatte ursprünglich 1934 den Auftrag erhalten, den “Volkswagen” zu entwickeln. In den Nachkriegsjahren kooperierten Porsche und VW etwa bei bestimmten Fahrzeugdesigns und auch Komponenten. In den 2000ern versuchte sich Porsche dann an einer Übernahme von VW; ein gewagtes Manöver, da der Sportautohersteller eigentlich die kleinere Firma der beiden war. 2005 zahlte er 3 Milliarden EUR, um sich 20 Prozent der VW-Anteile zu sichern; anderthalb Jahre später erhöhte es den Anteil auf 30 Prozent, womit Porsche noch vor dem Land Niedersachsen größter VW-Anteilseigner wurde. Bis 2008 waren es über 50 Prozent der Stammaktien mit Stimmrecht, dazu Optionen auf 75 Prozent Anteil.
Die Porsche SE geriet allerdings in Schwierigkeiten: Sie hatte die Übernahme mit Krediten finanziert, sich finanziell verausgabt und litt unter der Finanzkrise. Also gab sie den Versuch auf, VW operativ zu kontrollieren. Stattdessen kam es andersherum: Um sich zu konsolidieren, einigte sich die Porsche SE darauf, dass sie zwar die Holding über VW bleibt, VW aber die Porsche AG – den eigentlichen operativen Autohersteller – übernimmt. Damit ist der Autobauer Porsche AG heute eine Tochter von VW, welches wiederum die Beteiligungsgesellschaft Porsche SE als Hauptaktionär besitzt.
Wem gehört VW?
Die moderne Eigentümerstruktur von VW ist ein Spiegelbild der Unternehmensgeschichte. 20 Prozent der Stimmrechte werden nach wie vor vom Land Niedersachsen gehalten, welches mit seinem Ministerpräsidenten Einfluss im Aufsichtsrat ausübt. Weitere 50 Prozent gehören über die Porsche SE den Unternehmerfamilien Piëch und Porsche. Konflikte zwischen diesen zwei Familien prägen bis heute die interne Politik bei VW.
VW ist heute einer der größten Konzerne der Welt, zumindest nach gewissen Metriken, welche nicht “Marktwert” lauten. Rund 680.000 Mitarbeiter sind angestellt, zum größten Teil in den über 100 Werken weltweit. Das große Zulieferernetz ist da noch gar nicht eingerechnet. Auch nach Umsatz ist VW unter der Top 10 weltweit. Es ist der mit Abstand größte deutsche Industriekonzern, welcher womöglich rund 0,5 Prozent des gesamtdeutschen BIP ausmacht. Es ist der Existenzgrund für die Stadt Wolfsburg und das Juwel Niedersachsens. Und außerdem tief im Krisenmodus.
Was bei VW schief läuft_
(5 Minuten Lesezeit)
Gute Zahlen, schlechte Zahlen
VWs Krise ist teilweise eine unterschwellige Angelegenheit. Wer nur auf die Oberfläche schaut, sieht Rekordzahlen: 322 Milliarden EUR Umsatz im Jahr 2023, eine kräftige 27-prozentige Steigerung gegenüber 2019. Der Umsatz im ersten Halbjahr 2024 liegt leichte 1,6 Prozent über dem Vorjahreszeitraum. Auch das operative Ergebnis (EBIT, earnings before interest and taxes) brach 2023 Rekorde. Da das EBIT Zinserträge und Steuern ausblendet, ist es häufig eine bessere Metrik, um die Geschäftsentwicklung nachzuvollziehen als der reine Nettogewinn.
Gut zu wissen: Ebenfalls beliebt ist das EBITDA (earnings before interest, taxes, depreciation and amortization) bzw. das bereinigte operative Ergebnis. Darin sind auch Wertabschreibungen und ähnliche Sondereffekte ausgeklammert.
Schon in den Zahlen deuten sich allerdings Schwierigkeiten an, wenn man ein wenig tiefer schaut. Das EBIT im ersten Halbjahr 2024 enttäuschte und der Umsatz der wichtigen Kernmarke Volkswagen Pkw ebenso; stattdessen mussten die kleineren Marken aushelfen. Der Absatz der Kernmarke lag 2023 kräftige 22 Prozent unter dem Niveau von 2019. Die operative Umsatzrendite, praktisch die Maßeinheit für die eigene Kosteneffizienz, fällt seit Jahren schwach aus. Für die Kernmarke betrug sie im ersten Halbjahr nur magere 2,3 Prozent; Ziel sind 6,5 Prozent. Der Status quo wäre dabei halb so schlimm, wenn nicht auch die Zukunft mehrere Schwierigkeiten versprechen würde.
Mehr Hände, weniger Kuchen
In erster Linie: eine erschwerte Wettbewerbssituation. VWs Autos gelten als grundsolide, aber meist eben auch nicht mehr. In der Digitalisierung hängen sie meist hinterher. Der Preis ist höher als weite Teile der Konkurrenz. Nicht nur, dass sich das einstige Startup Tesla längst als Platzhirsch im Elektroautomarkt etabliert hat und sich nicht so leicht abdrängen lässt: Eine Vielzahl neuer Hersteller, insbesondere aus China und für Elektroautos, weitet seinen Anteil im Markt aus. Zwei Beispiele sind BYD und Nio. Ihre Marktanteile in Europa oder Nordamerika sind zwar noch recht klein, doch wachsen; und im Heimatmarkt China etablieren sie sich und fressen tief in VWs Marktanteile. Das ist keine Randnotiz: Der chinesische Markt macht rund die Hälfte von VWs Absatz aus. Was in China passiert, tangiert den gesamten Konzern. Ambitionierte Ziele, seinen Marktanteil dort auszubauen, hat VW längst aufgegeben. Jetzt geht es nur noch darum, sich bei den aktuellen 15 Prozent zu stabilisieren.
Dass immer mehr Hände etwas vom Kuchen abhaben wollen, wird dadurch verschlimmert, dass der Kuchen selbst kleiner wird. Seit 2019 ist der europäische Automarkt um 13 Prozent oder 2 Millionen Einheiten geschrumpft. VW spürt das als Marktführer am meisten, mit rund 500.000 Autos. Werden die nicht verkauft, braucht es aber auch die rund zwei Werke und Zehntausende Mitarbeiter nicht, welche sie produzieren würden. “Der Markt ist einfach nicht mehr da”, so Finanzchef Arno Antliz.
Hohe Kosten, transformative Aufgaben
Teilweise sind VWs Probleme eng mit jenen verbunden, welche für Deutschland als Gesamtes angeführt werden, wenn es um die “Angebotsseite” der Wirtschaft geht – also, grob gesagt, die Unternehmenswelt. Hohe Energie- und Personalkosten schaffen einen natürlichen Wettbewerbsnachteil, welchen VW jahrzehntelang durch Produktionseffizienz, Technologieexzellenz, schiere Größe und seine Struktur (also etwa Synergien zwischen Marken und ein etabliertes Zulieferer- und Vertriebsnetz) ausgeglichen bekam.
In den letzten Jahren wurde diese Resilienz allerdings durch neue Herausforderungen erschüttert: Der Wandel zum Elektroauto, welcher bislang noch stärker in den Strategiepapieren als tatsächlich bei den Kunden stattfindet (2023 machten reine Elektroautos 8,3 Prozent des Absatzes aus), und die Digitalisierung, welche Autos plötzlich zu Computern auf Rädern macht und die Software zur Säule neben der Hardware (dem eigentlichen Auto) erhoben hat. Elektroautos benötigen neue Produktionswege, neue Komponenten, neue Zulieferer. Die Digitalisierung verlangte IT-Kompetenz.
Das Software-Problem
Beides funktionierte bei VW nicht so recht, zumindest abhängig davon, wen man fragt. Bei der IT sind sich jedoch fast alle einig: VWs hauseigene Softwaresparte Cariad hat seit ihrer Gründung 2020 fast nur negative Schlagzeilen geschrieben. Ihre Softwareplattformen waren verspätet und qualitativ unzureichend. Ein großer Grund dürfte gewesen sein, dass Cariad mit seinen 6.000 Mitarbeitern als eine Art Dienstleister der VW-Marken konzipiert wurde. Das entstehende Anforderungspotpourri dürfte die Sparte überfordert haben.
Ohnehin hatte sie alle Hände voll zu tun: Sie musste parallel eine neue Softwareversion erstellen und die bestehenden Versionen verwalten sowie instandhalten. Kooperationen zwischen VW und dem US-Autobauer Rivian sowie dem chinesischen Technologieunternehmen Xpeng, welche sowohl Hardware als auch Software umfassen, deuten an, dass VW seine Tochter Cariad womöglich bereits ein wenig aufgegeben hat.
Alles aufs E-Auto
Wie VWs Elektroauto-Offensive zu bewerten ist, scheidet die Geister. Im Kern geht es um die Frage, ob ein Nachfragerückgang bei VWs Elektroautos mit einer Schwäche des Gesamtmarkts zu erklären ist oder mit Problemen bei den VW-Modellen selbst. Keine Frage: Der Elektroautomarkt schrumpft. In den ersten acht Monaten 2024 wurden in Deutschland 360.000 E-Autos verkauft, ein Fünftel weniger als im selben Zeitraum 2023. Das bedeutet aber nicht, dass die VW-Produktpalette über alle Zweifel erhaben wäre: Die Elektroreihe ID und andere Modelle gefallen einigen Beobachtern und missfallen anderen, wobei die Kritik wohl insgesamt lauter ist.
Dazu kommt, wie die Elektroautos hergestellt werden: Sämtliche VW-Elektroautos basieren auf der Plattform MEB. Eine Plattform ist quasi eine Blaupause für die technische Basis eines Autos, auf welcher dann bestimmte Komponenten, Details oder Designeigenheiten hinzugefügt werden können. Im “Kern” sind sämtliche E-Autos von Volkswagen oder Skoda somit fast identisch. Eine Plattform zu nutzen, spart Kosten und schafft Synergien zwischen Modellen und Marken. Beim E-Auto war es aber ein Risiko, gleich auf eine konzernweite Plattform zu setzen, denn sie lässt sich viel schwieriger verändern und iterieren. Doch im hochdynamischen Feld der Elektroautos ist schnelle Weiterentwicklung wichtig, allein schon der Technologiezyklen willen, doch insbesondere, wenn das Unternehmen noch Erfahrungen sammeln will. Und VW war 2015, als es mit der Entwicklung von MEB begann, weit entfernt von Technologieführerschaft oder Produktionsexzellenz bei Elektroautos.
Ein vergeudetes Jahrzehnt?
All diese Fragen sind nicht per se neu, sondern mindestens 10 Jahre alt. Nicht wenige Analysten verorten den Beginn der Probleme bei VW auf 2015, als Ferdinand Piëch als Aufsichtsratschef aufhörte und – eher als symbolischer Startschuss, nur bedingt als Ursache – der schwere Abgasskandal ausbrach. Die Interpretation lässt sich angreifen, denn vermutlich wurden die Weichen bereits vorher gesetzt, doch feststeht, dass es den Konzernchefs Martin Winterkorn (welcher sich dieser Tage vor Gericht aufgrund besagten Abgasskandals verteidigt), Matthias Müller und Herbert Diess nicht gelang, VW zukunftsfähig aufzustellen. Diess betrieb dabei eine ambitionierte Elektrostrategie, doch schaffte es nicht, die schwerfällige Kostenstruktur bei VW zu verbessern. Als er andeutete, 30.000 Jobs streichen zu wollen, führte das zu derart starkem Widerstand des Betriebsrats, dass es zu seinem Rauswurf beitrug.
Gut zu wissen: Bereits im November 2023 hatten VW-Granden angedeutet, wohin die Reise gehen könnte: “Andere Hersteller würden in unserer Lage Werke schließen”, so Markenchef Thomas Schäfer damals gegenüber Bloomberg. Er bezog sich darauf, dass VW nicht profitabel genug sei, um seine “Transformation” aus eigener Kraft zu finanzieren.
Wie es jetzt weiter geht_
(4 Minuten Lesezeit)
Befreiungsschlag oder Kahlschlag?
Der radikale Sparplan der Geschäftsführung um Konzernchef Oliver Blume geschieht vor dem Hintergrund all dieser Probleme und Herausforderungen. VW soll sich effizienter aufstellen, um mehr finanzielle Schlagkraft zu behalten, um die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können. Elektroautos und Digitalisierung benötigen hohe Investitionen, was Geld erfordert; der Konkurrenzkampf gegen neue Marktteilnehmer ebenso, sei es in Form von höherer Qualität oder kräftigen Rabatten. Zu guter Letzt setzen auch Ausschüttungen an Aktionäre, darunter die renditebewussten Familien Piëch/Porsche, niedrigere Kosten voraus. Der neue Plan schlug allerdings wie eine Bombe bei den “Stakeholdern” von VW ein und zeigte auf, wie komplex die Machtverhältnisse in dem Konzern sind.
Zum einen wäre da die Arbeitnehmerseite. Bei einer Betriebsversammlung nannte Betriebsratschefin Daniela Cavallo die Pläne eine “Bankrotterklärung” und kündigte Widerstand an. Cavallo gilt als ruhige Strategin; anders als einige prominente Gewerkschafts- oder Betriebsratsführer ist sie nicht für exzentrisches Auftreten bekannt. Zudem arbeiten der mächtige Betriebsrat und die Geschäftsführung bei VW traditionell recht konstruktiv miteinander. Der scharfe Ton ist damit ein Ausdruck des Ernsts der Lage.
Die Politik lässt sich teilweise als Verlängerung der Arbeitnehmerseite lesen: Das Land Niedersachsen hat als zweitgrößter Aktionär ein hohes Interesse daran, dass es VW gut geht, aber ein noch höheres Interesse, dass es den über 100.000 niedersächsischen Mitarbeitern in sechs Werken gut geht (dazu kommen Zehntausende Beschäftigte bei Zulieferern). Oft interveniert sie deswegen zugunsten der Arbeitnehmer und stoppt Stellenstreichungen. Und auch für die Bundespolitik ist VW von Belang: Für die Regierung wären Werkschließungen und Kündigungen unangenehm; für die Opposition der Beweis für wirtschaftlichen Verfall.
Zu guter Letzt spielen auch die “freien” Anteilseigner, Investmentfonds und die Familien Piëch/Porsche eine Rolle. Ihre Priorität ist die Rendite in Form von Kursgewinnen oder Dividenden, doch diese wird mittelbar durch den Geschäftserfolg definiert. Finanzinvestoren und Mitarbeiter haben damit langfristig sehr ähnliche Anreizfunktionen, kurzfristig aber überhaupt nicht: Die Investoren dürften Blumes Pläne befürworten (und anekdotisch gehen viele Analysten d’accord), da sie die personellen Konsequenzen genau wie die Geschäftsführung als unvermeidbar ansehen.
Die Arbeitnehmerseite macht sich bereit
Die nächsten Wochen dürften besonders kompliziert werden, denn dann tritt die Gewerkschaft IG Metall in Verhandlungen mit der Geschäftsführung. Sie möchte 7 Prozent Gehaltsplus durchsetzen, was für VW inmitten eines Sparprogramms schwierig vermittelbar wäre. Nicht auszuschließen ist, dass die jetzigen Warnungen von Blume auch eine Funktion als Verhandlungsmasse gegenüber der Gewerkschaft haben: Keine Werkschließungen, dafür aber auch keine 7 Prozent. Die IG Metall hält sich jedenfalls alle Optionen offen: “Wir sind gesprächsbereit, aber auch kampfbereit”, so Chefin Christiane Brenner vor wenigen Tagen.
Dabei erkennt auch die Arbeitnehmerseite an, dass es VW nicht gut geht. Die IG Metall signalisiert ihre Bereitschaft zu einer Viertagewoche, wie schon in den 1990ern – ohne Gehaltsausgleich, versteht sich. Und Betriebsratschefin Cavallo erkennt ebenfalls die Notwendigkeit von Veränderungen, auch wenn jene der Geschäftsführung der “völlig falsche Weg” seien. Statt Streichungen brauche es weniger Komplexität, schnellere Entwicklungszyklen und effizientere Prozesse. Die Probleme seien nicht dadurch entstanden, dass zu viele Mitarbeiter beschäftigt seien oder schlechte Autos produziert würden, sondern durch Managementfehler, so Cavallo. Die Geschäftsführung widerspricht: Vereinbarte Versuche, nur über Effizienzgewinne und freiwilligen Arbeitskräfteabgang 10 Milliarden EUR bis 2026 einzusparen, seien nicht mehr genug.
Kein Weg vorbei
So oder so, Resultat dürften Sparpläne in irgendeiner Form sein. Denkbar ist, dass Werke geschlossen werden, aber vorerst nur kleinere; es bei den größeren aber zu Stellenstreichungen kommt. Still werden sich die Werke nicht verabschieden: Die Bürgermeister aus praktisch jeder betroffenen Stadt melden sich mahnend und warnend zu Wort, dass es nicht ihr Werk treffen dürfe. Vor allem in Osnabrück, wo die Auslastung häufig schwankte, herrscht Nervosität. Eine elegante Zusatzlösung könnte sein, Werke mit anderen Anbietern zu teilen: Chinesische Hersteller wie BYD und SAIC suchen nach Werkkapazitäten in Europa; VW hat nicht ausgelastete Werke.
Ansonsten steht nicht nur Sparen auf dem Plan: Blume kündigt auch Investitionen an, immerhin geht es bei dem Sparprogramm ausdrücklich um die Befähigung zur Investition. Und VW zeigt bereits einige neue Strategien: Autos für den chinesischen Markt entstehen künftig vollständig lokal, nach dem Prinzip “Aus China für China“. Das erlaubt es, die Autos noch stärker auf den Kunden zuzuschneiden und vor allem deutlich günstiger und schneller zu entwerfen und zu produzieren. Insider rechnen mit einer Halbierung des Entwicklungszyklus. Ähnlich könnte VW in Zukunft auch in anderen Märkten verfahren. Und die erwähnten Deals mit Xpeng und Rivian zeigen, wie VW künftig im Bereich Software mit kompetenteren Partnern arbeiten könnte, um Kosten und Zeit zu sparen.
Die Geschäftsführung findet, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, um das Ruder herumzureißen. “Wir haben noch ein Jahr, vielleicht zwei Jahre Zeit, das Ruder herumzureißen. Aber diese Zeit müssen wir nutzen”, so Finanzchef Antlitz. Für die Arbeitnehmerseite dürfte die Zeit sogar noch kürzer sein, um einen schweren Schaden in Form von Werkschließungen zu verhindern. Beide Seiten müssen allerdings aneinander denken: VW kann nicht ohne seine Mitarbeiter existieren und die Mitarbeiter haben wenig davon, einen langsamen Verfall weiterhin geschehen zu lassen. Am Ende des Tages werden alle an einem Strang ziehen müssen. Das ist bereits in der Vergangenheit gelungen.
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