… und ein Blick auf den großen Austausch aus August 2024.
04.08.2024
Der aktuelle Austausch | Kriegsgefangene | Agenten | Geiseln
(15 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Der jüngste Gefangenenaustausch zwischen Russland und westlichen Staaten ist besonders: 24 Personen und 7 Staaten waren beteiligt, zudem “erhandelte” der Westen auch russische Dissidenten.
- Die Geschichte von Gefangenenaustauschen zwischen Staaten ist relativ jung: Bis zum 17. Jahrhundert geschahen sie eher sporadisch; Tötungen oder Versklavungen waren die Norm.
- Agentenaustausche sind noch seltener, erst ab dem Kalten Krieg lassen sie sich gesichert nachvollziehen. Dabei sind russisch-amerikanische Austausche eindeutig am häufigsten und prominentesten.
- Eine nicht ganz neue, doch in den letzten Jahren an Beliebtheit gewinnende Kategorie: Die faktische Geiselnahme zumeist westlicher Staatsbürger, um sie gegen Agenten oder andere Vorteile zu tauschen. So operieren etwa Russland, Iran und China.
- In diesem Sinne hat der aktuelle Deal gefährliche Implikationen für die Zukunft. Das humanitäre Argument für ihn bleibt ungeachtet dessen stark.
Der Austausch_
(3 Minuten Lesezeit)
Nicht dein Durchschnitts-Gefangenenaustausch
Russland und sechs westliche Staaten haben am 1. August einen Gefangenenaustausch durchgeführt. Er ist in vielerlei Hinsicht besonders: Mit 24 beteiligten Personen ist es der größte russisch-westliche Austausch aller Zeiten und der größte überhaupt seit dem Kalten Krieg. Und sieben Staaten sind involviert, da es sich um russische, deutsche und amerikanische Staatsbürger handelt sowie die Russen in mehreren Ländern inhaftiert waren. Und der Deal befreite nicht nur gegenseitige Staatsbürger oder Agenten, sondern evakuierte auch einige russische Oppositionelle und Aktivisten aus dem Gefängnissystem des Landes. Einige der Russen kamen nur mit ihrer Kleidung am Leib in Deutschland an. Sie wurden nicht einmal gefragt, ob sie einer Evakuierung zustimmten und mindestens zwei sagten später, dass sie es nicht getan hätten.
Die Tatsache, dass westliche Staaten russische Staatsbürger herausgehandelt haben, ist ungewöhnlich. In klassischen Gefangenenaustauschen handelt ein Land seine eigenen Staatsbürger für die Bürger des Verhandlungspartners. Die Befreiung von Staatsbürgern des Verhandlungslandes aus dessen Gefängnissen ist rar (mit Doppelspionen als Ausnahme); die whathappened-Redaktion kann sich nur an zwei solche Fälle erinnern, welche sie später nennt.
Auch die Zahl der beteiligten Staaten ist bemerkenswert und vermutlich ein historischer Rekord. Je mehr Parteien involviert sind, umso höher die Komplexität. Anders als für Kriegsgefangene, deren Austausch und Freilassung grundsätzlich durch die erste Genfer Konvention 1864 “betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen” geregelt ist (und 1906, 1929 und 1949 modifiziert wurde), gibt es für Austausche wie den jetzigen keine Rechtsgrundlage und keine internationalen Abkommen. Das bedeutet, dass sie vollständig politische Angelegenheiten sind. Meistens bedeutet das bilaterale Verhandlungen, in diesem Fall siebenseitige.
Das Machtwort des Kanzlers
Wie laufen solche Verhandlungen ab? Jeder Staat handhabt das etwas anders, doch gemein ist, dass die Entscheidung fast immer auf höchster politischer Ebene liegt. In den USA beim Präsidenten und der Spitze des Außenministeriums (State Department), in Deutschland entsprechend beim Bundeskanzler und Auswärtigen Amt. In den USA gibt es zudem eine dedizierte Klassifizierung für Staatsbürger, welche aus politischen Gründen im Ausland inhaftiert sind: “wrongly detained”, zu Unrecht inhaftiert. Erhält jemand diese Einstufung, setzt das einen internen Mechanismus in Gang, welcher bedeutet, dass US-Behörden und die Regierung die Freilassung der Person auszuhandeln versuchen.
In den aktuellen Austausch war maßgeblich Deutschland involviert, so das Wall Street Journal und andere Medien übereinstimmend. Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Team nahmen offenbar in den Verhandlungen eine zentrale Rolle ein und stellten sich dabei gegen den deutschen Sicherheitsapparat, mehrere Minister und das Auswärtige Amt, welche den Tausch allesamt abgelehnt hätten: Zu hoch wirkten ihnen die Kosten in Form von Vadim Krasikov, einem Agenten des russischen Geheimdiensts FSB, vermutlich Teil der elitären Einheit “Vympel“. Er hatte 2019 den tschetschenischen Ex-Rebellenführer Zelimkhan Khangoshvili am helllichten Tag im Berliner Tierpark erschossen. 2021 wurde der “Tiergartenmörder” wegen Mordes verurteilt. Das Gericht nannte es einen Akt von russisch betriebenem “Staatsterrorismus” und äußerte die begründete Vermutung, dass Krasikov zuvor bereits Morde in Russland an Kreml-Kritikern verübt habe.
Ursprünglich sollte Krasikov offenbar für Alexei Nawalny gehandelt werden, doch der Dissident starb Anfang 2024 im russischen Gefängnissystem. Daraufhin begannen Monate an Gesprächen, in welchen Deutschland und die USA eine informelle “1-zu-1”-Regel aufgaben: Will der Kreml Krasikov, muss er eine größere Zahl an Gefangenen freilassen. So kam es nun.
Gut zu wissen: Das Wall Street Journal wählt in seinem großen Report zum Austausch eine interessante Beschreibung für Bundeskanzler Olaf Scholz: “Drei Flüge später landeten die müden und verwirrten Dissidenten, von denen einige in Wladimir Putins Russland Giftanschlägen und Folter getrotzt hatten, auf einem kleinen Flugplatz außerhalb Kölns. Sie wurden von einem unauffälligen, glatzköpfigen Mann im gestreiften Anzug begrüßt, der allein auf dem Rollfeld stand. Er stellte sich als Olaf Scholz, der Bundeskanzler von Deutschland, vor.”
Eine Geschichte der Kriegsgefangenen_
(4 Minuten Lesezeit)
Der Anfang aller Austausche
Gefangenenaustausche finden bereits seit Jahrtausenden statt, doch ihre Form hat sich über die Epochen deutlich verändert. Klassischerweise waren es Kriegsgefangene, nicht Agenten, über welche ein Land zu entscheiden hatte.
In der Antike waren Freilassungen noch rar: Kriegsgefangene wurden meist getötet oder in die Sklaverei verkauft. Auf einige Gefangenen, insbesondere hochrangige oder aus reichen Familien, wurden Lösegelder ausgestellt. Großflächige Gefangenenaustausche gab es nicht, vermutlich, weil ein tribalistischeres Bild von Freund und Feind herrschte, Sklaverei verbreitet war und die komplexen Verhandlungen, welche vonnöten wären, logistisch schwieriger durchzuführen waren. Ein sehr seltener Anlauf war der Nikiasfrieden im Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta 421 v. Chr., welcher einen Gefangenenaustausch vorsah, allerdings am mangelnden Vertrauen der Parteien ineinander scheiterte.
Gut zu wissen: Ein besonders bekannter Fall von antikem Lösegeld stammt nicht aus einem zwischenstaatlichen Konflikt, sondern Piraterie: Als Piraten 75 v. Chr. den damals 25-jährigen Adligen Julius Caesar auf seinem Weg zu Rhetorikunterricht auf Rhodos entführten, setzten sie sein Lösgeld auf 20 Talente fest. Caesar kritisierte das als zu niedrig und verlangte, sein Lösegeld auf 50 Talente hochzusetzen. In der Gefangenschaft kommandierte Caesar die Piraten offenbar herum und nutzte sie als unwilliges Publikum für seine Rhetorikübungen. Nachdem sein Lösegeld aufgebracht und er befreit worden war, organisierte Caesar Kriegsschiffe, nahm die Piraten gefangen und ließ sie kreuzigen. Die Anekdote wurde von mehreren römischen Historikern, darunter Plutarch, berichtet.
Erst ab dem frühen Mittelalter ließen sich gelegentliche große Kriegsgefangenenaustausche beobachten, etwa zwischen dem oströmischen Byzantinischen Reich und den arabischen Kalifaten. Sie führten seit 629 n. Chr. unentwegt Krieg miteinander und bauten über die Jahrzehnte ein Verständnis von und Respekt für den Gegner auf. Ab spätestens 769 begannen sie Gefangenenaustausche und führten davon bis zum Jahr 1.000 mindestens 20 Stück mit Tausenden Kriegsgefangenen durch. Alle Austausche fanden am Grenzfluss Lamos statt, an welchem zwei Brücken eingerichtet wurden: Über eine schritten die byzantinischen Gefangenen, über die andere parallel – und in gleicher Anzahl – die arabischen. Das sollte nicht unähnlich zu dem Modus sein, in welchem ein Jahrtausend später Agenten im Kalten Krieg ausgetauscht würden.
Von solchen Ausnahmen abgesehen, blieben Gefangenenaustausche allerdings eine Seltenheit. Versklavung, Massentötungen und in besonderen Fällen Lösegeldforderungen blieben auch im Mittelalter – sei es in Europa oder im Rest der Welt – die Norm im Umgang mit Kriegsgefangenen.
Der Weg zum Völkerrecht
Der erste (bekannte) verschriftlichte Aufruf zu einer humanen Behandlung von Kriegsgefangenen erfolgte 1625 durch den niederländischen Rechtsgelehrten Hugo Grotius in seinem Werk “Über das Recht des Krieges und des Friedens. Er argumentierte, dass Gnade im Eigeninteresse der Parteien sei: Lebendige Kriegsgefangene seien Arbeitskräfte und Verhandlungsmasse. Bereits 1648 wurde das im Westfälischen Friedensvertrag angewandt: Der Vertrag, welcher den Dreißigjährigen Krieg beendete, sah vor, dass sämtliche Kriegsgefangene ohne Lösegeldzahlung in ihre Heimat zurückkehren dürften – und schuf damit den Präzedenzfall für den Umgang mit Gefangenen nach Ende von Feindseligkeiten.
Mit dem Erstarken der europäischen Aufklärung wurde auch der Umgang mit Kriegsgefangenen immer häufiger thematisiert. 1758 erklärte der preußische Rechtsgelehrte Emer de Vattel in seinem Werk “Das Völkerrecht”: “Sobald der Gegner entwaffnet ist und sich ergeben hat, hat niemand mehr das Recht, ihm das Leben zu nehmen.” Vier Jahre später äußerte sich der französische Politphilosoph Jean-Jacques Rousseau in seinem “Gesellschaftsvertrag” ähnlich. 1797 entstand in England das erste dedizierte Kriegsgefangenenlager für Gefangene aus den Napoleonischen Kriegen. 1863 bat US-Präsident Abraham Lincoln den Verfassungsexperten Franz Lieber, den weltweit ersten formellen Verhaltenskodex gegenüber Kriegsgefangenen aufzusetzen. Der “Lieber Code” inspirierte ein Jahr später die Genfer Konventionen; weitere internationale Abkommen folgten im frühen 20. Jahrhundert.
Die Abkommen würden in den folgenden Kriegen in unterschiedlicher Wirksamkeit zum Einsatz kommen. Nicht selten fehlte der Wille, das Recht einzuhalten; noch häufiger die Fähigkeit, die Kriegsgefangenen tatsächlich am Leben und bei Gesundheit zu halten. Vor allem die Weltkriege gerieten mit Millionen von Kriegsgefangenen zur Strapaze für die Kapazitäten der Parteien und somit das Kriegsgefangenenrecht. Im Ersten Weltkrieg waren insbesondere in Russland und dem Osmanischen Reich die Bedingungen schlecht; im Zweiten Weltkrieg in Deutschland, der Sowjetunion und Japan. Kaiser Hirohito befahl ausdrücklich, sich nicht an internationales Kriegsrecht zu halten; nur 56 von vermutlich Millionen chinesischen Soldaten und Partisanen, welche sich ergeben hatten, waren zu Kriegsende lebendig und konnten befreit werden. Und dennoch: Die Überlebenschancen für Kriegsgefangene waren insgesamt noch nie so gut wie in der Neuzeit ab dem 18. Jahrhundert.
Gut zu wissen: Eine weitere Schwierigkeit im Umgang mit Kriegsgefangenen ist die sich verändernde Natur von Krieg. Formeller zwischenstaatlicher Krieg ist heute selten geworden, stattdessen herrschen viele Bürgerkriege, internationaler Terrorismus oder unterschwellige staatliche kriegerische Operationen (z.B. Russlands Vorgehen in der Ukraine seit 2014 oder die ausländische Beteiligung am Syrienkrieg). Das verkompliziert auch den Umgang mit Gefangenen. Viele Kämpfer des Islamischen Staats, beispielsweise, werden von ihren Heimatländern nicht zurückgewollt oder haben ihre Staatsbürgerschaft verloren; sie sitzen seit Jahren in Kriegsgefangenenlagern in Syrien und im Irak.
Eine Geschichte der Agentenaustausche_
(4 Minuten Lesezeit)
Patrioten heimbringen
Das war eine kurze Geschichte des Umgangs mit Kriegsgefangenen. Doch der Gefangenenaustausch vom August 2024 hat wenig mit Krieg zu tun. Stattdessen geht es, teilweise, um Agenten. Der Kreml macht keinen Hehl daraus, dass die Vorwürfe gegen seine acht freigehandelten Staatsbürger zutreffen und es sich um Spione und andere Agenten handelte: Präsident Wladimir Putin traf sie persönlich mit Umarmungen und rotem Teppich, lobte ihre “Loyalität zum Vaterland” und dankte besonders “jenen von Ihnen, welche Verbindungen zum militärischen Dienst haben”. Kremlsprecher Dmitri Peskow sprach offen davon – als charmante Anekdote, quasi –, dass die Kinder des Pärchens Dulzew/Dulzewa gar nicht wussten, dass sie Russen sind: Artjom und Anna hatten sich in Slowenien als Argentinier ausgegeben, als Teil des russischen “Illegalen”-Spionageprogramms. Ganz nebenher (und nicht zum ersten Mal) hatte der Kreml damit frühere Falschaussagen und Dementi über Bord geworfen, sobald sie keine Funktion mehr erfüllten. Die Kinder wussten nicht einmal, wer Putin sei, so Peskow weiter. Das sei, wie Undercover-Agenten nun einmal arbeiten würden. “Solche Opfer erbringen sie für ihre Arbeit”.
Gut zu wissen: Das “Illegalen”-Programm unterscheidet sich von “legalen” Spionen darin, dass die Agenten keine offizielle diplomatische Tätigkeit im Zielland erfüllen, wie es oft der Fall ist. Stattdessen nehmen sie gewöhnliche, harmlose (und falsche) Identitäten an; arbeiten in normalen Berufen oder gründen Geschäfte, wie Artjom Dulzew in Slowenien. Das erlaubt es ihnen, besser unter dem Radar zu bleiben, allerdings auf Kosten diplomatischer Immunität. Prominent wurde der Fall Anna Chapman (gebürtig: Anna Vasilyevna Kushchenko) in den USA. Ihre Versuche, in die politische und kulturelle Elite des Landes vorzudringen sowie ihre Verhaftung 2010 sorgten in den USA für Aufsehen.
Eine Geschichte des Kalten Krieges
Historisch sind Agentenaustausche eine relativ neue Angelegenheit. Spionage- und Gegenspionage zwischen Ländern existiert nachweislich seit Jahrtausenden, doch so wie Soldaten kaum ausgetauscht wurden, so offenbar Spione noch umso weniger. Die whathappened-Redaktion findet keinen einzigen eindeutigen Fall von Agentenaustauschen vor dem Kalten Krieg. Kein Wunder: Spionage findet per definitionem im Verborgenen statt; Staaten möchten ungern einräumen, dass sie spionieren und ausspioniert werden. Also wird diskret ausgetauscht oder im Rahmen größerer Kriegsgefangenenaustausche – wenn der gefangene Spion nicht einfach gleich hingerichtet oder im Gefängnis belassen wird.
Mit dem Kalten Krieg änderte sich das Spielfeld. Der zentrale Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA fand vor allem auf geheimdienstlicher Ebene statt; der Agentenaustausch wurde zum Pendant des Kriegsgefangenenaustausches. Zum ersten Mal tauschten sie im Februar 1962 an der Glienicker Brücke nahe Berlin Agenten aus, welche sie jeweils gefangen genommen hatten. Damals wurden Rudolf Abel, einer der wichtigsten sowjetischen Spione in den USA, und Francis Powers, der Pilot eines abgeschossenen amerikanischen U-2-Spionageflugzeugs, getauscht. 1985 und 1986 wurden zwei erneute Austausche vorgenommen. Die Brücke erhielt den Spitznamen “Agentenbrücke” bzw. “Bridge of Spies” und schuf eine historische Parallele zum Fluss Lamos, an welchem 769 womöglich der erste große Kriegsgefangenenaustausch stattgefunden hatte.
Dissidenten retten
Der letzte Austausch an der Glienicker Brücke war dadurch besonders, dass auch Anatoli (heute: Natan) Scharanski getauscht wurde. Er war ein bekannter Dissident und Oppositioneller in der Sowjetunion. Aus Sicht der USA war er ein politischer Häftling, aus Sicht der Sowjetunion ein inhaftierter Agent, welcher Spionage für Washington betrieben habe. Bis heute dementieren US-Offizielle das ausdrücklich, darunter ein ehemaliger Diplomat in Europa. War er kein Agent, hätten die USA keinerlei direkten Bezug zu Scharanski gehabt. Das würde ihn zu einem seltenen Fall machen, in welchem ein Staat in Friedenszeiten fremde Staatsbürger aus ihrem Heimatland evakuierte, weil sie dort zu politischen Gefangenen geraten waren.
Gut zu wissen: Der sowjetische Geheimdienst KGB ließ sich bei der Freilassung Scharanskis eine letzte Demütigung offenbar nicht nehmen: Der Dissident erhielt viel zu weite Hosen und keinen Gürtel. Er musste beim Überschreiten der Glienicker Brücke vor den Fernsehkameras seine Hose festhalten, damit sie nicht herunterfiel.
Die whathappened-Redaktion kennt daneben nur einen Fall, in welchem ein ausländischer Dissident evakuiert wurde, nämlich im selben Jahr bei Yuri Orlov. Er war ein Physiker und Gründer des sowjetischen Ablegers von Amnesty International sowie 1976 der NGO Moscow Helsinki Group, einer der ältesten und wichtigsten Menschenrechtsorganisationen der Sowjetunion. Er ignorierte Aufforderungen des KGB, die Gruppe zu schließen und wurde 1977 verhaftet (2022 wurde die NGO final in Russland verboten). Neun Jahre später handelten die USA ihn frei, erneut, ohne irgendeinen direkten Bezug zu dem sowjetischen Staatsbürger zu haben.
Die Seltenheit solcher Fälle zeigt, wie historisch einzigartig der Austausch im August 2024 mit gleich 8 befreiten Russen, von welchen übrigens keinem vom Kreml Spionage vorgeworfen wird, war.
Weitermachen, wo man aufgehört hat
Nach dem Ende der Sowjetunion setzten sich Agentenaustausche zwischen Russland und den USAfort. 2010 wurden 10 russische “illegale” Agenten (siehe unsere “Gut zu wissen”-Box weiter oben) gegen vier Agenten in Russland getauscht. Unter den aus Russland freigelassenen war auch Sergei Skripal, ein Offizier im Militärgeheimdienst GRU, welcher als Doppelagent für Großbritannien agierte. 2018 wurde er in Salisbury, England, Opfer eines Giftanschlags mit dem Nervengift Nowitschok, sehr wahrscheinlich durch Russland durchgeführt. Aus den USA kam derweil Anna Chapman, die wohl bekannteste “Illegale” frei. Sie lebt in Russland seitdem ein Leben in relativer Medienprominenz, besaß zeitweise ihre eigene Show. Der Anreiz, enttarnte und zurückgekehrte Spione wie Helden zu behandeln, ist klar: Es erhöht die Loyalität und Rekrutierungsfähigkeit des Geheimdienstsektors beträchtlich.
Auch anderswo in der Welt fanden Agentenaustausche statt. Taiwan und China tauschten 2015 gegenseitig Spione aus. Kuba ließ 2014 einen amerikanischen Entwicklungshelfer und mutmaßlichen Spion im Tausch für drei mutmaßliche kubanische Spione in den USA gehen. Es gibt Hinweise, dass Pakistan und Indien Spione austauschen. Und Israel gab 2008 einen Hisbollah-Spion zwar nicht für einen eigenen Agenten frei, dafür aber für den Körper eines getöteten Soldaten.
Die Geisellogik_
(4,5 Minuten Lesezeit)
Auge-um-nicht-ganz-Auge
Ein weiteres Attribut des Austausches aus August 2024 ist, dass er sich als asymmetrisch bezeichnen lässt. Die freigelassenen Russen sind entweder vom Kreml selbst als Spione bestätigt oder von transparenten westlichen Justizsystemen verurteilt worden, etwa für Mord und Betrug. Die freigelassenen US-Bürger, Deutsche und Russen wurden dagegen wahlweise…
- völlig intransparent verurteilt (es ist nicht einmal klar, welcher Paragraf für die Verurteilung des Journalisten Evan Gershkovich genutzt worden ist)
- bemerkenswert drakonisch verurteilt (das 25-Jahre-Urteil gegen Wladimir Kara-Mursa ist im russischen Rechtssystem völlig einzigartig und sucht seinesgleichen zuletzt in der stalinistischen Ära)
- mit kaum glaubwürdigen Vorwürfen verhaftet (der Deutsch-Russe Kevin Lick war 17 Jahre alt, als er “Landesverrat” beging; ein eng von den Behörden beobachteter Journalist wie Gershkovich wäre kein intuitiver Agent)
- oder für diffuse Taten verurteilt, etwa “Diskreditierung der Armee”, “Extremismus” und “unerwünschte Aktivitäten”.
Aus dieser Kombination an Umständen ergibt sich, dass sich die in Russland inhaftierten Ausländer in Gesamtheit als “Geiseln” bezeichnen lassen, mit der Einschränkung, dass sich nicht jeder Anklagevorwurf von außen ausdrücklich dementieren lässt.
Keine neue Strategie
Der Anreiz dafür, Ausländer festzuhalten, um diplomatische Konzessionen von ihrem Heimatstaat zu hebeln, ist intuitiv. Es ist auch keine Neuheit. Bereits 1986, beim selben Tausch, in welchem die Sowjetunion den Dissidenten Yuri Orlov freigab, ließ sie auch einen wegen Spionage verhafteten US-Journalisten gehen: Nicholas Daniloff. Wenige Tage zuvor hatten die USA Gennadi Zakharov, einen Mitarbeiter der sowjetischen UN-Botschaft, verhaftet, nachdem er in einer FBI-Operation vorgetäuschte Militärgeheimnisse zu kaufen versucht hatte. Wie schon im Fall Gershkovich: Ein Journalist ist ein schlechter Spion, da er in einem autoritär regierten Land unter extremer behördlicher Beobachtung steht und meist strengen Registrierungspflichten unterliegt. Der Schluss liegt also nahe, dass Moskau Daniloff als Vergeltung und Verhandlungsmasse verhaften ließ.
Russland setzte diese Strategie in den folgenden Jahrzehnten fort. Im Jahr 2004 verhaftete Katar zwei russische Agenten, welche einen tschetschenischen Rebellenchef mittels einer Autobombe getötet hatten. Russland verhaftete im Gegenzug zwei katarische Sportler. Alle vier wurden kurz darauf ausgetauscht (Moskaus Versprechen, dass die Agenten zuhause ihre lebenslange Haft verbüßen würden, brach es: Sie wurden feiernd empfangen und gingen nie ins Gefängnis). Im April 2022 tauschte Russland den früheren US-Marine Trevor Reed, welcher für einen mutmaßlichen Angriff auf einen Polizisten verurteilt worden war, für Konstantin Yaroshenko, einen internationalen Kokainschmuggler. 2022 ließen die USA den russischen Waffenhändler Viktor Bout, mit engen Verbindungen zum Kreml, im Gegenzug für die Basketballspielerin Brittney Griner gehen, welche in Russland aufgrund von Cannabisöl im Gepäck zu 9 Jahren Haft verurteilt worden war.
Ein Austausch, welcher umstritten sein darf
Wie ist der aktuelle Gefangenenaustausch vor dem Hintergrund dieser “Geisellogik” zu bewerten? Der humanitären Abwägung, (unrechtmäßig inhaftierte) eigene Staatsbürger sowie lebensgefährlich bedrohte Dissidenten zu evakuieren, stehen die spieltheoretischen Implikationen gegenüber.
Erstens, kann der Kreml dem eigenen Geheimdienstsystem effektiv signalisieren, dass es loyale Agenten auch dann nach Hause gebracht bekommt, wenn sie im Auslandseinsatz erwischt werden – und sei es, dass sie Mord begehen. Nicht nur das, sie erhalten sogar einen roten Teppich ausgerollt und können sich auf Karrieren im Mediensektor (Chapman) oder in der Politik (Bout) freuen. Der “Tiergartenmörder” Vadim Krasikov ist in Russland nun ein “Patriot”, eine Prominenz und ein Nationalheld. Andersherum erhöht der Vorgang das Risiko für Kreml-Gegner im Westen. Attentate auf sie werden für Moskau gangbarer, wenn die Wahrscheinlichkeit, die Agenten zurückzubekommen, steigt. Allein diese Gewissheit in den Köpfen der Dissidenten ist für den Kreml bereits ein Erfolg.
Zweitens, illustriert der Austausch den Nutzen davon, ausländische Geiseln zu nehmen. Fünf Deutsche ohne besondere Funktion, zwei Journalisten und ein US-Tourist mit Militärvergangenheit genügten – gepaart mit einigen prominenten sowie weniger prominenten russischen Dissidenten –, um die wichtigsten Ziele des Kremls freizuhebeln. Es wäre irrational und töricht, wenn Moskau in der Zukunft nicht noch mehr westliche Staatsbürger verhaftet. Sei es, weil sie sich tatsächlich Vergehen leisten, wie US-Basketballspielerin Griner und einer der deutschen Häftlinge, welche beide gegen die strengen Drogenregeln verstießen, oder durch einen beliebig vorgeschobenen Anlass, welchen das intransparente russische Justizsystem ohnehin nie mit Beweisen unterfüttert.
Gefahr für westliche Staatsbürger
Die westlichen Staaten, vor allem die Verhandlungsführer USA und Deutschland, könnten damit einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen haben. Nicht nur Russland zieht aus dem Erfolg seine Lehren, sondern auch andere Länder. Iran verhaftet im Grunde seit der Islamischen Revolution 1979 regelmäßig westliche Staatsbürger, oft Doppelstaatsbürger. Es verlangt im Gegenzug Geld, Spione, Attentäter und Sanktionslockerungen, häufig mit Erfolg. Erst im Juni 2024 erwirkte Iran aus Schweden die Freilassung von Hamid Nouri, welcher 1988 die Hinrichtung von schätzungsweise 5.000 politischen Gefangenen beschlossen hatte. Dafür ließ es zwei Schweden frei, einen Doppelstaatsbürger und einen EU-Diplomaten. Weitere Runden, in welchen Iran unter fragwürdigen Umständen verhaftete westliche Staatsbürger – effektiv Geiseln – einsetzte, gab es zuletzt..
- 2023 (Iran erwirkte von den USA die Freigabe von 6 Milliarden USD an eingefrorenen Geldern)
- 2022 (530 Millionen USD von Großbritannien)
- 2020 (es tauschte einen britisch-australischen Akademiker für drei mutmaßlich in Bombenanschlagspläne verwickelte Agenten in Thailand)
Somit dürften auch Iran und andere autoritäre Staaten und Gruppen wie China, Venezuela oder die Hamas den aktuellen Austausch als erneuten Beweis dafür sehen, dass die Geiselnahme westlicher Staatsbürger ein effektives Mittel ist, um politische Ziele zu erreichen. Noch jetzt sind rund 25 Deutsche weiterhin in Russland inhaftiert. In den letzten Monaten vor der Aushandlung des jetzigen Deals stieg die Zahl übrigens offenbar rapide an, was einen verhandlungstaktischen Grund nahelegt. Final überzeugte die deutsche Seite offenbar, dass Belarus gegen einen Deutschen ein Todesurteil verhängte. Auch das setzt eine gefährliche Präzedenz.
Das bedeutet nicht, dass der Deal zwingend schlecht war. Olaf Scholz hat recht damit, wenn er sagt, dass das “staatliche Interesse an der Vollstreckung der Freiheitsstrafe” abzuwägen sei mit der “Freiheit und Gefahr für Leib und […] Leben unschuldig in Russland inhaftierter Personen und zu Unrecht politisch Inhaftierter”. Je nachdem, wie man diese Abwägung trifft, war der Austausch ein Erfolg für Russland und den Westen oder nur für Russland.
Zu guter Letzt könnte auch auf Seiten der westlichen Verhandlungsführer ein gewisses strategisches Kalkül mitgewirkt haben. Ein großer Grund für Scholz’ Überzeugung für den Austausch sei gewesen, dass er US-Präsident Joe Biden dabei helfen wollte, die drei seit Jahren gefangenen US-Amerikaner zurückzubringen. Vielleicht ist der Grund vorgeschoben, vielleicht geht es nur um Solidarität – doch vielleicht eben auch darum, den US-Demokraten einen Erfolg für den laufenden Wahlkampf zu bieten. Als Tropfen auf dem Fass der humanitären Abwägung könnte das den Ausschlag gegeben haben, den Austausch zu vollziehen.
Weiterlesen
Zu Russlands Gesellschaft:
Das System Russland (Januar 2021)
Russlands Pfad, Teil 1: Memorial (August 2023)
Russlands Pfad, Teil 2: Die vertane Chance (2023)
Russlands Pfad, Teil 3: Dunkelheit (2024)
Der lange Arm des Autoritarismus (2024)
Zum Völkerrecht
Wie funktioniert das Völkerrecht? (2024)