June 12, 2024
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15 Minuten Lesezeit

Die Herausforderungen der EU

Die Herausforderungen der EU und ihre großen Weggabeln in den kommenden Jahren. (Juni 2024)
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… und ihre großen Weggabeln in den kommenden Jahren.
09.06.2024

Europawahl 2024 | Verteidigung und Sicherheit | Populisten | Immigration | Erweiterung & Integration | Wettbewerbsfähigkeit & Transformation
(18 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Die jetzige Europawahl wird die Stoßrichtung der EU bei einer Reihe großer Herausforderungen bestimmen.
  • Die russische Aggression zwingt die EU zu einer aktiveren Verteidigungspolitik. Dazu kommt der Umgang mit immer mehr hybriden Attacken.
  • Die EU muss ihre Rolle in einer “multipolaren” Welt und zwischen den USA und einem ambitionierteren China definieren.
  • Die steigende Beliebtheit populistischer Parteien, häufig offen EU-kritisch, schafft mittelfristig Gefahren für die Integrität des Projekts und die Qualität seiner Entscheidungen.
  • Immigration wird als Megathema vermutlich nie mehr verschwinden, höchstens etwas abklingen – die EU muss ihre Linie wählen.
  • Die EU muss beantworten, ob sie Erweiterung und/oder tiefere Integration wünscht. Derzeit scheint beides eher pausiert.
  • Die EU befindet sich im wirtschaftlichen Wettbewerb mit anderen Industriestaaten und aufstrebenden Volkswirtschaften wie China. Verkompliziert wird das durch große Transformationsprozesse: Digitalisierung, Klima, Zukunftstechnologien.

Die Europawahl 2024_

(2 Minuten Lesezeit)

Die EU schließt am 9. Juni 2024 die weltweit zweitgrößte demokratische Wahl ab. In 27 Ländern wählen rund 370 Millionen Wahlberechtigte aus Dutzenden Parteien, deren Ergebnisse die Zusammensetzung der 720 Abgeordneten im EU-Parlament ergeben. Die nationalen Parteien sind im Parlament in Fraktionen sortiert, welche eine Art ideologische Familie darstellen. Diese Fraktionen einigen sich dann auf die Besetzung der EU-Kommission samt Präsidentin, sprich die “EU-Regierung”, wobei die Fraktionen seit 2014 “Spitzenkandidaten” vorschlagen. Da die konservative Fraktion EVP als Favorit gilt, stärkste Kraft zu werden, hat ihre Kandidatin Ursula von der Leyen – die Amtsinhaberin – gute Chancen, weiterhin Kommissionschefin zu bleiben. Dieser Prozess findet alle 5 Jahre statt.

Die Ergebnisse der letzten whathappened-Umfrage

Für Deutsche ist an der Wahl einiges prozedural ungewohnt. Es gibt etwa keine 5-Prozent-Hürde, womit die Europawahl traditionell ein beliebter Moment für die so oft ignorierten Kleinstparteien darstellt (inmitten der whathappened-Leser hat sich eine regelrechte Bastion der sozialliberalen Kleinpartei Volt gebildet). In Deutschland dürfen, so wie in einer Handvoll weiterer Ländern, erstmals auch 16-Jährige abstimmen. Und anders als Deutsche es von ihren nationalen Wahlen kennen, werden nur Parteien, nicht Einzelpersonen gewählt und es gibt nur eine Stimme, also nur ein einziges Kreuz.

Ein Kreuz kann viel ausmachen, zumindest aggregiert auf die gesamte Wahlbevölkerung der EU. Die Zukunft der Europäischen Union wirkt so formbar, da uneindeutig, wie lange nicht mehr. In einer Reihe wichtiger Politikfelder scheint Bewegung zu herrschen und viele neue Themen, für welche noch kein exakter Kurs existiert, müssen in den nächsten 5 Jahren besetzt werden. Viel los in der EU. Was sind ihre größten Herausforderungen?

Die Russland-Frage und die Sicherheitspolitik_

(4 Minuten Lesezeit)

Kampfgruppe LItauen mit deutschen Soldaten. Quelle:  NARA & DVIDS Public Domain Archive

Das Ende des Friedens

Die größte akute Herausforderung für die Europäische Union ist Russland. Die russische Invasion der Ukraine ist der schwerwiegendste Konflikt auf dem Kontinent seit 1945 und muss, je nach Definition, nur noch den Koreakrieg hinter sich lassen, um das auch global für sich einzunehmen.

Russische Drohungen gegen die EU, mal implizit und mal ausdrücklich, mal seitens Parteifunktionären und mal direkt aus dem Kreml, geschehen alle paar Tage; die whathappened-Redaktion berichtet kaum noch darüber (so viel Aufmerksamkeit verdient der tief gefallene Ex-Präsident Dmitri Medwedew nicht). Unabhängig davon, wie man die Plausibilität eines russischen Angriffs auf das Baltikum, Polen oder Rumänien einschätzt, ist so ein Szenario realistisch genug, um von der EU ernst genommen zu werden. Selbst Beobachter, welche Russland entgegen jeglicher Evidenz der letzten 34 Jahre friedliche Intentionen zuschreiben, müssen das gestiegene Risikoprofil durch einen hochgerüsteten Nachbarn, welchem Nuklearwaffen einen Grad an Unberührbarkeit verpassen, anerkennen.

Aus demselben Grund kann die EU nicht an einem Fall der Ukraine interessiert sein, und zwar ganz abseits ideologischer und moralischer Gesichtspunkte. Der Krieg dort bindet russische Kräfte, eine “zweite Front”, geschweige denn gegen einen NATO-Staat, wäre für Moskau derzeit spektakulär riskant. Sollte Russland in der Ukraine siegen, was auch eine militärisch günstige Waffenruhe umfasst, hätte es sich binnen einiger Jahre mit einem erfahreneren, verbesserten Militär, welches viele Ressourcen der zivilen Wirtschaft aufgesaugt hat, konsolidiert. Die Unterstützung der Ukraine ist damit ein intuitives Eigeninteresse der EU.

Beide Aspekte, der Ukrainekrieg und die breitere militärische Bedrohung durch ein offensiv agierendes Russland, fordern die EU zu einer Reform ihrer Sicherheitspolitik auf. Die deutsche “Zeitenwende” ist ein Aspekt davon: 100 Milliarden USD für die Bundeswehr und ein Umdenken in der deutschen Aversion gegenüber (letaler) militärischer Aktion. Ähnliche Entwicklungen, wenn auch nicht in dieser Größenordnung, geschehen auch im Rest Europas.

Einiges steckt noch in der Welt der Versprechen, Konzepte und Konferenzräume fest. Etwa mehrere paneuropäische Waffenprojekte, der Wunsch zu mehr Vereidigungskooperation (z.B. die geplante “Drohnenwand” einer Reihe östlicher EU-Staaten sowie Norwegens) und die deutsche Zusicherung, der Bundeswehr auch über das Sondervermögen hinaus mehr Mittel zu bieten.

Vieles ist aber bereits konkret. Deutschland hat sich darauf festgelegt, eine Brigade nach Litauen zu entsenden, womit es tiefer in die Verteidigung der besonders exponierten Baltikumstaaten involviert sein wird. Frankreich hat Truppen nach Rumänien entsandt. Eine wachsende Zahl an europäischen Staaten erreicht das 2-Prozent-Ziel der NATO, gibt also mehr für Verteidigung aus; allen voran Polen. Finnland und Schweden sind nach jahrzehntelanger Neutralität der NATO beigetreten und haben damit die Kontrolle des Verteidigungsbündnisses über die Ostsee bedeutend gestärkt. Die europäische Rüstungsindustrie kurbelt ihre Produktion an, da Staaten mehr Aufträge stellen.

Gut zu wissen: Die veränderte Sicherheitslage verbessert auch die Reputation der Rüstungsindustrie, welche gerade in Deutschland damit zu kämpfen hatte, dass viele Fachkräfte keine Lust auf Waffen hatten. So hat etwa Fußballverein Borussia Dortmund Rheinmetall zu einem seiner Sponsoren gemacht – ein Novum im deutschen Profifußball.

Die hybride Kriegsführung

Die Sicherheitsherausforderungen der EU beschränken sich allerdings nicht nur auf das Militärische. Zeitgleich mit dem verschärften Konflikt mit Russland seit 2022 haben mutmaßliche Sabotage- und Spionageakte zugelegt. In einem Briefing vor einigen Tagen bot die whathappened-Redaktion eine kleine Liste an Beispielen: Zerstörte Pipelines, Eisenbahnschienen und Unterwasser-Internetkabel (etwa die Gaspipeline Balticonnector in der Ostsee, sehr wahrscheinlich durch ein russisch-chinesisches Schiff, welches im Anschluss in russische Gewässer floh). Entfernte Grenzbojen, geschändete Denkmäler, verhaftete Spione (einige davon geständig), vereitelte Angriffe auf US-Militärbasen. Eine ungewöhnliche Häufung von Bränden seit März 2024, etwa in einem Warenlager für Ukraine-Hilfen in London, einem Ikea in Vilnius, Litauen, und einer Shoppingmall in Warschau. Und erst vor wenigen Tagen verletzte sich ein russischer Ex-Soldat in Paris: Er hatte in seinem Hotelzimmer nahe dem Flughafen Charles de Gaulle mit selbstgebautem Sprengstoff hantiert. Er wollte Batterien bauen, so seine Erklärung, doch der offenbar verwendete Stoff Triacetontriperoxid (TATP) wird kolloquial auch “Mutter Satans” genannt und ist ein Klassiker bei al-Qaeda und dem Islamischen Staat.

Wie bereits angedeutet, gibt es in sehr vielen – beinahe allen – der Sabotage- und Spionageverdachte Indizien, welche auf Russland hindeuten. Oder Geheim- und Sicherheitsdienste präsentieren Tatverdächtige mit mutmaßlichen Verbindungen nach Russland. Selbstverständlich wird das nicht in allen Fällen zutreffen. In der bis heute ungeklärten Explosion der Nord Stream 2-Pipeline gibt es inzwischen mehr Indizien, welche auf eine Verwicklung der Ukraine oder proukrainischer Gruppen hindeuten, als auf Russland. Doch eine tatsächliche Zunahme der feindseligen Aktionen durch Moskau ist einfach nur intuitiv: Warum sollte das Land nicht versuchen, Zwietracht und Unsicherheit bei den Unterstützern der Ukraine zu säen, kritische Infrastruktur zu beschädigen und Geheimnisse zu entwenden? Insbesondere, wenn es Jahrzehnte an Erfahrung mit offensiven Geheimdienstoperationen sowie die Strukturen dafür besitzt?

Für Europa bedeutet das, dass es seine neue Sicherheitspolitik auch mit Hinblick auf “hybride” Kriegsführung denken muss. Diese bezeichnet feindselige Aktivitäten, welche noch unterhalb der kriegerischen Schwelle bleiben und bei welchen sich eine Beteiligung einfach abstreiten lässt. Kritische Infrastruktur muss geschützt werden, Kollateralschäden durch inkompetente Sabotageakte (wie der Vorfall in Paris nahelegt) verhindert werden. Bessere Geheimdienstkapazitäten, auch was die Zusammenarbeit europäischer und NATO-Behörden betrifft, müssen Spionage und Sabotage erschweren. Desinformation und Polarisierungsversuche müssen bekämpft werden. Zugleich gilt es stets, einen Kompromiss mit den Bürgerrechten zu finden, vom Datenschutz bis hin zur Meinungsfreiheit. Letzteres ist eine zutiefst politische Frage. Über sie werden die EU-Institutionen maßgeblich mitentscheiden.

Europa in einer multipolaren Welt

Russland ist nach Ansicht der whathappened-Redaktion die größte akute Herausforderung für die EU, doch im Kontext der “neuen” Geopolitik dennoch nur ein Puzzlestück. Denn die EU muss sich in einer neuen, “multipolaren” Welt zurecht finden.

Nach dem Ende der Sowjetunion agierten die USA einige Jahre lang als einzige tatsächlich global agierende Macht mit außerordentlicher Wirkungsfähigkeit. Seitdem ist der Einfluss in der Welt zerstreuter: Immer mehr regionale Machtzentren haben sich aufgetan, welche in ihrer Umgebung außenpolitische Ziele, auch offensiver Natur, verfolgen können, ohne eine kritische Intervention von außen befürchten zu müssen. Und mit China gibt es heute einen weiteren Akteur, welcher ebenfalls global und mit viel wirtschaftlicher Schlagkraft agiert und seinen Einfluss aktiv auszubauen versucht.

Die EU kann diesen Dualismus zwischen den USA und China nicht ignorieren, sondern muss ihre Rolle darin finden. Wie sehr kooperiert sie mit den USA, wie sehr mit China? Wie streng möchte sie politische und wirtschaftliche Konflikte mit China austragen, wie sehr bei US-Sanktionen mitgehen?

Der Umgang mit den Populisten_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Meloni, Le Pen. Quelle: flickr

Kein ganz leerer Begriff

Ein wahrscheinlicher Ausgang der Europawahl wird sein, dass rechtspopulistische Parteien kräftig zulegen. Sie sind vereint in der Fraktion Identität und Demokratie (ID), welche trotz des Rauswurfs der AfD vor einer deutlichen Verbesserung ihres Resultats aus 2019 steht.

Populismus ist kein derart leerer Begriff, wie es die teils inflationäre Verwendung in Medien und Öffentlichkeit erscheinen lassen mag. In seinem Zentrum steht meistens eine Unterscheidung zwischen einem integren “Volk” und einer korrupten, privilegierten Elite, welche gegen das Interesse des Volks arbeite. Das Volk ist dabei mit “gesundem Menschenverstand” ausgestattet, wohingegen die Methoden und Entscheidungen der Elite wahlweise inkompetent seien oder eben nicht dem Wohle des Volks, sondern nur der Selbstbereicherung dienten. Alternativ kann anstelle einer Elite eine andere Abgrenzung gewählt werden, etwa zu bestimmten Interessens- oder Minderheitengruppen – wichtig ist nur die Unterscheidung in eine (gute) “ingroup” und eine (schlechte) “outgroup”, also ein “Uns” und ein “die Anderen”. Interessanterweise wird den “Anderen” dabei meist gleichzeitig eine Überlegenheit und eine natürliche Unterlegenheit gegenüber der eigenen Gruppe zugeschrieben: Die Juden waren für die Nazis zugleich hinterlistig-strategische Weltenmanipulierer und “Untermenschen”. Auch jede beliebige 0815-Elite besitzt zwar überlegene Ressourcen und institutionelle Kontrolle, mit welchen sie das integre Volk unterdrückt und belügt, doch lässt es am “gesunden Menschenverstand”, an Integrität und auch an Weitblick für die unvermeidlichen Veränderungen am Horizont vermissen.

Populismus als Kommunikationsform ist verbreitet und findet sich mitunter auch bei zentristischen Parteien. Die whathappened-Redaktion erinnert sich daran, wie der frühere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz meinte, dass ihn nicht “selbsternannte Eliten” interessierten, sondern “hart arbeitende Menschen”. Das war skurril, da Schulz soeben aus der Position des EU-Parlamentschefs in den deutschen Wahlkampf gewechselt war. Auch bei Union, Grünen und Co. finden sich populistisch angehauchte Kommunikationselemente. In ihrer harmlosesten Form sind sie einfach ein klassischer Teil der politischen Kommunikation, welche an Vereinfachung und Emotionalisierung nicht vorbeikommt. Populistische Parteien sind allerdings solche, welche das “Die gegen uns”-Narrativ ins Zentrum ihrer politischen Erzählung rücken und Vereinfachung sowie Emotionalisierung als primäre Methoden einsetzen.

Eine Schwäche für das Land

In diesem Sinne sind Populisten eine riskante Komponente in den allermeisten politischen Systemen, vor allem demokratischen. Wo tatsächliche Gewaltenteilung herrscht, die Korruption nicht endemisch ist und demokratische Institutionen eher recht als schlecht funktionieren, ist es unwahrscheinlich, dass das “Volk gegen Elite”-Narrativ eine gute Erklärung bildet (in autoritären und korrupten Systemen können populistische Fraktionen dagegen richtiger liegen). Mit ihrer scharfen Trennung in “Uns” gegen “die Anderen” und der hohen Emotionalisierung erzwingen Populisten mehr gesellschaftliche Spannung, schließlich ist es schwierig, eine Meinung zu tolerieren, welche feindseligen Volksverrat darstelle. Zugleich bieten Populisten selten robuste Lösungen, da die wichtigste Lösung die Befreiung von den elitären oder anderweitig verorteten Volksverrätern darstelle. Zu konkret zu sein, wäre für Populisten sogar nachteilig: Sich in Policy-Vorschlägen, Daten und Expertenmeinungen zu verlieren, würde vom zentralen Spannungsfeld zwischen Volkswillen und Volksfeinden ablenken.

Nicht jeder Populist ist gleich, denn dafür bleibt der Begriff doch zu unscharf, und nicht jeder Populist bedeutet gleich eine Katastrophe. Italiens Giorgia Meloni wurde und wird durchaus zurecht als Rechtspopulistin bezeichnet, doch ihr Regierungsstil ist bemerkenswert harmlos. Sie kooperiert bestens mit der EU, unterstützt die NATO und die Ukraine, und bleibt wirtschaftlich nah an der Linie der technokratischen Draghi-Vorgängerregierung. Das größte Stück Wirtschaftspopulismus, der “Superbonus“, stammt noch von der Vorvorgängerregierung unter Giuseppe Conte. Melonis ärgster Angriff auf die Bürgerrechte war längste Zeit eine Einschränkung für illegale Raves, welche Kritiker zu breit auslegbar fanden, aber schnell in den Hintergrund rückte; inzwischen kommt ein Streit mit dem Journalismusverband über mutmaßliche Einmischung in die Arbeit der öffentlichen Medien dazu. Dieser ist gewichtiger, doch auch nicht so recht auf orbanschem Niveau. Meloni arbeitet offenkundig daran, ihre Partei aus der Populistenecke herauszuführen. Entsprechend war sie auch nie Teil der europaskeptischen Fraktion ID im Europaparlament, sondern der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR).

Meloni wirkt damit bislang wie ein Beispiel für Fälle, in welchen eine Partei im Wahlkampf zwar zutiefst populistisch agiert, doch sich im Amt deutlich mäßigt. Das geschieht manchmal, doch längst nicht immer. Die Linkspopulisten unter Hugo Chávez in Venezuela führten das Land in eine Jahrhundertkrise. Die USA erlebten nach vier Jahren unter Donald Trump zum ersten Mal seit 1876 einen nur in Teilen friedlichen Machtwechsel. Polens Rechtspopulisten bogen sich jahrelang das Justizsystem zurecht. Tunesiens Präsident Kais Saied, ein gefeierter Kämpfer gegen das Parteienestablishment mit dem Spitznamen “Robocop”, fragte 2021 rhetorisch, warum er mit 67 Jahren noch eine neue Karriere als Diktator anfangen sollte – und tut inzwischen offenkundig genau das. Und Viktor Orbán hat nicht umsonst den Begriff “Orbanisierung” für staatlich vorangetriebenen demokratischen Verfall geprägt.

Der Erzfeind

Die EU hat also reichlich Gründe, mit Sorge auf die Populisten zu blicken. Dazu kommt, dass sie sich für Elitenkritik eignet, wie wenig anderes: Im weit entfernten Brüssel sagen ungewählte Bürokraten in undurchsichtigen Prozessen, wie wir unser Leben zu leben haben, und schlagen sich vermutlich die Taschen voll. Den Rechtspopulisten ist die EU zu grün, zu gesellschaftsprogressiv, zu supranational und zu migrationsfreundlich; den Linkspopulisten zu wirtschaftsfreundlich und NATO-nah. Für “Mischpopulisten” wie die Sozialdemokraten in der Slowakei ist es ein beliebiges Bouquet daraus. Die allermeisten Populisten stören sich an der westlichen Intervention im Ukrainekrieg, welche sie in der Regel als kriegstreiberischen Kniefall vor den USA werten; dass die ominösen Eliten (NATO, Staatschefs, Medien, Zelensky) das nicht zugeben, ist erneuter Beweis für ihre konspirativ-korrupte Natur.

Zugleich erleben Populisten derzeit ein Hoch. Vor allem jene am rechten Rand, welche mit Migration ein zusätzliches prominentes Thema besetzen können, welches Linkspopulisten eher unangenehm ist. Der Rassemblement National (RN) unter Marine Le Pen ist mit einem Umfragewert von 33 Prozent mit Abstand stärkste Kraft in der französischen Europawahl (Macrons LREM folgt mit 15 Prozent); bei den Umfragen für die Präsidentschaftswahl 2027 liegt Le Pen mit bis zu 36 Prozent komfortabel vor dem (ebenfalls EU-skeptischen) Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon mit 16 Prozent. In Spanien hat sich Vox als dritte Kraft hinter Konservativen und Sozialisten etabliert. In Österreich liegt die FPÖ ganz vorne. In den Niederlanden ist die PVV unter Geert Wilders zur größten Partei avanciert, auch wenn sie in der Europawahl offenbar knapp von einem Mitte-Links-Bündnis geschlagen wurde. Die deutsche AfD hat nach Spionage- und Bestechungsskandalen sowie öffentlichen Fauxpas (welche ihr auch den Rauswurf aus der Fraktion ID einbrachten) zwar ihr Umfragehoch eingebüßt, doch bleibt zweit- oder drittstärkste Kraft.

Eine Machtübernahme durch die ID und ihre Rechtspopulisten steht keineswegs bevor, wie unsere Grafik mitsamt Prognose unten zeigt. Doch ihr wachsender Sitzanteil gibt ihnen mehr Einfluss über die Entscheidungen in der EU und wirft für die zentristischen Parteien die Frage auf, wie sie mit den Populisten umgehen wollen. Dabei herrscht reichlich Meinungsverschiedenheit: Die EVP unter Ursula von der Leyen will zwar von der ID nichts wissen, doch ist offen für eine Zusammenarbeit mit der EKR unter Meloni; die Grünen warnen in scharfen Worten und drohen von der Leyen, dass sie damit ihre Unterstützung verspielen würde.

In dieser Grafik haben wir die Abgeordneten der AfD in der ID belassen, da davon auszugehen ist, dass sie
trotz ihres Rauswurfs meistens mit der Fraktion stimmen werden.

Immigration_

(2 Minuten Lesezeit)

So wird es erst einmal bleibenmation ist alles

Die Migration ist für Europa kein Politikfeld unter vielen mehr, sondern ein Megathema. Zum einen, weil kein anderer Ort so viele Asylsuchende empfängt wie Europa. Mit 1,1 Millionen Asylanträgen 2023 lag die EU weit über den USA mit 479.000 Anträgen. Zum anderen, weil viele Europäer überfordert oder unzufrieden auf die gestiegenen Migrationszahlen blicken. In einer Ipsos-Umfrage für Euronews erklären 59 Prozent der Europäer den “Kampf gegen irreguläre Migration” für sehr wichtig, nur 12 Prozent finden ihn nicht wichtig. Das hat längst Auswirkungen auf nationale Umfragewerte und auch Regierungsbildungen.

In den nächsten Jahrzehnten zeichnet sich keine Veränderung ab. Der Nahe Osten, Afrika und Osteuropa sind allesamt direkte “Einzugsgebiete” für Fluchtbewegungen gen Europa und werden mittelfristig autoritärer, konfliktreicher und ärmer als die EU bleiben. Die Effekte des Klimawandels fügen einen weiteren strukturellen “push”-Faktor hinzu. Im Detail wird es immer Aufs und Abs in den Fluchtbewegungen geben, abhängig von der konkreten wirtschaftlichen und politischen Lage zuhause, so wie bereits in der relativ ruhigen Phase 2017–2021. Doch der größere Trend bleibt einer von stetigem irregulärem Migrationsdruck.

Europa muss sich entscheiden, wie es damit umgeht. In Nordafrika, Griechenland und Osteuropa existieren bereits Zäune. Mit der Türkei, Tunesien, Libyen, dem Libanon und einigen weiteren Ländern existieren Abkommen zur Migrationsprävention oder zur vereinfachten Abschiebung. Abschieberegeln werden europaweit verschärft; extraterritoriale Asylzentren in Drittländern wie Albanien (durch Italien) und Ruanda (durch Nicht-EU-Staat Großbritannien) eingerichtet. Die Seenotrettung im Mittelmeer, wo seit 2014 rund 30.000 Migranten ertrunken sind, wird teilweise eingeschränkt. Einige Länder erwägen, Ausländer bei den Sozialausgaben völlig offiziell zu diskriminieren.

Braucht es davon mehr oder weniger?Eine strengere oder liberalere Politik gegenüber Asylsuchenden und solchen, die irregulär in die EU gelangen? Unterstützer besonders rechter und linker Parteien sind jene, welche am unzufriedensten mit der aktuellen Linie der EU sind. Womöglich wird sich an ihr in der nächsten Legislaturperiode einiges ändern. Wenn die vergangenen Monate und die Umfragen zur Europawahl ein Indiz sind, so steht die EU vor einer deutlich strikteren Migrationspolitik.

Die wichtigere Seite

Was in dem Diskurs ein wenig verloren geht, ist die vermutlich wichtigere Seite der Migrationspolitik: nämlich die reguläre, “erwünschte” Migration. Viele Länder Europas erleben einen Arbeitskraftmangel und bei Wachstumsfeldern wie Künstlicher Intelligenz und Pflege ist ein Fachkräftemangel im Grunde einprogrammiert. Europa konkurriert hier mit den USA, Ostasien und anderen wohlhabenden Staaten. Die Fachkräfte-Immigration ist kein Wahlkampfschlager, doch hat einen guten Anspruch darauf, für die Zukunft der EU eine größere Rolle zu spielen als die Eindämmung oder Verwaltung der irregulären Immigration.

Erweiterung und Integration_

(2,5 Minuten Lesezeit)

Kleiner, größer, tiefer, seichter

Wie soll die EU von morgen aussehen? Die Frage geht in zwei Dimensionen: Breite und Tiefe. Zum einen gibt es eine Reihe von Kandidaten, welche für eine größere EU bereitstünden. Bosnien-Herzegowina, Albanien, Montenegro und Nordmazedonien werden von Brüssel sowie EU-Mitgliedsstaaten als ernsthafte Kandidaten gesehen. In einer zweiten Riege sind auch Serbien, Kosovo, Moldau, Georgien und die Ukraine im Gespräch, aber zumindest zeitnah weniger realistisch. Die Türkei ist nur noch nominell im Kandidatenprozess.

Eine Erweiterung der EU bedeutet Vorteile und Nachteile. Der Binnenmarkt wird noch größer, die EU baut ihren Einfluss im Westbalkan bzw. Osteuropa aus und umfasst plötzlich noch mehr Menschen. Zugleich wird die politische und wirtschaftliche Komplexität erhöht: Entscheidungen werden immer schwieriger zu treffen und betreffen ein noch diverseres Assortiment an Ländern, was es schwieriger macht, für alle den halbwegs richtigen Pfad zu treffen (das bekommt vor allem die Europäische Zentralbank zu spüren, welche mit der Eurozone natürlich einen separaten, kleineren Club verwaltet). Viele der neuen Kandidaten sind zudem innenpolitisch volatil (Moldau, Bosnien, Georgien), liegen mit ihren Nachbarn im Streit (Serbien, Kosovo, Nordmazedonien) und sind wirtschaftlich eher schwach, wenn auch mitunter mit positiver Dynamik.

Auf der Seite der “Tiefe” geht es derweil um die EU-Integration. Sie ließe sich entlang unzähliger Felder illustrieren. Ausgewählte Beispiele sind:

  • eine gemeinsame Verteidigungspolitik der EU. Sie verspräche eine effizientere und paneuropäisch abgestimmte Verteidigung, doch zwingt die Staaten, eine besonders heikle nationale Kompetenz teilweise aufzugeben.
  • eine tiefere Finanzmarktintegration. Das würde den europäischen Finanzsektor und Börsenstandort stärken, doch Staaten müssten sich auf eine Risiko- und Lastenteilung verständigen, etwa, da die Einlagensicherung europäisiert würde.
  • gemeinsame Schuldenaufnahme, im Stile des 750 Milliarden EUR schweren Covid-Fonds Next Generation EU. Nimmt die EU als Gesamtes Schulden auf, bedeutet das für viele Länder günstigere Kredite – doch alle Staaten tragen das Ausfallrisiko mit.
  • die Entscheidungsfindung der EU. In vielen Aspekten gilt seit 2014 eine qualifizierte Mehrheit: 55 Prozent der Länder (also mindestens 15), welche mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen, müssen einem Vorschlag zustimmen. In einigen Bereichen, etwa Außen- und Sicherheitspolitik, EU-Finanzen und Bürgerrechten, gilt allerdings das Einstimmigkeitsprinzip. Das hat regelmäßig zu Blockaden geführt, in den letzten zwei Jahren vor allem durch Ungarn beim Thema Ukrainekrieg. Eine Reform hin zu einer qualifizierten Mehrheit würde der EU schnellere Entscheidungen erlauben, doch von Staaten verlangen, noch mehr nationale Souveränität abzugeben.

Die EU wird sich also entscheiden müssen, welche Vision sie von sich selbst hat: Soll sie größer sein, auch wenn das mit Risiken einhergeht? Soll sie noch tiefer und verbundener sein, auch wenn jeder Staat Gefahr läuft, unzufrieden mit der Richtung zu sein, in welche er gezogen wird? Auch vor diesem Hintergrund der Blick auf die Populisten, welche oftmals offen EU-kritisch sind: Je mehr Einfluss sie besitzen, umso weniger sind Erweiterung oder Integration eine Option.

Wettbewerbsfähigkeit und Transformation_

(3 Minuten Lesezeit)

The European Way of Life

Die EU legitimiert sich nicht nur als Garant von Frieden und Rechtsstaatlichkeit sowie durch Völkerverständigung. Sie verspricht ihren Einwohnern auch Wirtschaftskraft. Ihren Binnenmarkt präsentiert die EU stolz als einen ihrer größten Erfolge, ihre Investitionsoffenheit hebt sie als ein zentrales Versprechen nach innen und außen hervor. Derzeit steht auch das Wirtschaftsversprechen der EU allerdings an einem schwierigen Scheidepunkt.

Im Kern steht, dass die EU ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber alten Wettbewerbern wie den USA und Japan sowie neuen Herausforderern wie China und den Golfstaaten behaupten muss. Die Fragezeichen sind im Grunde die Alten: Die EU ist bürokratischer, durchregulierter und abgabenintensiver als die meisten ihrer Mitbewerber. Die Arbeitskosten sind höher, die Energieautonomie oft niedriger. Das ist teilweise gewollt: Die EU akzeptiert etwas weniger Wirtschaftsdynamik für mehr Arbeiterschutz, stärkere soziale Sicherungssysteme und mehr Freizeit. Und Fracking oder Atomkraft werden in vielen europäischen Ländern von den Bevölkerungen abgelehnt. Allerdings war der Kontrast zu den Mitbewerbern selten so stark. Das höhere BIP in den USA lässt sich inzwischen nicht mehr nur durch höhere Arbeitszeiten erklären, auch in der Produktivität scheint Europa hinterherzuhängen. Der Kontinent muss sich entscheiden, ob er bereit ist, im globalen BIP-Anteil weiter zurückzufallen und langfristig Wohlstand(szuwachs) aufzugeben, um seinen nichtmonetären Lebensstandard zu verteidigen.

Digitalisierung und Klimawende

Verkompliziert wird das durch mehrere Transformationsprozesse, welche gleichzeitig stattfinden. Da wäre die Digitalisierung. Sie erfordert neue Infrastruktur, zum Beispiel Glasfaserkabel und 5G-Kits. Sie zieht auch organisationelle Umstürze mit sich, etwa, wenn ganze Bürokratien oder Branchen plötzlich ins Digitale gezerrt werden. Und sie verändert, welche Wertschöpfungsketten wie wichtig sind: Nicht umsonst wirft die EU Milliarden an Euro auf die Chipindustrie, um heimische Kapazitäten hochzuziehen. Das knüpft übrigens schnell an Herausforderungen wie “hybride Kriegsführung” und “multipolare Welt” an: Kann China 5G-Kits von Huawei für Spionage nutzen? Und wie damit umgehen, wenn die USA verlangen, Exporte von Chipkomponenten an Peking zu verbieten?

Die Klimawende ist eine weitere große Transformation. Kein Block hat sich ihr so sehr verschrieben wie die EU. Erneuerbare Energien wachsen rasant an (wenn auch in China schneller), die Kohle verschwindet. Ein CO₂-Preis belohnt Emissionseffizienz. Völlig neue Wertschöpfungsketten rund um Wasserstoff sollen die Industrie grüner machen. Europa dürfte bald die globale Batterieproduktion anführen. Der “Green New Deal” mobilisiert Milliarden für grüne Investitionen und Reformprojekte. Ein Grenzzoll namens CBAM bestraft ausländische Importeure, wenn sie emissionsintensiv produzieren – was heimischen Herstellern unter die Arme greifen soll, da sie aufgrund der Klimaregulation erst einmal einen Wettbewerbsnachteil erfahren.

Derweil zeigt die Künstliche Intelligenz, dass weitere große Veränderungen um die Ecke warten könnten. Binnen weniger Monate ist eine völlig neue Industrie rund um Generative AI entstanden, deren Effekte noch nicht so recht absehbar sind. Europa mischt mit einigen Namen in dem Feld mit, vor allem den Startups Mistral AI und Aleph Alpha.

Industriepolitik oder Marktoffenheit?

Vor lauter transformativer Prozesse ist eine alte Frage wieder hochaktuell: der richtige Grad an Dirigismus. Die EU muss sich entscheiden, inwieweit sie aktive Industriepolitik betreiben will, also den Markt in bestimmte Richtungen lenkt. Unterstützer möchten damit genannte Transformationen beschleunigen; Kritiker wittern Fehlentscheidungen oder politisch motiviertes Handeln. Beispiel Energiepolitik: Sollte die EU Investitionen eher zu erneuerbaren Energien oder in die Atomenergie lenken? Unterschiedliche Staaten gelangen zu sehr unterschiedlichen Resultaten; am Ende wählte Brüssel beides (und verärgerte die Bundesregierung, welche Atomenergie für einen großen Fehler hält).

Parallel zur Frage nach dem richtigen Grad an Industriepolitik kommt auch jene nach Autonomie versus Offenheit. Muss ausgerechnet die EU, welche sich stets als Bastion des liberalen Handels gesehen hat, vielleicht doch mehr Eigenständigkeit bei Energie, Halbleitern oder Batterie-Rohstoffen aufbauen? Und damit wären wir wieder sehr schnell bei der Sicherheit und der “multipolaren Welt”.

Es wird nicht überraschen, dass die Herausforderungen der EU alle irgendwie miteinander zusammenhängen. Das ist passend, denn die Europäische Union ist ein Schicksalsbund, in welchem alle Teilnehmer miteinander drinhängen. Die Europawahl 2024 wird uns verraten, in welche Richtung sich dieses historisch einzigartige Projekt bewegt. Erst kurz vor dem nächsten Jahrzehnt wird es die Gelegenheit erhalten, noch einmal zu justieren.

Weiterlesen:

Zu Europa
Covid-Fonds der EU: In der Krise geschmiedet (2020)
Italien: Whatever it takes, Vol. 2 (2021)
Das Vereinigte Königreich strebt auseinander (2021)
Schweden und die Handgranaten (2021)
Das Königreich Draghistan (2021)
Jupiters Frankreich (2022)
Griechenland und die Türkei (2022)
Die Lage mit LNG in Deutschland und Europa (2022)
Frankreich: Mehr als Faulheit (2023)
Die kritische Infrastruktur in Deutschland und Europa (2022)
Wo steht Italien unter Meloni? (2023)

Zu Deutschland
Deutschland wagt die Wärmewende (2023)
Deutschlands Strukturkrise: Die Strom-Frage (2023)
Deutschlands Strukturkrise: Kein Entkommen vor der Bürokratie (2023)
Deutschlands Strukturkrise: Wo sind die Arbeiter? (2023)
Rentenpaket II: Die Ampel wagt die Umverteilung (2024)

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NATO: Vom Gehirntod zur Wiedergeburt (2022)
Venezuelas Fiasko (und das kleine Comeback (2022)
Das Ende der Atomenergie (2023)
Die Zukunft der Atomenergie: Die Endlagerung (2023)
Tunesien sucht die Vergangenheit (2023)