December 17, 2023
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13 Minuten Lesezeit

Die Optionen für Frieden in Nahost

Einen klaren Weg zum Frieden vermögen wir nicht aufzuzeigen, doch wir können die Optionen diskutieren. (Dezember 2023)
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Einen klaren Weg zum Frieden vermögen wir nicht aufzuzeigen, doch wir können die Optionen diskutieren.

Überblick | Ein-Staat-Lösung | Zwei-Staaten-Lösung | Alternativen | Der Weg voraus

(18 Minuten Lesezeit)

17.12.2023

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Es gibt eine Reihe von Lösungsansätzen für den Nahostkonflikt. Eine Ein-Staat-Lösung mag charmant wirken, doch ist in allen Spielarten fast absurd unrealistisch.
  • Ausgerechnet die abgedroschene Zwei-Staaten-Lösung wirkt wie der robusteste Vorschlag, insofern ein verwalteter Status Quo als nicht gangbar angenommen wird.
  • Die Hürden sind enorm: Es gilt, vier große Fragen auszuhandeln - und dann wäre da auch noch, dass weder Israelis noch Palästinenser interessiert sind.
  • Gerade auf Seiten der Palästinenser lassen Umfragen äußerst maximalistische Positionen erkennen.
  • Dennoch gibt es eine Aussicht auf Frieden, denn die Meinungen haben Formbarkeit bewiesen und der jüngste Israel-Hamas-Krieg könnte einen Schub für neue Anläufe bieten.
  • Eine Minimalbedingung dürfte jedoch sein, dass auf beiden Seiten die Regierungen wechseln. Weder mit Netanjahu noch mit der PA und Hamas ist ein Frieden aussichtsreich.

Die Optionen des Friedens_

(3,5 Minuten Lesezeit)

Die Zwei-Staaten-Lösung ist tot, lang lebe die Zwei-Staaten-Lösung. Medien, Analysten, Aktivisten und Staatschefs sprechen dieser Tage in Paradoxen, wenn es um den Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern geht. Zugleich wird von der Chance auf oder gar Notwendigkeit von einer Zwei-Staaten-Lösung gesprochen und von ihrer Unmöglichkeit. Was hat es damit auf sich?

In gewisser Hinsicht sind die Möglichkeiten im Nahen Osten relativ eindeutiginsofern es der whathappened-Redaktion nicht an Kreativität mangelt. Sie wären folgende:

  • Eine Ein-Staaten-Lösung,in welcher eine Seite die andere offen kontrolliert oder vertreibt.
  • Eine Ein-Staaten-Lösung, in welcher Juden und Araber mit nominell gleichen Rechten miteinander leben.
  • Eine Zwei-Staaten-Lösung mit Israel und einem palästinensischen Staat.
  • Eine Drei-Staaten-Lösung, in welcher Gaza und das Westjordanland zusätzlich getrennt werden.
  • Eine Konföderation, welche je nach Ausgestaltung letztlich eine Spielart einer Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung wäre.
  • Eine internationalisierte Lösung, etwa indem das gesamte Palästinensergebiet oder Teile davon (Gaza, Ostjerusalem) unter Verwaltung der UN oder eines Staatenverbundes gestellt werden.
  • Der Status Quo: Eine Teilbesatzung des Westjordanlands mitsamt bedingt-autonomer Palästinensischer Autonomiebehörde (PA) sowie autonomem Gazastreifen, über dessen Versorgung und Grenzen Israel viel Einfluss behält.

Die Zwei-Staaten-Lösung ist insbesondere im Westen die präferierte Option. Sie scheint die zentralen Bedürfnisse beider Seiten zu erfüllen, fühlt sich fair an und war immerhin seit 30, gewissermaßen aber 75 Jahren das angestrebte Verhandlungsergebnis. Auch weite Teile der übrigen Staatengemeinschaft und in diesem Sinne die UN haben sich die Zwei-Staaten-Lösung zum Ziel gemacht.

In Israel und unter den Palästinensern ist sie dagegen unbeliebt, und das ist wichtig zu verstehen. In einer großen Umfrage des renommierten Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR) aus Dezember 2022 zeigte sich das deutlich: Nur 33 Prozent der Palästinenser befürworten eine Zwei-Staaten-Lösung; bei den Israelis sind es 34 Prozent. Bei beiden lag die Zustimmung noch 2016/17 bei rund 50 Prozent und 1995, inmitten des Oslo-Friedensprozesses, bei über 70 Prozent.

Kein Vertrauen mehr

Heute fehlt es beiden Seiten im Kern an Vertrauen in das Gegenüber. Die Palästinenser sind nach dem Scheitern des Friedensprozesses, welcher 1993 begonnen und 2001 geendet hatte, desillusioniert (danach gab es noch effektlose Gesprächsrunden bis 2014). Zusammenstöße im Westjordanland mit jüdischen Siedlern und Repressionen durch die israelische Armee verfinstern die Stimmung; das lässt sich insbesondere seit 2019 in den Umfragen erkennen. Das rasche Wachstum der Siedlungen im Westjordanland lässt eine Zwei-Staaten-Lösung für viele wie eine Farce erscheinen. Wenn Israelis über einen Friedensprozess reden, klingt das für Palästinenser wie ein leeres Lippenbekenntnis zur Beschwichtigung.

Auf israelischer Seite spielt es wohl weniger eine Rolle, dass das Land aus einer Position der Stärke agiert, als dass ebenfalls kein ehrlicher Verhandlungswille der Palästinenser erkannt wird. Seit langem ist der Eindruck im Land, dass die Palästinenser Verhandlungen stets entweder ablehnten, gezielt torpedierten oder als Sprungbrett für Gewalt nutzen. Vor allem die zweite Intifada dürfte eine ganze Generation an Israelis "verbrannt" haben. Kurz etwas Kontext: Nach der ersten Intifada 1987-93, also einem großen Aufstand der Palästinenser, wurde der Friedensprozess begonnen, durchaus mit Ernsthaftigkeit. Es folgten die Oslo-Abkommen 1993/95, welche die Autonomiebehörde (PA) schufen und Teile des Westjordanlands sowie ganz Gaza an die PA übergaben - doch der Terrorismus ließ nicht ab.

Als in den Jahren 2000 und 2001 in Camp David sowie Taba verhandelt wurde und die Israelis nach eigenem Empfinden einen weitreichenden Deal anboten - ein Bestandteil waren nahezu 1:1-Gebietstausche - quittierten die Palästinenser das mit der zweiten Intifada, dem bis vor Kurzem schwersten Gewaltausbruch seit 1947 in der Region. Vonseiten der palästinensischen Führung heißt es, dass sie ein organisches Ergebnis des heiklen Besuchs von Israels Rechtspolitiker (und späterem Premier) Ariel Sharon auf dem heiligen Tempelberg war. Doch es gibt durchaus begründete Spekulationen, dass die PA unter Yasser Arafat den Gewaltausbruch geplant haben könnte. Das erklärten etwa Arafats Witwe und die Hamas-Führung, doch auch Ex-PA-Minister Faisal Husseini deutete es an, als er die Oslo-Abkommen als "Palästinensisches Trojanisches Pferd" bezeichnete. Bei vielen Israelis herrscht der Eindruck, dass die Palästinenser jegliche Friedensbemühungen nur dafür nutzen, aus einer verbesserten Ausgangslage an der maximalistischen Vision eines Palästinas "from the river to the sea" zu arbeiten, also vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer, der gesamten historischen Region Palästina.

Beliebter auf beiden Seiten ist eine Ein-Staaten-Lösung. Zumindest eine bestimmte Form davon.

Gut zu wissen: Das mangelnde Vertrauen lässt sich quantifizieren. 86 Prozent der Palästinenser erklärten in der PSR-Studie 2022, dass es unmöglich sei, israelischen Juden zu vertrauen; 88 Prozent der Israelis fühlen genauso über Palästinenser.

Ein-Staat-Lösung_

(5 Minuten Lesezeit)

This Land is Ours

Fragt man Israelis und Palästinenser, so präferieren sie einen einzigen Staat - und zwar idealerweise einen, in welchem sie herrschen. In der PCPSR-Studie aus Dezember 2022 wünschten sich 30 Prozent der Palästinenser einen ungleichen Staat, weitere 23 Prozent einen demokratischen Staat mit gleichen Rechten für beide Seiten. Auf israelischer Seite sprachen sich 37 Prozent für Ungleichheit aus, 20 Prozent für Gleichheit.

Der Anreiz für einen ungleichen Staat ist intuitiv, gerade für die Palästinenser. Für sie wäre es eine Umkehr des Status Quo, womöglich in extremerer Form: Sie wären in Kontrolle; die Juden würden wahlweise als entmündigte Minderheit existieren oder ethnisch gesäubert werden. Es wäre "from the river to the sea" in seiner Reinform. Praktikabel ist dieser Ausgang nicht, denn ein Zerfall Israels steht nicht bevor.

Für Israel ist das Szenario erreichbarer, aber auch komplizierter. Es wäre es gewissermaßen eine Formalisierung des Status Quo. Die Palästinenser würden als entmündigte Minderheit nicht mehr im teilbesetzten, sondern im annektierten Westjordanland leben, als Israelis zweiter Klasse (alternativ würden sie vertrieben, doch das wirkt unwahrscheinlich, denn Israel nahm die Gelegenheit die letzten 56 Jahre nicht wahr). Ausgenommen wären jene arabisch-muslimischen Israelis, welche bereits seit Jahrzehnten volle Rechte genießen und diese sicherlich auch behalten würden. Doch um diese Trennung verstetigen zu können, müssten "neue" palästinensische Israelis ihren unterdrückten Status vererben. Es wäre im wahrsten Sinne des Wortes ein Apartheidssystem. Israel würde nicht mehr als demokratischer Staat existieren. Jenseits des Schocks für das Selbstverständnis und die Reputation des Landes wären auch die praktischen Kosten immens. Rund 5,5 Millionen Palästinenser würden vollständig in die Verantwortung Israels wandern, eine PA würde in diesem Szenario wohl nicht mehr existieren. Es gibt einen Grund, warum sich in Israel selbst für eine Teilannexion des Westjordanlands seit jeher keine Mehrheiten finden, religiöser Anspruch als "Judäa und Samaria" hin oder her.

Gut zu wissen: Der umstrittene Vorwurf, dass Israel ein "Apartheitsstaat" sei, basiert auf der Annahme, dass es für die Palästinenser im Westjordanland und eventuell im Gazastreifen als Staat verantwortlich sei und sie mit äquivalenten Bürgerrechten ausstatten müsse. Das ist angreifbar, denn ob Israel als Besatzungsmacht dieselben Rechte wie seinen Staatsbürgern einräumen muss, ist diskutabel; auch die Konstellation mit der PA, welche die bevölkerungsreichsten Teile des Westjordanlands kontrolliert, verkompliziert die These. In einem undemokratischen "Großisrael" wäre diese Ambivalenz jedoch nicht mehr gegeben.

Die Fantasie des demokratischen Einheitsstaats

Die "feindselige" Ein-Staat-Lösung ist wahlweise unrealistisch oder unbeliebt, doch eine demokratische Ein-Staat-Lösung schafft es irgendwie, noch unwahrscheinlicher zu sein. Ein Grund ist, dass die demografische Dynamik dieses Szenario für Israel nicht gangbar macht: 7 Millionen Juden stünden 2 Millionen (israelischen) Arabern und 5,5 Millionen Palästinensern mit wenig demokratischer Erfahrung gegenüber. Dazu hätte ein solcher Staat vermutlich ein Rückkehrrecht für Palästinenser, was bis zu 7 Millionen weitere Menschen weltweit betreffen würde. Gepaart mit einer 1,2-mal so hohen Geburtenrate, würde die arabische Bevölkerung im neuen "Israel-Palästina" schnell die jüdische übertreffen.

Inwiefern die Juden dann den Arabern legislativ unterworfen wären, würde von der institutionellen Ausgestaltung des gemeinsamen Landes abhängen. Vor allem, wie stark der Minderheitenschutz ist und ob es ein Proporzsystem gibt, in welchem bestimmte Positionen immer arabisch, andere jüdisch besetzt sein müssen - sowie davon, ob Araber einen kohärenten Parteienblock bilden würden. Doch in jedem Fall gäbe es den einzigen jüdischen Staat der Welt nicht mehr. Die Juden wären wieder in der Minderheit. Entsprechend wirkt eine demokratische Ein-Staat-Lösung für viele Israelis lediglich wie Unterjochung durch die hübschere Hintertür und ist völlig unverhandelbar.

Aufseiten der Palästinenser mag ein demokratischer Staat wie eine strikte Verbesserung der Situation wirken, doch das bedeutet nicht, dass er populär ist. Die Wut über die Niederlage im Bürgerkrieg und Krieg ab 1947 sowie die Repressionen der folgenden Jahrzehnte sitzt tief; viele Palästinenser haben maximalistische Forderungen. Ein demokratischer Staat würde implizieren, das Land mit den Juden zu teilen. Das ist selbst im Hypothetischen, also in Umfragen, für knapp ein Drittel der Palästinenser inakzeptabel. Dazu mischt sich, wie immer, Misstrauen: Wie ließe sich garantieren, dass sich die Juden in einem gemeinsamen Staat nicht doch eine vorteilhafte Ausgangslage sicherten? Welche Sicherheiten hätten die Palästinenser, die ein konventionelles Militär schließlich erst aufbauen müssten? Wie würden sich die scharfen Trennlinien in Religions- und Gesellschaftspolitik überbrücken lassen, welche für Palästinenser in vielen Umfragen wichtiger sind als eine Demokratie?

Tatsächlich lädt das Szenario wohl nur Chaos ein: Da kaum denkbar wäre, dass die Juden ihre Sicherheit völlig in die Hand einer palästinensischen Mehrheit legen würden (oder andersherum), dürften militärische Parallelstrukturen existieren, nicht unähnlich zum benachbarten Libanon. Ein Bürgerkrieg wäre stets eine Gefahr.

Gut zu wissen: Auch wenn wir es uns hier ein kleines bisschen erlaubt haben, sind Diskussionen einer demokratischen Ein-Staat-Lösung recht witzlos, denn es gibt sehr wenige - der whathappened-Redaktion wäre kein einziger bekannt - konkrete Entwürfe dafür, wie so ein Staat entstehen oder wie er aussehen sollte. Es dürfte keiner Erklärung bedürfen, dass das Konzept einer Ein-Staat-Lösung ohne eine Antwort auf diese Fragen utopisch und nutzlos bleibt, mehr noch als die Zwei-Staaten-Lösung, welche wir gleich ergründen.

Es ist wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass weder Israelis noch Palästinenser einen gemeinsamen demokratischen Staat möchten. Eine sehr ausführliche, hochqualitiative Studie des Washington Instituts (TWI) und des Palestine Center for Public Opinion (PCPO) beleuchtete 2020 das Bild unter den Palästinensern: Nur 11 Prozent der Palästinenser im Westjordanland sprachen sich 2020 für einen gemeinsamen demokratischen Staat aus; in Gaza waren es 9 Prozent. Dagegen möchten 66 Prozent im Westjordanland "das gesamte historische Palästina zurückerlangen, from the river to the sea"; in Gaza 56 Prozent.

Während es für eine Mehrheit der Palästinenser also um Dominanz zu gehen scheint, ist in Israel Trennung das Schlüsselwort. Die derzeit beliebteste Partei, die oppositionelle Blau-Weiß unter Benny Gantz, hat im Parteiprogramm einfach nur "Trennung von den Palästinensern" stehen. Was das genau bedeutet, wollen Gantz und Partei nicht weiter erläutern, denn das würde "Netanjahu in die Hände spielen". Eine Ein-Staat-Lösung, das untrennendste erdenkliche Szenario, ist dementsprechend absurd. Immerhin darin sind sich Israelis und Palästinenser einig.

Zwei-Staaten-Lösung_

(5 Minuten Lesezeit)

Ein Vorschlag für eine Zwei-Staaten-Lösung. Dunkelgrün: Von Palästina annektiert. Braun: Von Israel annektiert. Rote Linie: Verbindungskorridor zwischen Gaza und Westjordanland. Quelle: Israel Policy Forum

Das Territorium

Eine Zwei-Staaten-Lösung wirkt auf den ersten Blick wie eine gute Lösung. Die Palästinenser erhalten einen Staat, wenn auch nicht die Maximalversion, und die Israelis bekommen die gewünschte Trennung. Die Schwächen werden allerdings schnell ersichtlich. Viele Palästinenser wollen nicht einfach irgendeinen Staat, sondern eben besagte Maximalforderung from the river to the sea. Und viele Israelis sehen nicht mehr ein, de-facto kontrolliertes Gebiet aufzugeben - und die Trennung durch neue Sicherheitsrisiken zu erkaufen.

Im Detail muss jede Zwei-Staaten-Lösung mehrere Streitpunkte lösen:

  • Den Umgang mit israelischen Siedlungen im Westjordanland und Gebietstausche
  • Den Status von Ostjerusalem
  • Die Frage nach dem Rückkehrrecht für Palästinenser
  • Sicherheitsgarantien für Israel und damit zusammenhängend die territoriale und politische Souveränität des palästinensischen Staates

Der erste Punkt wird in vielen Diskursen als der schwierigste bezeichnet, gar als Todesstoß für die Zwei-Staaten-Lösung, schließlich leben über 460.000 Juden inzwischen im Westjordanland und weitere 220.000 in Ostjerusalem. Ironischerweise könnte er der einfachste sein, denn die Verhandlungsmasse ist eindeutig und relativ gut teilbar: Man tauscht einfach Gebiet. Bereits bei den Camp-David-Verhandlungen 2000 und den Taba-Verhandlungen 2001 besprachen Israelis und Palästinenser, dass Israel bestimmte Siedlungen annektieren und andere räumen würde und Palästina im Gegenzug israelisches Gebiet erhält. In Taba, wo eine Einigung wohl nur Wochen entfernt war, hätten die Palästinenser wohl nur bis zu 3 Prozent der aktuellen Gebiete eingebüßt. Gaza ist übrigens simpel: Schon vor 20 Jahren war Israel zur vollständigen Aufgabe bereit und seit 2005 gibt es dort nicht einmal mehr Siedlungen.

Gut zu wissen: Die Camp David- und Taba-Verhandlungen waren der bislang realistischste Anlauf auf einen Friedensvertrag. In Taba war eine Einigung laut Verhandlern beider Seiten nur Wochen entfernt, doch der Ausbruch der zweiten Intifada und die folgenden Wahlerfolge der Rechten in Israel kippten den Prozess. Unser großer Explainer "Israel und Palästina" (über eine Stunde Lesezeit!) beleuchtet den Friedensprozess im Detail. Scroll dafür zum ersten Kapitel von Teil 3.

Jerusalem

Jerusalem besteht zwar aus West und Ost, doch ist schwieriger teilbar. Die Palästinenser beanspruchen Ostjerusalem als Hauptstadt, doch Israel hält am Osten der Stadt mit seinen wichtigen religiösen Stätten fest. Ein wildes Gefüge aus arabischen Nachbarschaften und jüdischen Siedlungen im Umland der Altstadt (welche Israel nicht als Siedlungen versteht, da es Ostjerusalem nicht zum Westjordanland zählt) verkomplizieren die Lage. Selbst hier gab es einst vielversprechende Ansätze, auch wenn sie nie zu Ende verhandelt wurden: Jerusalem könnte eine offene Stadt bilden, zu welchen beide Nationen Zugang hätten und welche für beide als Hauptstadt fungieren würde (der arabische Name lautet al-Quds). Nachbarschaften bzw. Siedlungen müssten im Stile des Westjordanlands aufgeteilt werden, was in Taba nicht vollends, doch in hohem Maße gelang. Die Klagemauer müsste unter jüdische Obhut gehen, der Tempelberg unter arabische. Darauf gab es vor 20 Jahren immerhin grundlegende Einigungen.

Recht auf Rückkehr

Das Rückkehrrecht ist für Israel äußerst schwierig, denn es möchte aus besagten demografischen Gründen nicht 13 Millionen Palästinensern eine Aufenthaltsberechtigung bieten (weitere 2 Millionen leben bereits als Israelis). Geschweige denn die Möglichkeit, das Eigentum der Großelterngeneration wieder in Besitz zu nehmen. Für die Palästinenser ist es jedoch eine zentrale Forderung zur Richtigstellung der "Nakba", also der Vertreibung und Flucht von über 700.000 Palästinensern in den Jahren 1947-49. In Camp David und Nakba ließen sich Kompromissformeln finden: Israel würde bestimmten Kontingenten von Palästinensern die Niederlassung gestatten (die Rede war von 100.000) und in einen Fonds einzahlen. Das schien den Verhandlern damals grundsätzlich zu passen, doch es gibt Indizien, dass es Palästinenserchef Arafat und der Bevölkerung nicht weit genug ging. Das Recht auf Rückkehr wäre ein heißer Kandidat dafür, einen möglichen Friedensprozess zum Scheitern zu bringen.

Gut zu wissen: Befragt danach, ob sie bereit wären, das Rückkehrrecht aufzugeben, wenn das die letzte Hürde vor der Staatsgründung wäre, äußerten sich im Jahr 2020 94 Prozent der Westjordanland-Palästinenser ablehnend sowie 45 Prozent der Gaza-Palästinenser. Noch ein Jahr zuvor war die Ablehnung mit jeweils 53 und 28 Prozent deutlich moderater. (TWI/PCPO, S. 7).

Die Sicherheit

Zu guter Letzt der Konflikt zwischen palästinensischer Souveränität und israelischem Sicherheitsbedürfnis. Mit einem unabhängigen Palästina würde Israel weitreichende Zugriffsmöglichkeiten verlieren, wenn aus dem Westjordanland heraus Terrorattacken geplant oder durchgeführt werden. Bereits der PA unterstellen viele Israelis eine "Drehtürpolitik", in welcher sie Terrorangriffe mal verurteilt, dann aber gutzuheißen scheint und die Täter sowie Familien von "Märtyrern" finanziell unterstützt. Noch signifikanter wäre, dass feindselige Akteure wie Iran, die Hisbollah oder Hamas das Westjordanland als Basis nutzen könnten (die Hamas ist aktuell die beliebteste Fraktion unter den Palästinensern, hätte also gute Chancen, die Macht in einem unabhängigen Palästina zu übernehmen). In Camp David und Taba forderte Israel "Warnstationen" und die Erlaubnis, in "Notfällen" das Territorium Palästinas mit Truppen betreten und den Luftraum nutzen zu dürfen. Zudem solle Palästina kein oder nur ein limitiertes Heer besitzen. Das würde eine unvollständige Souveränität für den neuen Staat bedeuten, doch war für die Verhandler damals durchaus diskutierbar. Heute könnte Israel in Anbetracht der Erfahrung mit der Hamas noch mehr Konzessionen verlangen.

Ein gesonderter Aspekt ist die territoriale Kohärenz eines Palästinas. Der Gazastreifen wäre zwingend vom Westjordanland getrennt, auch wenn es eine Art neutrale Straße geben dürte, welche Palästinenser nutzen können. Andersherum verlangte Israel für seine Sicherheitsbedürfnisse in der Vergangenheit Verbindungswege durch das Westjordanland, womit dieses in mehrere Teile geteilt würde.

Viele, viele Hürden

Unsere kurze Diskussion zeigt die Herausforderungen und Möglichkeiten rund um eine Zwei-Staaten-Lösung. Eine der größten Herausforderungen hatten wir aber bereits vorher beschrieben, nämlich, dass die meisten Israelis und Palästinenser kein Interesse an der Lösung haben. In der PCPSR-Umfrage aus Dezember 2022 unterstützte sie nur ein Drittel beider Völker. In einer PSR-Umfrage aus Dezember 2023, also inmitten des Gazakriegs, war dieser Wert für die Palästinenser stabil (Israelis wurden nicht abgefragt). In der TWI/PCPO-Umfrage 2020 waren 31 Prozent der Gaza-Palästinenser dafür (68 Prozent dagegen) und 9 Prozent der Westjordanland-Palästinenser (84 Prozent dagegen). Bietet man eine Reihe an möglichen Szenarien zur Auswahl, schlägt "from the river to the sea" die Zwei-Staaten-Lösung im Westjordanland mit 66 zu 14 Prozent, in Gaza mit 56 zu 31 Prozent. Das negiert übrigens auch, dass die Ablehnung der Palästinenser mit der Unglaubwürdigkeit der Zwei-Staaten-Lösung zusammenhänge und nicht etwa mit Maximalismus: "from the river to the sea" ist mindestens genauso unrealistisch, doch findet weitaus mehr Unterstützung.

Andere Lösungen_

(2 Minuten Lesezeit)

Konföderation

Eine Konföderation bedeutet in der Regel, dass Israelis und Palästinenser in einem Staatengerüst zusammenleben, welches allerdings von bestimmten Trennungen durchzogen ist. So hätten beide Völker zum Beispiel Bewegungsfreiheit im gesamten Staatsgebiet, doch an Wahlen dürften sie nur in ihrem jeweiligen Landesteil teilnehmen. Je nachdem, wie sie genau aufgebaut ist, wäre sie "Ein-Staaten-Lösung Plus" oder "Zwei-Staaten-Lösung mit Einschränkungen". In diesem Sinne treffen die Hürden der beiden anderen Szenarien auch bei einer Konföderation zu.

Drei-Staaten-Lösung

Eine Drei-Staaten-Lösung wäre einfach eine Zwei-Staaten-Lösung, in welcher der Gazastreifen und das Westjordanland zwei separate palästinensische Staaten bilden. Der Vorteil ist, dass die Frage der territorialen Kohärenz einfacher zu lösen ist. Zudem sind geteilte Staaten selten stabil, wie beispielsweise Pakistan und Ostpakistan (heute Bangladesch) bewiesen haben. Auch ließe sich so das Problem, dass im Gazastreifen eine feindselige Terrormiliz herrscht, dadurch kompartmentalisieren, dass eben einfach nur das Westjordanland unabhängig würde. Für die Palästinenser ist eine Teilung von Westjordanland und Gaza - beide Bestandteil der empfundenen historischen Heimstätte - allerdings unverhandelbar. Eine Drei-Staaten-Lösung ließe sich den Palästinensern wohl noch schwieriger als eine Zwei-Staaten-Lösung vermitteln. Darüber hinaus bleiben dieselben Probleme der Zwei-Staaten-Lösung bestehen.

Das Ausland involvieren

Internationalisierte Lösungen bezeichnen die Beteiligung ausländischer Staaten. In einer durchaus vorstellbaren "schwachen" Variante wäre das eine Internationalisierung (Ost-)Jerusalems, welches etwa unter UN-Verwaltung ginge, was seitens Israel eine große Konzession darstellen würde. Eine "starke" Variante wäre, dass die Palästinenser in Nachbarstaaten wie Ägypten oder Jordanien aufgehen, womöglich mit autonomen Status (das wird manchmal mit "Konföderation" gemeint). Ein Interesse daran gibt es allerdings auf keiner Seite, womit diese Option Stand heute unrealistisch ist: Weniger als ein Zehntel der Palästinenser ist interessiert (TWI/PCPO, S. 36) und in Jordanien ist die Erinnerung an den "Schwarzen September", als militante Palästinenser zehn Monate lang aus dem Land gekämpft werden mussten, durchaus noch präsent.

Denkbarer ist eine temporäre und teilweise Internationalisierung: Sollte die Hamas aus Gaza beseitigt werden, könnte ein Staatenbündnis - zum Beispiel einige arabische Staaten - vorübergehend die Kontrolle übernehmen. Die Umsetzbarkeit davon ist heute nicht einzuschätzen, denn in Kairo, Riad oder Amman scheint keine Begeisterung zu herrschen, doch für die Frage nach Frieden in Nahost ist es ohnehin trivial, denn die Staatlichkeit der Palästinenser bliebe ja unbeantwortet.

Einen Weg gibt es, nur keinen sonderlich breiten_

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Der Felsendom auf dem Tempelberg in Ostjerusalem. Quelle: rawpixel.com

Ein Fazit

Fassen wir zusammen. Eine internationalisierte Lösung, eine Konföderation oder eine Drei-Staaten-Lösung sind unrealistisch oder letztlich nur Spielarten von Ein- oder Zwei-Staaten-Lösungen. Die gewaltsame Ein-Staaten-Lösung wird von den Palästinensern präferiert, doch ist unrealistisch. Einen gemeinsamen demokratischen Staat möchte niemand, gerade für Israel ist er inakzeptabel und er wäre fundamental instabil. Neben einer Verwaltung des Status Quo bleibt... die totgesagte Zwei-Staaten-Lösung.

Ihre Probleme sind zahlreich und beachtlich. Wir haben aufgezeigt, wie viel es zu verhandeln gäbe, und, dass keine von beiden Seiten derzeit überhaupt ein Interesse an der Zwei-Staaten-Lösung hat. Bei allen Statistiken, welche wir in diesem Explainer geliefert haben, könnte eine aus der TWI/PCPO-Umfrage den palästinensischen Maximalismus und die israelischen Sicherheitsbedenken besonders gut darlegen: 60 Prozent der Palästinenser stimmten 2020 zu, dass auch nach einer irgendwie erhandelten Zwei-Staaten-Lösung der Kampf zur "Befreiung" Gesamtpalästinas fortlaufen sollte (S. 9). Auf dieser Basis können sich die Friedensverhandlungen tatsächlich wie ein Trojanisches Pferd anfühlen.

Chance auf Frieden

Völlig aussichtslos ist der Weg zum Frieden aber nicht. Noch vor einigen Jahren war die Bereitschaft zu Frieden sowohl auf israelischer als auch palästinensischer Seite deutlich ausgeprägter. 2017 sprachen sich knapp 40 Prozent aller Palästinenser für eine Zwei-Staaten-Lösung aus, womit diese gleichauf mit "from the river to the sea" war (siehe letzte Grafiken in Kapitel "Zwei-Staaten-Lösung"). Vermutlich waren es zunehmende Zusammenstöße im Westjordanland und auf dem Tempelberg, welche die Stimmung seitdem verfinstert haben. Das zeigt, dass die Meinung durchaus elastisch ist und auf Begebenheiten reagiert. Zugleich ist der Maximalismus, welcher sich in Umfragen äußert, sicherlich zum Teil performativ und Ausdruck von Frust. Läge ein echtes Angebot auf dem Tisch, so wie es 2000 und 2001 der Fall war, dürfte die Bereitschaft zum Frieden steigen. 

Eine Bedingung für Friedensprozess ist Vertrauen und eine Bedingung für Vertrauen ist ein Regierungswechsel auf beiden Seiten. Israels Premier Netanjahu hatte insgesamt 16 Jahre Zeit, um dem Friedensprozess seinen Stempel aufzusetzen, doch torpedierte ihn mehrheitlich. Mit seinen rechtsextremen, antipalästinensischen Koalitionspartnern ist jeder Anlauf zum Frieden aussichtslos. Auf der anderen Seite ist die PA eine korrupte, ineffektive Organisation, welche kaum noch Legitimation unter den Palästinensern besitzt. Und die beliebtere Hamas ist Gift für jeglichen Friedensprozess; die Terrororganisation steht in Wort und Tat für einen islamistisch-antisemitischen Endzeitkult. 1995 versuchte sie, die Oslo-Abkommen zu verhindern; in der zweiten Intifada gelang es ihr Selbstmordattentat für Selbstmordattentat, eine Generation von Israelis politisch nach rechts zu bewegen.

Auf beiden Seiten gibt es Akteure, welche mehr Hoffnung bieten würden. Sie sind keine "Friedensengel", sondern Pragmatiker, welche die Zukunft ihrer Länder nicht in ewigem Konflikt sehen. Auf israelischer Seite sind es derzeitige Oppositionspolitiker wie Jair Lapid oder Benny Gantz, bei den Palästinensern Ex-Premier Salam Fayyad oder der Spitzenpolitiker Hussein a-Sheikh. Sie hätten viele Hürden zu nehmen - etwa die Nationalisten in ihren eigenen Lagern -, doch könnten unter den richtigen Umständen einen Friedensprozess anstoßen. Ausgerechnet der Terrorangriff vom 7. Oktober und der Israel-Hamas-Krieg mit Stand Mitte Dezember bald 20.000 toten Palästinensern (davon ein Teil Hamas-Milizionäre) könnten als richtige Umstände fungieren. Sie könnten Israelis und Palästinensern zeigen, dass der Status Quo nicht mehr haltbar ist.

Eine Garantie dafür gibt es natürlich nicht. Mit der Hamas als populären Standartenträgerin der Palästinenser und einer ineffektiven PA; mit der rechtsextremen Regierung in Jerusalem und einem Premier, welcher sein politisches Überleben über jeglichen Idealismus stellt; mit arabischen Staaten, welche Palästina noch immer eher als rhetorische Aufgabe verstehen; mit einem Iran, welcher von Chaos in der Region profitiert; und mit einer US-Regierung, welche nach der Präsidentschaftswahl in einem Jahr einen heftigen Rechtsruck machen könnte, ist das Fenster für Frieden im Nahen Osten schmal. Doch sei es die israelisch-ägyptische Annäherung 1978, der Oslo-Prozess ab 1993 oder der unilaterale Abzug aus Gaza 2005: Die Schritte zum Frieden geschahen in Nahost fast immer als Nachspiel großer Tragödien. Mal sehen, wohin uns die jetzige bringt.