Wir bringen ein Update zu Themen, welche wir in früheren Explainern behandelt hatten.
Diese Ausgabe: Myanmar
(10 Minuten Lesezeit)
Eine bedeutsame Dynamik in Myanmars Bürgerkrieg_
Myanmar ist ein Dauerbrenner unter whathappened-Explainern. Im Februar 2021 nutzten wir einen Putsch des Militärs als Anlass, um die wandelhafte Geschichte des Landes zu skizzieren. Wer Myanmar verstehen will und nur 30 Sekunden Zeit hat, sollte zwei Dinge wissen:
- Das Land wechselt seit der Unabhängigkeit 1948 zwischen kurzen Demokratieanläufen und langjähriger Militärherrschaft hin und her. Nach einer erneuten Demokratisierungsphase ab 2016 übernahm das politisch und wirtschaftlich tief verankerte Militär (Tatmadaw) 2021 in einem Putsch wieder die Kontrolle.
- Und das Land ist seit 1948 in Dutzende Bürgerkriege mit ethnischen Milizen an den dschungeligen Randgebieten des Landes verwickelt, welche mal unterschwelliger, mal intensiver laufen. Hintergrund ist das angespannte Verhältnis zwischen der Bamar-Mehrheit (69 Prozent der Bevölkerung) im Kerngebiet Myanmars und den über 140 ethnischen Minderheiten, welche zumeist mehr Autonomie anstreben.
Obwohl Myanmar Militärputsche wie kaum ein anderes Land gewohnt ist, war der Staatsstreich 2021 besonders. Zum einen, weil die unterbrochene Demokratisierung ab 2016 so vielversprechend gewirkt hatte. An der Spitze befand sich die de-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi, eine Demokratieaktivistin, welche 15 Jahre lang im Hausarrest und in Haft verbracht hatte (und sich jetzt wieder dort befindet). Zum anderen, weil ein Bürgerkrieg ausbrach, welchen Myanmar so noch nicht erlebt hat.
Myanmars Tanz zwischen Diktatur und Demokratie (Explainer, 2021 - Link auch ganz am Ende)
Myanmar: Kein Ende in Sicht (Update, Januar 2023 - Link auch ganz am Ende)
PDF und EAOs
Der Putsch schockierte viele ethnische Bamar, welche sich gerade an Demokratie und stärkere Bürgerrechte gewöhnt hatten. Ziviler Ungehorsam brach aus, auf welchen heftige Repressionen und darauf hin eine Militarisierung der Proteste folgte. Anti-Junta-Bamar flohen aus dem Kernland in die Peripherie und schlossen sich den kampferprobten ethnischen Milizen an, welche EAOs genannt werden, "Ethnic Armed Organizations". Die Opposition, also die rausgeputschte Regierung, formte eine "Nationale Einheitsregierung" (NUG) samt militärischem Arm und erklärte der Junta den Krieg. Seitdem bekriegt sich der Tatmadaw, also die reguläre Armee, nicht nur mit den ethnischen Milizen, sondern auch mit den lose organisierten "Volksbefreiungsarmeen" (PDFs) der Bamar, welche von mehreren EAOs trainiert und ausgerüstet werden sowie Unterschlupf erhalten. Es war das erste Mal, dass Bamar militärisch mit den traditionell misstrauischen EAOs paktierten. Das Versprechen der Opposition war, einen föderalistischen Staat mit viel Autonomie für die Minderheiten zu kreieren.
In unserem letzten Update-Explainer aus Januar 2023 schrieben wir, dass der Bürgerkrieg in Myanmar "kein Ende in Sicht" habe. Heute verdient das eine Anpassung: Wir wissen bald, ob ein Ende in Sicht sein könnte. Der Bürgerkrieg gelangt an einen möglichen Kipppunkt.
Der Grund ist, dass sich mehrere ethnische Milizen sowie die Oppositionsregierung so eng zusammengeschlossen haben, wie noch nie zuvor. Die "Three Brotherhood Alliance" (Drei-Bruderschaft-Allianz) besteht aus drei großen Milizen: Die ethnisch chinesische Myanmar National Democratic Alliance Army (MNDAA), welche aus dem myanmarisch-chinesischen Grenzgebiet Kokang, Teil von Shan State, stammt und einst aus der Kommunistischen Partei Burmas hervorging. Die Ta'ang National Liberation Army (TNLA), welche für die Unabhängigkeit der Ta'ang-Ethnie (auch Palaung genannt) kämpft und ebenfalls im östlich gelegenen Shan State operiert. Und zuletzt die Arakan Army (AA), eine der größten Milizen in Myanmar. Sie operiert eigentlich im Westen, vor allem in Rakhine State, historisch Arakan genannt, in welchem die gleichnamige Arakan-Ethnie lebt. Doch da es historisch viel Arakan-Migration nach Shan State gab, ist sie auch dort mit Kämpfern präsent. Gemeinsam kommen die drei Milizen auf mindestens 65.000 Soldaten, doch womöglich mehr.
Die Aliianz aus MNDAA, TNLA und AA gibt es bereits seit einigen Jahren. Längste Zeit schien sie sich aus dem Bürgerkrieg weitestgehend herauszuhalten und zur Oppositionsregierung Distanz zu bewahren. Wenn sie sich Kämpfe mit der Junta lieferte, geschah das limitiert, selten koordiniert und eher für die jeweiligen Territorialinteressen der Mitglieder. Erst in den vergangenen Wochen änderte sich das: Die Allianz verbündete sich mit der Opposition und rief die vollständige Zerstörung der Junta zum Ziel aus. Es sei der "Weg nach Naypyidaw", also der Marsch auf die Hauptstadt.
Gut zu wissen: Die Mitglieder der Allianz sind nur drei von Dutzenden EAOs, welche in Myanmar operieren, wenn auch einige der größten. Andere sind informell mit der Allianz verbündet oder bekämpfen die Junta separat. Wieder andere halten sich aus dem Bürgerkrieg heraus und behalten Waffenstillstände mit der Armee bei, etwa die China-nahe United Wa State Army, welche mit über 35.000 Kämpfern die größte ethnische Miliz des Landes bildet (sie kämpft zwar nicht, doch unterstützt andere EAOs mit Material). Separat von allen EAOs sind die zahlreichen PDFs, also die Kräfte der 2021 herausgeputschten Regierung (wir nennen sie in diesem Explainer Opposition), in welchen sich lose organisiert Junta-feindliche Mitglieder der Bamar-Mehrheitsethnie bündeln.

Weg nach Naypyidaw
Am 27. Oktober 2023 begann die Allianz einen koordinierten Großangriff, die "Operation 1027". Es war die größte und koordinierteste Offensive, welche die Armee seit Jahrzehnten erlebt hat. Die MNDAA und TNLA attackierten die Junta in Shan State im Osten, die AA in Rakhine State im Westen.
Die Armee wurde von der Offensive überrascht und musste mehrere Niederlagen hinnehmen. Der bemerkenswerteste Erfolg der Rebellen war die Eroberung mehrerer wichtiger Grenzübergänge nach China, womit für die Junta knapp 70 Prozent des Außenhandels ins Nachbarland wegfielen. Darüber hinaus übernahmen die Truppen der Allianz sowie weitere EAOs bis zum 10. Dezember laut eigenen, mehrheitlich überprüfbaren Angaben 300 Militärposten spwoe 20 kleinere Städte (doch erstmals auch eine Bezirkshauptstadt) und nahmen Hunderte Soldaten gefangen. Vielleicht am wichtigsten war, dass die Rebellen den Nimbus der Unbesiegbarkeit der Armee brechen konnten.
Die ungewöhnlichen Erfolge der Allianz motivieren auch andere ethnische Milizen dazu, ihren Kampf gegen die Junta zu intensivieren. In Kayah State, an Thailand gelegen, gingen die Karenni Nationalities Defense Forces (KNDF) unterstützt von der Allianz in die Offensive. "Operation 1111" habe seitdem laut KNDF bereits 80 Prozent von Kayah State erobert. Die Kachin Independence Army (KIA), aus dem nördlichen Kachin State stammend, unterstützt die Allianz ebenfalls im Shan State. Und auch an der Grenze zu Indien, im Chin State, schlugen Rebellen zu und eroberten Militär- und Polizeibasen sowie einige Grenzübergänge zu Indien. Mindestens 70 Soldaten der Armee flohen vor den Kämpfen ins Nachbarland.
Gut zu wissen: Die Rebellen setzen sehr erfolgreich auf günstige Drohnen, welche sie aus dem Ausland hineinschmuggeln. Indem die Drohnen Sprengsätze auf Militärbasen abwerfen, fungieren sie wie eine Billig-Luftwaffe für die Milizen. Das Militär musste ihre Effektivität einräumen.
Der Junta bleibt wenig übrig, als die Erfolge der Rebellen anzuerkennen. Präsident Myint Swe, welcher neben Putschanführer Min Aung Hlaing nur eine symbolische Rolle einnimmt, warnte Anfang November, dass Myanmar vor dem Auseinanderbrechen stünde. Eine Woche später rief die Junta sämtliche Staatsbedienstete und Bürger mit Militärerfahrung dazu auf, für den "Notfall" bereitzustehen, also zur Mobilisierung bereit zu sein. Gleichzeitig versucht sie, gute Miene zu machen: Min Aung Hlaing überreichte vor wenigen Tagen zahlreiche Medaillen und Ehrentitel an Soldaten und Offiziere. Ungewöhnlicherweise erhielten auch Beamte Medaillen verpasst; vermutlich eine Reaktion auf eine Welle an Desertationen von Staatsdienern zu der Oppositionsregierung in den vergangenen Wochen.
Wichtiger als Medaillen wären für die Armee wohl Verstärkungen, doch diese bleiben bislang auffälligerweise aus. Der Tatmadaw reagiert auf die Großoffensive(n) mit einem schweren Artillerie- und Luftbombardement, welches Tausende Menschen in die Flucht zwingt, doch die Gebietsverluste der vergangenen Wochen konnte er bisher nicht umkehren. Die Truppen wirken gestreckt und erschöpft; Hunderte sind desertiert, getötet oder gefangen genommen. Jüngst wurde gar der Kommandeur im nördlichen Shan State getötet, der bislang höchstrangige Verlust der Armee. Auch die Kapitulation eines ganzen Battalions gab es noch nie zuvor.
Gut zu wissen: Der Name "Operation 1027" bezieht sich auf das Startdatum, den 27. Oktober. Eine solche "Zahlensymbolik" ist in Myanmar übrigens sehr beliebt. So wurde ein Aufstand am 8. August 1988 als "8888 Uprising" bezeichnet.
Vier Familien
Eine spannende Dimension im Bürgerkrieg ist die Rolle Chinas. Das riesige Nachbarland unterstützt die Junta diplomatisch und mit Militärexporten, doch längst nicht bedingungslos und vor allem aus Eigeninteresse. Es unterhält auch zu den Rebellen im grenznahen Shan State Kontakte und beeinflusst deren Manövrierraum. Entsprechend ließen die Rebellen den bilateralen Handel zwischen Myanmar und China unangetastet und erklärten sich im Juni diesen Jahres zu (kurzlebigen) Friedensgesprächen mit der Junta bereit. China reagierte auf die Operation 1027 auffällig ruhig; tolerierte die Großoffensive an der eigenen Grenze faktisch. Vermutlich gab es sogar im Vorhinein grünes Licht.
Ein großer Faktor in der chinesischen Kehrtwende scheinen ausgerechnet betrügerische Callcenter gewesen zu sein. Eine chinesische Mafia, genauer vier miteinander rivalisierende Familien, hatten die grenznahe Stadt Laukkaing in eine Art Casino-, Drogen- und Prostitutionshölle verwandelt. Sie deckten die hohe Nachfrage aus China, wo alle drei Dinge verboten sind. Über die Zeit bauten sie eine großflächige Struktur aus Cyberscam-Zentren auf, von welchen aus sie Betrugsmaschen in China fuhren - die UN spricht von einer "Scamdemie", also einer Epidemie aus Betrugen (Scams). Um Arbeitskräfte zu gewinnen, lockte die Mafia Ausländer unter falschen Vorwänden in die Stadt und beuteten sie in sklavereiähnlichen Verhältnissen aus. Schätzungsweise 100.000 Ausländer, darunter viele Chinesen, landeten so in Laukkaing; jede der Mafia-Familien dürfte mehrere Milliarden US-Dollar im Jahr umgesetzt haben.
Kaum überraschend kontrollierte die Mafia nicht nur die lokalen Behörden und die Sicherheitskräfte namens Border Guard Force (BGF), sondern unterhielt auch beste Beziehungen zur Junta in Naypyidaw. Putschführer Min Aung Hlaing hatte 2009 durch die Beseitigung eines Warlords (welcher bis zu seinem Tod 2022 die Miliz MNDAA anführte) überhaupt erst den Aufstieg der vier Familien ermöglicht; heute tragen sie zur Finanzierung seines Regimes bei.
Für China waren die Familien ein peinliches und teures Problem, welches in der chinesischen Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit erfuhr. Während sich die Junta de-facto weigerte, etwas gegen die Familien zu unternehmen, versprachen die Rebellen, sie auszuliefern (für die MNDAA geht es dabei auch darum, ihr altes Gebiet zurückzuerobern, nicht nur um chinesische Dankbarkeit). Das scheint Pekings Prioritäten geändert zu haben. Und zwar mit Erfolg: Obwohl Laukkaing von den Milizen erst umstellt, aber noch nicht erobert worden ist, wurden bereits zahlreiche Scamzentren im Umland aufgelöst, Mafiosi an die chinesischen Behörden übergeben und ein Mafiaboss offenbar getötet. Von wem, ist unklar.

Quelle: Büro für Öffentliche Sicherheit
Was steht bevor?
Es wäre zu früh, den Sieg der Gegner der Junta auszurufen. Doch ihr Fortschritt ist beachtlich und signifikant, und die Chance auf einen Kipppunkt real. Es geht längst nicht mehr um guerillaartige Nadelstichattacken und "hit and run"s der Milizen, sondern um echte Territorialgewinne. Wenn die Rebellen davon sprechen, dass sie Kayah State beinahe befreit hätten, dass ihr Ziel Naypyidaw sei und dass sie die Junta vollends zerschlagen wollen, so ist das heute mehr als nur Wunschdenken. Das vor Monaten ausgerufene Ziel, die Generäle bis Ende 2023 abgesetzt zu haben, wird zwar verfehlt. Doch eine Garantie, dass auch Ende 2024 als Ziel nicht gelingen würde, wäre die whathappened-Redaktion nicht bereit zu geben.
Die Logik hat sich seit unserem Explainer aus Januar 2023 nicht geändert. Für die Rebellen geht es darum, die Armee zu überstrecken, abzunutzen und schließlich kritisch zu zerschlagen. Der Armee müsste es gelingen, einzelne Rebellen im Stile von "divide and conquer" durch Abkommen oder gewaltsam aus dem Kampf zu nehmen, um sich auf andere zu konzentrieren. So operierte sie den Großteil der vergangenen Jahrzehnte sehr erfolgreich. Die Gefahr, dass die Rebellen die Armee im Grunde ringsherum umkreisen, wurde allerdings auch grundlegend dadurch neutralisiert, dass die EAOs eben nicht koordiniert agierten, also keine einheitliche Partei bildeten. Das ist nun anders.
Die Dynamik könnte sich für die Armee schnell verschlimmern. Zunehmende Niederlagen schlagen sich negativ auf die Moral nieder und führen zu Desertationen und Kapitulationen, doch weitere Rekruten wird der unbeliebte Tatmadaw nicht schnell gewinnen können. Andersherum gewinnen die Rebellen umso mehr an Zulauf, je wahrscheinlicher ihr Sieg wird. Milizen, welche sich bislang zurückgehalten haben, könnten sich informell der Allianz anschließen. Am Ende steht vielleicht der Zusammenbruch der Junta.
Es könnte aber auch anders kommen. Denn so verwundet der Tatmadaw sein mag, so stark bleibt er dennoch. Er besitzt Artillerie, Panzer, eine Luftwaffe und sogar eine Marine, was den leicht bewaffneten Rebellen allesamt fehlt. Sollte die Rebellion irgendwann in das flache, von Farmen übersäte Kerngebiet der Bamar vordringen, wird das materielle Übergewicht des Militärs eine noch formidablere Hürde als beim Kampf in den Dschungel- und Hügelregionen der Peripherie darstellen. China könnte sich entscheiden, die Junta halten zu wollen und zu ihren Gunsten in den Bürgerkrieg einwirken. Zu guter Letzt lässt sich nicht ausschließen, dass die Allianz der EAOs noch zerfällt, falls bestimmte Gruppen sich auf weitreichende Angebote der Junta einlassen, um die Waffen ruhen zu lassen. Zumindest solange die Erfolge anhalten, ist das aber sehr unwahrscheinlich; erst müsste es der Armee gelingen, die Front zu stabilisieren.
Die Zukunft in Myanmar bleibt also unklar und eine Entscheidung binnen weniger Monate sollte nicht erwartet werden. Für die Gegner der Junta ist die Lage jedoch so aussichtsreich wie noch nie zuvor. "Ein Messer wird brechen; ein Speer wird sich krümmen", so ein Sprichwort im Land. Es bedeutet, dass ein unbeliebter Despot, welcher sich seine Macht durch Gewalt zu sichern versucht, scheitern muss. Für die Armee, welche seit Jahrzehnten auf reichlich Messer und Speer setzt, könnte das zur Prophezeiung geraten.
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