Ein Blick auf die militärische Lage und ihre Zustimmung in der Bevölkerung.
07.07.2024
Militärische Lage | Siegesbedingungen & Reputation | Israels Optionen
(14 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Die Hamas operiert in Gaza im Grunde nur noch als Guerillamiliz. Das gelingt ihr insbesondere dank des weitflächigen Tunnelsystems.
- Ihre quasi-staatliche Kontrolle hat sie damit zwar etwas eingebüßt, doch sie übt noch immer viel Macht in Gaza aus, selbst dort, wo Israel bereits operiert hat.
- Wie viele Kämpfer sie verloren hat und wie viel Schlagkraft ihr bleibt, ist unklar. Schätzungen reichen von Verlusten in Höhe von 20% bis zu etwas mehr als der Hälfte ihrer ursprünglichen Streitkraft.
- Ihre Unterstützung innerhalb der Bevölkerung bleibt hoch. Anekdoten deuten zwar auf wachsenden Ärger hin, doch Umfragen bestätigen das eher nicht.
- Israel kann realistisch nur zwei Siegesbedingungen verfolgen: Eine "Köpfung" der Hamas-Führung um Yahya Sinwar oder eine Zerrüttung der Kapazitäten der Miliz – also durch überwältigende Verluste oder ausgehende Munition.
- Ersteres wirkt unwahrscheinlich herzustellen, zweiteres könnte noch lange benötigen.
- Bis keine dieser beiden Bedingungen erfüllt ist, wird jede Nachkriegslösung für Gaza die Hamas einbeziehen müssen.
Die militärische Lage_
(4 Minuten Lesezeit)
Gut zu wissen: Ein Explainer über den Gazakrieg kann in viele Richtungen gehen: Die humanitäre Lage in Gaza, die innenpolitische Lage in Israel, die Spannungen mit dem Libanon und vieles mehr. Dieser Explainer konzentriert sich ausschließlich auf den Status der Hamas, die militärischen Lage in Gaza und die Frage, wie sich Sieg und Niederlage definieren ließen.
Wenn du mehr zur Geschichte Israels und Palästinas lesen möchtest, empfehlen wir unseren riesigen Explainer aus Oktober 2023 mit rund 75 Minuten Lesezeit. Falls dich nur die letzten Jahrzehnte rund um die Entstehung der Hamas und ihren Konflikt mit Israel interessieren, kannst du gleich zum dritten Teil des Explainers springen.
Die Hamas führte am 7. Oktober den schwersten Terrorangriff in Israels Geschichte durch. Daraufhin begann Israel ein heftiges Luftbombardement im Gazastreifen, nach einigen Wochen gefolgt von einer großen Bodenoffensive. Diese hält bis heute an. Dass die Hamas nicht zerschlagen ist, ist offenkundig. Dass sie sich nicht mehr so hält, wie noch vor Kriegsausbruch, ebenso. Wie steht es also um die Hamas?
Vor dem neuesten Gazakrieg besaß die Hamas eine de-facto staatliche Funktion im Gazastreifen. Sie stellte die Regierung und kontrollierte sämtliche Behörden, verwaltete einen Sozialstaat und ein Sicherheitssystem. Sie erhob Steuern und übernahm oftmals die Verteilung von Hilfsgütern durch NGOs. Ihre circa 20.000 bis 30.000 Milizionäre waren ein Mix aus Polizei, stehendem Heer und Terrorbrigaden.
Hit and Run
Heute operiert die Hamas wie eine Guerillagruppe. Analysten und zivile Augenzeugen in Gaza berichten von einem deutlichen Strategiewechsel: Zu Beginn des Krieges mit Israel bekämpfte die Hamas die israelische Armee (IDF) umgehend, sobald diese in neue Gebiete vorrückte. Das ähnelte einem Krieg zwischen regulären Armeen, in welchem Territorium Schritt für Schritt erkämpft werden muss. Heute lässt sie die Israelis oftmals relativ ungestört vorrücken und setzt stattdessen auf Hinterhalte und "hit-and-run"-Attacken im Hinterfeld, also schnelle Schläge mit ebenso schnellem Rückzug. Selbst in Gebieten, welche Israel bereits vor Monaten als "gesäubert" bezeichnete, kommt es wieder zu intensiven Gefechten mit der Hamas, etwa in Gaza-Stadt und Jabaliya. Im März führte Israel gar wieder Angriffe auf das al-Shifa-Krankenhaus durch, in welchem es bereits im November unter intensiver medialer Beobachtung operiert hatte.
Dafür nutzt die Hamas ihre weitreichende paramilitärische Infrastruktur, welche sie in 17 Jahren in Gaza aufbauen konnte. Das zentrale Puzzlestück ist das weitflächige Tunnelsystem unterhalb Gazas, mitunter "Metro" genannt. Viele Details sind unbekannt, doch einiges wissen wir: Laut Hamas ist es 500 Kilometer lang und damit ein Viertel länger als die Londoner Metro, wobei London weitaus größer als der Gazastreifen ist (tatsächlich entspricht Gaza ungefähr der Fläche Bremens, bei vierfacher Einwohnerzahl). Mutmaßlich ist es mit Wasser-, Strom- und Lüftungsanlagen versehen und beherbergt Kommandozentren, Baracken und Munitionslager. Es erlaubt der Hamas, schnell und unbemerkt an verschiedensten Stellen in Gaza zu operieren und wieder zu verschwinden. Und es ermöglicht den mutmaßlichen Waffenschmuggel durch Ägypten, welcher früher erwiesenermaßen stattfand und vermutlich noch heute existiert. Für Israel sind die Tunnel schwierig zu neutralisieren. Auf Nachfrage erklärt die Armee meist nur, dass sie "viele Tunnel" zerstört habe.
Für die Hamas gibt es keine realistische Alternative zum Guerillakrieg. Israels militärische und technologische Dominanz macht einen offenen Kampf sinnlos. Zudem scheint die Gruppe bereits viele Kämpfer verloren zu haben, auch wenn strittig ist, wie viele.
Das Verlusteraten
Die USA schätzten unlängst, dass von anfänglich 20.000 bis 25.000 Hamas-Kämpfern noch 9.000 bis 12.000 verblieben seien. Das wären Verluste in Höhe von 8.000 bis 16.000 Kämpfern – die weite Spanne als Hinweis darauf, wie schwierig es ist, das Schlachtfeldgeschehen und sogar die anfängliche Stärke der Hamas einzustufen (Israel schätzte die Hamas prä-Oktober auf über 30.000 Kämpfer). Selbst das Zählen von gesicherten Minimalverlusten, wie es im Ukrainekrieg durch OSINT, also unabhängige Open-Source-Informationssammlung, gelingt, ist im Gazakrieg fast unmöglich: Die gesamte Front verläuft durch ein stark besiedeltes urbanes Gebiet, die Hamas versteckt sich gezielt innerhalb der zivilen Infrastruktur und Bevölkerung (verwendet etwa selten Uniformen) und Israel limitiert den Informationsfluss aus Gaza. Als BBC Verify 280 YouTube-Videos der IDF untersucht hat, konnte es nur in einem einzigen davon eindeutige Evidenz für getötete Milizionäre finden.
Und die Kriegsparteien selbst? Israel sprach Ende April von rund 15.000 getöteten Hamas-Kämpfern sowie 125 Kommandeuren aus unterschiedlichen Ebenen, erklärt allerdings nicht, wie genau es auf seine Zahlen kommt. Ein Hamas-Funktionär erklärte Mitte Februar gegenüber Reuters, dass 6.000 Kämpfer getötet worden seien, doch die Miliz dementierte das im Anschluss und hält sich traditionell äußerst bedeckt, was ihre Verluste angeht. Für sie ist es von Vorteil, eigene Verluste möglichst komplett aus dem öffentlichen Bewusstsein herauszuhalten. Dadurch wirkt der Gazakrieg wie ein ausschließlicher Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Zivilbevölkerung, was in den internationalen Druck auf Israel hineinwirkt. Zugleich muss sie aber die eigene Moral im Blick behalten und Stärke signalisieren. Das dürfte erklären, warum Topfunktionär Khalil al-Hayya Ende April verkündete, dass nur 20 Prozent der Kapazitäten – 4.000 bis 6.000 Kämpfer – getötet worden seien. Es war die erste offizielle Zahl durch die Hamas und dürfte als Minimalschätzung fungieren, mit Israels 15.000 als Maximalschätzung. Beide Werte sind inzwischen über zwei Monate alt.
Was wäre ein "Sieg"?_
(7 Minuten Lesezeit)

Die Siegesbedingung für Israel
Die Hamas kann in ihrem aktuellen Modus vermutlich noch viele Monate, vielleicht Jahre überstehen. Dabei benötigt "überstehen" ein wenig Definition. Eine vollständige Zerstörung der Hamas ist selbstverständlich unrealistisch: Terrormilizen können problemlos in verkleinerter Form bestehen, wie al-Qaeda oder der Islamische Staat bewiesen haben. Realistischer ist es, die quasi-staatliche Autorität der Hamas und ihre militärische Schlagkraft zu zerrütten.
Verliert sie genug Kämpfer oder büßt ihre gesamte Führungsspitze ein – sei es durch Tötung oder Flucht –, wäre sie nicht mehr imstande, die Kontrolle über Gaza auszuüben, selbst, wenn sie als Rebellenmiliz fortbestehen könnte. Sie bliebe so zwar gefährlich – insbesondere, wenn sie viel Unterstützung durch die Zivilbevölkerung erfährt – doch aufstandsartige Terrorangriffe und Sabotage wären nicht vergleichbar mit der Befähigung, Steuern einzusammeln, Behörden zu besetzen und ein stehendes Heer aufzubauen. Das erkennt auch die militärische Führung in Israel: "Es ist niemals das Ziel, jeden einzelnen Terroristen vor Ort zu töten. Das ist kein realistisches Ziel", so IDF-Sprecher Peter Lerner, "[doch] die Zerstörung der Hamas als Regierungsbehörde ist ein erreichbares und realisierbares militärisches Ziel".
Die Präsenz der israelischen Armee in Teilen Gazas stört die Kontrolle der Hamas maßgeblich, doch sie ist keineswegs völlig beendet. Die Gruppe ist nach wie vor imstande, vielerorts das öffentliche Leben zu bestimmen. Augenzeugen berichten, dass Hamas-Kämpfer Märkte und Flüchtlingslager patrouillieren, Preiskontrollen durchsetzen, Hilfsgüter an sich nehmen bzw. verteilen und Plünderer bestrafen. Selbst NGOs, sowohl im Süden als auch Norden des Gazastreifens, berichten mitunter von regulären Prüfungen durch Hamas-Funktionäre. Das gilt natürlich nicht überall. Gerade in Gebieten, in welchen die israelische Armee präsenter und die Hamas damit exponierter ist, wird das öffentliche Leben anarchischer; unabhängige kriminelle Banden, einflussreiche Familien, private Sicherheitsfirmen und NGOs schaffen ein Minimum an Struktur. Wichtig ist es hierbei zu verstehen, dass Israel den Gazastreifen derzeit nicht vollumfänglich besetzt, wie es etwa Russland in der Ostukraine tut. Die IDF operiert in Abschnitten Gazas für einige Stunden, Tage oder Wochen und verlässt sie dann. Nur wenige Gebiete sind aus Sicht der Hamas permanent in Feindeshand, vor allem nahe der Grenze.
Die Führung köpfen
Die Frage für Israel und Beobachter des Krieges ist, wann die Hamas dermaßen zerrüttet wäre, dass sie keine Kontrolle über Gaza mehr ausüben kann – selbst, wenn Israel seine Streitmacht abzöge. Verlässt die IDF den Gazastreifen aktuell, würde sich die Hamas sehr wahrscheinlich binnen kürzester Zeit wieder als Regierung etablieren. Auch eine kleine Rumpfgarnison oder die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mit ihren relativ bescheidenen Sicherheitskräften könnten kein Wiedererstarken der Hamas verhindern. Die Gruppe ist also bislang nicht zerrüttet; Israels Ziel bleibt unerreicht.
Es ist schwierig, sich eine andere Mindestbedingung für eine Niederlage der Hamas vorzustellen, als die Tötung oder Flucht der Hamas-Führung um Yahya Sinwar und Mohammed Deif. Diese halten sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in der "Metro" auf, doch wo genau, ist unklar. Erst schien Israel sie in Gaza-Stadt zu vermuten, dann in Khan Younis, zuletzt in Rafah. Ihr schwierig herbeizuführendes Ausscheiden könnte die Hamas zerfallen lassen, doch selbst das ist nicht gewiss, denn womöglich kann eine zweite Führungsriege effektiv genug übernehmen. Wir wissen eben einfach nicht genug über das Innenleben der Miliz. Dass es ihre Kampfkraft empfindlich traf, als Israel im März mit Marwan Issa die Nummer 3 per Luftschlag tötete, ist wahrscheinlich, doch wissen tun wir es nicht. So oder so bleibt es bis heute Israels größter eindeutiger Erfolg im Gazakrieg. Da es fast ein halbes Jahr dauerte, bis die IDF erstmals einen Topfunktionär in Gaza töten konnten, dürfte der Effekt auf die Kampfmoral der Hamas limitiert geblieben sein.
Gut zu wissen: Im Büro des israelischen Verteidigungsministeriums hängt laut Financial Times eine Bildwand mit einer Pyramide mit dem Titel "Status der Attentate auf Führungskräfte".
Für die Hamas wäre vielleicht einfach Überleben bereits ein Sieg. Ist sie noch weitestgehend intakt, sobald sich Israel erschöpft zurückzieht, gehört Gaza weiterhin ihr. Gebäude lassen sich wiederaufbauen (Hilfsgelder dürften nach Kriegsende zahlreich nach Gaza fließen) und die Zehntausenden toten Zivilisten sind "notwendige Opfer", so Yahya Sinwar mutmaßlich gegenüber anderen Hamas-Anführern. Doch so wie sich die militärische Lage der Hamas von außen schwierig beurteilen lässt, so auch ihre politischen Ziele: Während Sinwar in Gaza einen islamistischen Todeskult anzuführen scheint, ist die politische Führung – in Qatar, Libanon und der Türkei beheimatet – meist pragmatischer und politischer. Die Meinungen der zwei Seiten zu Gaza, zum 7. Oktober und zur Nachkriegsordnung gehen offenbar teils kräftig auseinander.

Abnutzungskrieg
Sollte Israel die Hamas nicht "köpfen" können, wäre es theoretisch eine hinreichende Bedingung für einen Sieg, wenn es genug Milizionäre tötet und verwundet. Dass sich das zeitnah erreichen lässt, wirkt aufgrund der Guerillataktik allerdings zweifelhaft. Selbst, wenn wir die israelischen Schätzungen über gefallene Hamas-Kämpfer extrapolieren, kämen wir aktuell womöglich auf 18.000 Gefallene, was knapp über die Hälfte der Miliz darstellen würde. Allerdings wissen wir nicht, wie viel Zulauf sie in den neun Monaten Krieg erfahren hat: Hunderte oder Tausende Palästinenser könnten sich der Miliz als Kämpfer angeschlossen haben. Das ist zum einen intuitiv und wird zum anderen auch von Analysten wie Mkhaimar Abusada, einem Politikprofessor an der Gaza-Universität al-Azhar, bestätigt. Dann würde die israelische Siegesbedingung weiter in die Ferne rücken.
Die öffentliche Unterstützung der Hamas ist damit ein wichtiges Puzzlestück, doch nicht ganz eindeutig. In der Wahl 2006 wählten die Gaza-Palästinenser die Hamas in 15 von 24 ihrer Parlamentssitze, doch das ist 18 Jahre später kaum noch aussagekräftig. Unsere besten Einblicke in die heutige Stimmung sind Anekdoten sowie die regelmäßigen Umfragen des renommierten Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR), welches auch mitten im Krieg operiert, wenn auch in Gebieten ohne aktive Kampfhandlungen. In Bezug auf die Frage, wie sich die Beliebtheit der Hamas entwickelt, sind die beiden Datenquellen ein wenig schwierig miteinander in Einklang zu bringen.
Ein sanftes Reputationsproblem?
Anekdotisch wächst die Zahl der Berichte über Gaza-Palästinenser, welche sich kritisch über die Hamas äußern, sowohl in Interviews mit Medien als auch in Beiträgen und Videos auf den sozialen Medien. Der Ärger entbrennt sich an der Entscheidung der Hamas, den Krieg mit dem Angriff vom 7. Oktober loszubrechen; ihrer Unfähigkeit oder mangelndem Willen, die Zivilbevölkerung zu schützen sowie zu versorgen; und ihrer Bereitschaft, die Zivilbevölkerung aktiv zu gefährden, etwa, indem sie Geiseln in bewohnten Gebieten hält.
Ein virales Video zeigte unlängst einen verwundeten Palästinenser, welcher über die Hamas wütet und sie als feige beschimpft. Zuvor hatte Israel eine riskante Geiselbefreiung am helllichten Tag in Nuseirat durchgeführt, bei welcher zwischen 100 und 210 Palästinenser starben (wie immer gibt es keine Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern). Viele Palästinenser verübelten es der Hamas, die Geiseln inmitten einer Wohngegend gehalten zu haben. Ein Hamas-kritischer Aktivist erklärt gegenüber der BBC, dass die Unzufriedenheit steigt. Ebenfalls die BBC zitiert einen anonymen Insider damit, dass die Hamas jüngst "Dutzende" Palästinenser in einer "Beilegung von Streitigkeiten" getötet habe, was auf Konflikt mit lokalen Banden, kleineren Milizen oder einflussreichen Großfamilien hindeutet.
Die Umfragen des PCPSR scheinen diese Anekdoten teilweise zu unterstreichen, mehrheitlich aber zu entkräften. Unterstützend wirkt in der jüngsten Umfrage aus Mai, dass nur noch 57 Prozent der Gaza-Palästinenser die Entscheidung der Hamas, Israel am 7. Oktober 2023 zu attackieren, lobten. Das ist ein Rückgang von 14 Prozentpunkten zur Umfrage aus März 2024. Immerhin 41 Prozent nannten den Angriff falsch. Nur 48 Prozent der Gaza-Palästinenser glauben, dass die Hamas den Krieg gewinnen wird (-8 PP), dagegen sehen 25 Prozent Israel siegen (+6 PP). Und nur 46 Prozent der Gaza-Palästinenser wünschen nach Kriegsende eine Rückkehr der Hamas an die Kontrolle. Das sind 6 Prozentpunkte weniger als noch in einer Umfrage aus März 2024.
Vermutlich alles im Griff
Allerdings bleibt die Hamas mit Abstand die beliebteste Wahl in Gaza: Nur 21 Prozent präferieren die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) für die Nachkriegsphase, weitere 24 Prozent eine reformierte, neugewählte PA. Zugleich nennen 38 Prozent die Hamas ihre bevorzugte Partei (+4 PP), deutlich vor der Fatah, welche die PA dominiert, mit 24 Prozent (-1 PP). Auf den September 2023 bezogen, also vor Kriegsbeginn, sind die Zustimmungswerte für beide Fraktionen damit praktisch unverändert. Fänden morgen Parlamentswahlen statt, würden 34 Prozent der Gaza-Palästinenser die Hamas wählen, ein konstanter Wert zu März 2024 und September 2023. Die Fatah bliebe mit 23 Prozent (ebenfalls fast konstant) dahinter. Die Zustimmung für die "Performance" der Hamas im laufenden Krieg ist sogar kräftig gestiegen: 64 Prozent der Gaza-Palästinenser sind zufrieden, +2 PP gegenüber März und +12 PP gegenüber Dezember 2023. Auffällig ist, dass Hamas-Gaza-Chef Yahya Sinwar schlechter als die gesamte Gruppe abschneidet: 50 Prozent sind mit ihm zufrieden, ein seit Dezember konstanter Wert.
Insgesamt lässt sich also in den Umfragen kein signifikanter Rückgang in der Zustimmung zur Hamas erkennen. Zugleich bleibt ihre Beliebtheit keineswegs universell. Einiges an ihrer Zustimmung könnte außerdem davon getrieben sein, dass Gaza-Palästinenser einfach wenige Alternativen erkennen oder dass die Hamas inmitten des Umfragezeitpunkts mehr Signale für eine neue Waffenruhe sandte. Zuletzt wird die Zuverlässigkeit der Umfrage durch die Kriegslage sowie das Einschüchterungspotenzial der Hamas ein wenig gemindert.
Gut zu wissen: Anders ist die Stimmungslage im Westjordanland: Dort sind die Meinungen fast immer verhärteter, israelfeindlicher und hamasfreundlicher als in Gaza. 73 Prozent loben den Angriff vom 7. Oktober (+2 PP ggü. März) und 71 Prozent wünschen sich eine Rückkehr der Hamas an die Macht in Gaza (+7 PP). 82 Prozent sind mit dem Vorgehen der Hamas im Krieg zufrieden (+7 PP) und 76 Prozent mit Yahya Sinwar (+8 PP). Bei hamaskritischen Gaza-Palästinensern sorgt das für viel Unverständnis, schließlich ist das Westjordanland nicht direkt vom Krieg betroffen und wird auch nicht von der Hamas regiert.
Ein kleiner Blick in die Zukunft_
(3 Minuten Lesezeit)
Der Mix aus Überlebensfähigkeit der Hamas (ausdrücklich nicht nur als so oft beschworene "Idee", sondern auch operativ) und ihre anhaltende Beliebtheit unter den Gaza-Palästinensern bedeutet, dass die Miliz nicht so schnell kollabieren dürfte. Lösungen für die Nachkriegsordnung in Gaza werden damit kaum imstande sein, sie auszuschließen. Israel bekam das jüngst bei Versuchen zu spüren, lokale Gruppen in die Verteilung von Hilfsgütern einzuspannen. Das sollte sie nach und nach als Akteure für eine Regierung ohne Hamas etablieren. Die Miliz attackierte und tötete die beteiligten Palästinenser, darunter den prominenten Anführer der Abu-Amra-Familie. Sie hätten "Empfänglichkeit" für israelische Vorschläge gezeigt, zitiert die Financial Times anonyme Quellen. Dass die Aktion der Hamas in Gebiet stattfand, welches Israel theoretisch bereits "gesäubert" hatte, verdeutlicht erneut, wie sehr die Gruppe noch immer Einfluss über ganz Gaza geltend machen kann.
Ähnlich ergeht es Plänen rund um eine Internationalisierung Gazas, etwa, indem es unter UN-Obhut oder Sicherheitskontrolle einer (arabischen) Staatenkoalition gestellt wird. Solange die Hamas relevant existiert und dem Plan nicht zustimmt, müsste sich jede Koalition mit Militärgewalt etablieren – und würde damit im Grunde den israelischen Gazakrieg fortsetzen. Und auch eine Machtübernahme durch die PA sieht sich demselben Problem ausgesetzt.
Pest und Cholera
Stimmt diese Analyse, hat Israel zwei Möglichkeiten. Es könnte sich allmählich aus Gaza zurückziehen und akzeptieren, dass eine erschütterte, doch überlebende Hamas schnell wieder die Kontrolle übernimmt und sich konsolidiert. Das würde uns zu einem modifizierten "Status quo ante" zurückbringen, also zur Konstellation, die vor dem 7. Oktober existierte – nur eben mit einem feindseligeren Verhältnis und häufigeren Interventionen durch Israel (vor Oktober 2023 war das Verhältnis zur Hamas relativ pragmatisch und die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für Gaza-Palästinenser lag auf dem höchsten Stand seit 2007). Im besten Fall für Israel wäre die Hamas um mehrere Jahre zurückgeworfen, bevor sie ihre militärischen Kapazitäten wieder vollständig hergestellt hätte. Das wäre im engeren Sinne ein Erfolg, doch stünde sehr wahrscheinlich in keinem Verhältnis zu den hohen humanitären, materiellen und diplomatischen Kosten, mit welchen er erkauft worden wäre.
Die zweite Möglichkeit wäre etwas, das nach ewigem Krieg klingt: Israel könnte versuchen, die Hamas weiter zu zerrütten und dadurch eine Nachkriegslösung ohne sie praktikabel zu machen. Dass das schwierig wird, hat dieser Explainer dargelegt: Guerillakriegsführung, zivile Unterstützung, 17 Jahre an Vorbereitung und möglicherweise der Zulauf durch neue Kämpfer würden das zu einer vermutlich jahrelangen Aufgabe machen. Andersherum liegt es in der Natur einer Guerillatruppe, dass sich ihre Größe schnell überschätzen lässt. Die Hamas könnte bereits in prekärerer Lage sein, als sich abzeichnet: Vielleicht gehen ihre Munitions- und Waffendepots allmählich zur Neige, vielleicht bleibt der Zulauf durch neue Kämpfer verhalten und vielleicht fällt es der Führung immer schwerer, ihre Zellen in ganz Gaza zu koordinieren. Es gibt derzeit nur eben wenige stichhaltige Beweise dafür. Beobachter sollten sich auf einen langen Konflikt oder eine halbgare Lösung einstellen.
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